»Du trinkst deinen Tee ja gar nicht, meine Liebe.«
Pearls Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Ich fuhr zusammen, rang mir ein Lächeln ab und griff nach der Tasse mit dem ausgesprochen hässlichen Blumenmuster. Sogleich stieg mir der typische Duft von schwarzem Tee in die Nase. Pearl, die mir gegenüber saß, rührte in ihrer eigenen Tasse, während sie mich betrachtete. Schließlich bemerkte sie nachdenklich: »Du bist so still. Etwa wegen Sonntag? Zweifelst du immer noch an deiner Entscheidung?«
Ertappt nickte ich und senkte den Blick auf die dampfende Flüssigkeit.
Pearl seufzte und öffnete die Zuckerdose. »Kommt Zeit, kommt Rat. Dein Handeln war richtig.«
Nun seufzte auch ich. Meine Finger verhakten sich wie von selbst in den bunten Fransen der Tischdecke, die auf dem runden Esstisch lag. So oft schon hatte ich an diesem Tisch gesessen, meine Hausaufgaben gemacht, mit Pearl gebacken oder Tee getrunken. Früher war mir dies hier ein zweites Zuhause gewesen. Doch dann war Nighton aufgetaucht und hatte mein Leben auf den Kopf gestellt, und als Yindarin hatte ich erst recht nicht mehr an Pearl Washington gedacht. Eine Schande eigentlich, die die kenianische Frau mit dem Afro wirklich nicht verdient hatte. Manchmal fragte ich mich, wieso sie diese Form gewählt hatte und wie sie eigentlich ausschaute. Das traute ich mich natürlich nicht zu fragen - es erschien mir irgendwie unhöflich.
Doch mein schlechtes Gewissen gegenüber Pearl war nicht der einzige Grund, wieso ich nun wieder die Gesellschaft der Hautwandlerin suchte. Es war ihr Anderssein, ihre Übernatürlichkeit, die wie ein Strohhalm oder eine Hängebrücke zu meinem alten Leben fungierte. Durch sie hatte ich wenigstens ein bisschen das Gefühl, nicht den Anschluss zu verlieren. Auch wenn es vielleicht trotzdem so war.
Sonntag war jetzt drei Tage her. Heute war Mittwoch und übermorgen würde das neue Schuljahr beginnen. Eigentlich hätte ich mich weiter drauf vorbereiten sollen, sowohl mental als auch in allen anderen Belangen, doch ich konnte nicht. Meine Gedanken kreisten unablässig um ihn. Pausenlos war ich hin- und hergerissen zwischen meinem unbändigen Zorn und der Sehnsucht danach, wieder zu ihm aufsehen und meine Hand in seine legen zu können. Es war furchtbar, wirklich.
Als ich nach der unfreiwilligen Verfrachtung meinerseits in die U-Bahn-Tunnel wieder zuhause auf der Matte stand, war mein Dad natürlich außer sich vor Wut und Angst gewesen. Er hatte sogar ganz kurz davor gestanden, die Polizei zu rufen, wie Thomas mir im Nachhinein mit erzählte. Nur seine Erleichterung über meine Unversehrtheit hielt ihn im Nachhinein davon ab, genau wie mein Zureden, denn es wäre ein absolut sinnloses Unterfangen, jemanden wie Nighton bei der Polizei anzuschwärzen. Selbst mein Vater hatte das einsehen müssen, gleichzeitig aber von mir verlangt, nie wieder ein Wort mit Nighton zu wechseln und ihm Bescheid zu geben, sollte dieser 'Saftsack' auftauchen. So nannte er Nighton nämlich, was ich noch harmlos fand. Aber dass ich das nicht versprechen konnte, war klar.
Nun ja.
Die letzten drei Tage hatte ich jedenfalls immer wieder Pearl aufgesucht, auch wenn ich die Besuche grübelnd und eher wortkarg verbrachte. In ihrer hellen Altbauwohnung mit den hohen Wänden, dem Stuck und der bunten Einrichtung fühlte ich mich wenigstens ein bisschen wohl.
»-bin schon gespannt, was du erzählst.«
Ich hob den Blick an und blinzelte. Pearl hatte die ganze Zeit geredet, doch ich war so in meinen Gedanken versunken gewesen, dass ich ihr nicht zugehört hatte. Ihr entging mein Gesichtsausdruck nicht. Pearl lächelte, beugte sich vor und legte mir eine Hand auf den Arm.
Ernst fragte sie: »Was sagt dir denn dein Herz bezüglich Nighton?«
Ich schnaubte. »Das? Ach, auf diesen verräterischen Klumpen ist kein Verlass. Wenn es danach ginge, würde ich hüpfend und singend zu ihm zurückkehren.«
»Tja nun«, begann Pearl und tätschelte mich. »Das Herz will, was es will.«
»Toll«, murrte ich. Warum nur war das alles so wahnsinnig kompliziert?
Da rumste etwas an die Balkontür. Ich erschrak dermaßen, dass ich fast meine Teetasse umgestoßen hätte, doch es war nur Sam, dessen Beine soeben vor dem Balkonfenster aufgetaucht waren. Den hatte ich ja völlig vergessen. Scheinbar nahm er Nightons Auftrag immer noch ernst.
Behände landete Sam auf den Füßen, rückte sich eine eigenartige Mütze in Form eines orangenen Fisches zurecht und öffnete die Balkontür.
»Was geht ab, Boss?«, witzelte er, die Tür hinter sich zuziehend, um die Mittagshitze draußen zu halten.
»Witzig«, kommentierte ich, ohne zu lachen. Sam grinste und kam auf uns zu. Pearl erhob sich indes und lief an den Geschirrschrank, aus dem sie ein weiteres Service herausholte, das sie auf dem Tisch anrichtete.
»Setz dich, mein Lieber«, lud sie ihn ein, auf einen der Stühle zeigend, ehe sie in die offene Küche verschwand und mit einem Teller voller Kekse von der Anrichte zurückkehrte. Den stellte sie auf den Tisch. Sam zog erfreut die Augenbrauen hoch und setzte sich neben mich.
»Danke, Mrs. Washington!«
Pearl beschwerte sich direkt: »Mein Lieber, während deines Auftrags wohnst du bei mir, wie oft soll ich dir denn noch sagen, dass du mich Pearl nennen sollst? Hier, dein Job ist anstrengend. Vor allem bei der Hitze!« Sam langte begeistert zu und erwiderte dann mit vollem Mund: »Wenn Sie wüssten!«
Sam wohnte hier? Das hatte ich gar nicht gewusst. Aber es ergab Sinn. Er musste ja irgendwo hin, während er mich bewachte. So wie Nighton damals. Dieser Gedanke trieb mir einen finsteren Ausdruck auf die Gesichtszüge. Dann allerdings wurde ich von Schweißgeruch abgelenkt, der mir langsam aber sicher in die Nase stieg. Der Zwiebelduft stammte eindeutig von Sam. Naserümpfend fragte ich an ihn gewandt: »Sag mal, wann hast du zuletzt geduscht?«
Er zuckte mit den Schultern. Unbekümmert und mit hervorquellenden Krümeln in den Mundwinkeln nuschelte er: »Keine Ahnung. Glaube am Sonntag, als ich in Harenstone war.«
Mit gerunzelter Stirn legte ich den Kopf schief, nach meiner Tasse greifend.
»Harenstone? Habe ich noch nie von gehört. Ist das ein Dorf?«, erkundigte ich mich, am Tee nippend.
Sam hielt mit weit geöffnetem Mund inne und warf mir einen Seitenblick zu. In dieser Sekunde hatte er sich gerade einen weiteren Keks in den Schlund schieben wollen. Doch mit einem Mal wurde er blass und stammelte verunsichert: »Äh...«
Kurz beäugte ich ihn, dann befiel mich ein komisches Bauchgefühl. Beinahe sofort verengte ich die Augen. Mir schwante nichts Gutes.
Auch Pearl schaute fragend drein. »Na? Hast du deine Zunge verschluckt?« Sie gluckste.
»Äh«, machte Sam erneut, zwischen ihr und mir hin- und hersehend. Inzwischen stand ihm die Panik ins Gesicht geschrieben. Dieses Harenstone schien etwas zu sein, über das er entweder nicht sprechen durfte oder wollte. Das machte mich jedoch umso misstrauischer.
»Samuel?«, Ich dehnte seinen Namen enorm in die Länge. Da ließ Sam den Keks sinken und setzte eine angespannte Miene auf. Mehr zu sich selbst als zu mir murmelte er: »Ach, was soll's«, ehe er erklärte: »Harenstone ist ein Haus.«
Ich wartete, ob da noch was kommen würde. Das klang nämlich so, als sei dieses Harenstone nicht einfach bloß ein Haus. Doch Sam hüllte sich in Schweigen, also hakte ich nach: »Und?«
Er wand sich. »Können wir nicht einfach so tun, als hätte ich nie etwas gesagt?«, bat er und warf mir einen flehenden Blick zu. Doch ich schüttelte entschieden den Kopf. »Vergiss es. Rede!«
Er winselte, legte den Kopf auf die Tischplatte und stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus, ehe er zu mir hochschielte.
»Harenstone ist dein Haus.«
Pearl und ich warfen uns einen gleichermaßen irritierten Blick zu. Ich hätte ja mit allem gerechnet, aber nicht mit so einer Aussage. Dementsprechend ungläubig und auch eine Spur weit abschätzig entgegnete ich, die Arme verschränkend: »Wirklich zum Totlachen. Und jetzt die Wahrheit!«
Sam blinzelte hilflos, erst zu Pearl und dann zu mir sehend.
»Das war kein Witz!«, versuchte er mir weiszumachen, aber ich war nun mal nicht von gestern. Außerdem machte es mich wütend, dass er nicht einfach die Wahrheit sagte. Was konnte denn so schlimm sein?
»Ach bitte, erzähl doch keine Märchen!«, zischte ich ihn an.
Fast schon erbost rief Sam zurück: »Wieso sollte ich dich anlügen?! Harenstone ist ein Haus, DEIN Haus, warum glaubst du mir nicht?«
Ich starrte Sam an. Seine Worte ergaben einfach keinen Sinn in meinem Kopf. Mein Haus? Ich besaß doch überhaupt kein Haus! Ich wurde in einem Monat neunzehn Jahre alt, wie sollte ich an die Besitzrechte für ein Haus kommen? Das musste doch ein schlechter Scherz sein!
Ruckartig erhob ich mich. Das war mir zu blöd.
»Danke für den Tee, Pearl«, stieß ich hervor und wollte schon gehen, da hielt Sam mich zurück.
»Wohin gehst du denn jetzt?«, fragte er unglücklich, doch mit seinen Hundeaugen war er bei mir an der falschen Adresse.
»Wo ich hin gehe?«, rief ich aus und machte mich los. »Nach Hause, wohin denn sonst? Wieso? Darf ich das nicht? Muss ich es jetzt ankündigen, wenn ich irgendwohin gehe? Willst du einen auf Kontrollfreak machen?! Dann bist du bei mir aber SOWAS von an der falschen Adresse, das haben schon ganz andere vers...-«
»Schluss mit dem Angekeife, beruhigt euch!«, schaltete sich Pearl etwas verärgert ein und zeigte auf den Stuhl. »Hinsetzen«, befahl sie mir herrisch und sagte dann an Sam gewandt: »Und du, Junge, redest jetzt Klartext. Was ist das für ein Haus?«
Entgegen ihres Befehls blieb ich stehen und verschränkte die Arme, Sam fordernd anschauend. Der seufzte ein weiteres Mal auf und beteuerte: »Harenstone ist wirklich dein Haus, Jen. Deine Mum Siwe hat es dir vermacht.«
Siwe?
Ich sah, nein, ich glotzte Sam an. Dass er meine Mutter ins Spiel brachte, kam unerwartet. Der Gedanke, dass er wohlmöglich doch nicht log, keimte auf einmal in mir. Plötzlich blitzten die Bilder von Siwes Dahinscheiden vor meinem inneren Auge auf, sodass ich die Hände zu Fäusten ballte. Sam unterbrach die Bilderkette allerdings recht schnell, denn mit einem Mal sprudelte es nur so aus ihm hervor.
»Harenstone befindet sich in der Nähe eines kleinen Dorfes außerhalb von London. Seit einiger Zeit gibt es da immer wieder Dämonensichtungen. Deshalb nutzen wir, also Penny, Ev, Nighton, zwei andere und ich, dein Haus als Quartier. Der Rat will nämlich, dass welche von uns vor Ort sind und dass Nighton als Yindarin den Grund für die dämonischen Aktivitäten herausfindet. Die vermuten, dass Selene dahintersteckt.«
Auf Siwes Tod folgte das Antlitz der Dämonengöttin. Es war schwer, ihre eisblauen Augen aus meinem Kopf zu verbannen. Da half es auch nicht gerade, zu hören, dass meine sogenannten Freunde scheinbar schon seit Wochen wenige Kilometer außerhalb von London herumstromerten und es offensichtlich nicht für wichtig befunden hatten, mich zu besuchen.
Langsam sank ich wieder auf den Stuhl zurück und murmelte zu mir selbst: »Siwe hat mir ein Haus hinterlassen? Aber-«, ich hob den Kopf, Sam betrachtend, »- wirklich? Ist das sicher?«
Er nickte. »Ja, ziemlich. Ihr Nachlass ist irgendwo aufgetaucht, Tharostyn kam damit an und auf einmal hieß es, wir gehen da hin und sichern es. Was wir auch immer sichern sollten. Es ist schließlich einfach nur ein Haus. Gut, im Keller gibt es so eine komische Wand, um die alle einen ganz schönen Aufriss machen, aber ich wüsste nicht, was an der so besonders sein könnte.«
Ob das die super-wichtige Sache war, die Nighton mir hatte erzählen wollen?
Bevor ich mich bremsen oder eingehend darüber nachdenken konnte, forderte ich entschieden: »Bring mich zum Haus.«
Sam riss die Augen auf. »Was?!«
Um meine Forderung zu unterstreichen, nickte ich. Zwar könnte es schiefgehen, indem wir Vorort auf Nighton stießen, andererseits brannte ich darauf, mir mein Erbe anzuschauen. Es könnte mich näher an Siwe heran bringen - und damit an die übernatürliche Seite.
»Aber Nighton soll nichts davon mitkriegen«, warf ich noch hastig hinterher, wähend Sam in Schnappatmung geriet.
Sich auf den Tisch stützend rief er: »Du verlangst von mir, dass ich dich in dein Haus schleuse, während er woanders ist, aber jederzeit zurückkehren und mir den Hals umdrehen könnte, weil ich dir das Haus zeige, was garantiert er machen wollen würde?«
Ich brauchte ein paar Sekunden, um dem wirren Satzbau meines temporären Wächters folgen zu können, doch sobald ich verstanden hatte, nickte ich erneut, ehe ich betonte: »Ja, und Nighton darf nichts mitbekommen!«
»Wieso überhaupt? Er hat seit Tagen total beschissene Laune, was zur Hölle ist zwischen euch passiert? Vor ein paar Monaten noch wart ihr unzertrennlich und jetzt-«
»Junger Mann, kennst du das Sprichwort 'Reden ist Silber, Schweigen ist Gold?«, fiel Pearl ihm plötzlich ins Wort. Ihren Worten war eine gewisse Schärfe anzuhören.
»Ist schon gut«, winkte ich ab. Das war es zwar nicht, also gut, aber ich wollte mir vor Sam keine Blöße geben. Es war schon unangenehm genug, dass er das ganze Drama der letzten Wochen, all die Tränen und meine Selbstzweifel mitbekommen hatte.
»Hä?«, machte Sam verdutzt und schaute zwischen mir und Pearl hin und her, die die Lippen schürzte, aber nicht weiter drauf einging. Ich verschränkte die Arme und winkte ab: »Ist doch egal. Ich bin Hauserbin, ich will über das Haus sprechen, nicht über ihn. Kannst du mich hinbringen, wenn er nicht da ist, ja oder nein?«
Sams Miene wurde erneut panisch. Er stöhnte: »Ich bin der schlechteste Lügner auf dieser Welt! Wenn er mitkriegt, dass du da warst und ich nichts gesagt habe, wird er explodieren!«
Überzeugt entgegnete ich: »Er wird es nicht erfahren. Und selbst wenn, was sollte daran so schlimm sein? Ich kann machen, was ich will, und wenn ich mit meinem Wächter mein Eigentum besichtigen will, was kann er schon dagegen tun?«
»Uff, so einiges! Er ist ein Tyrann, und zwar ein richtiger, seit er-« Diesmal bremste Sam sich rechtzeitig, was aber vielleicht auch Pearls Tritt unter dem Tisch zu verdanken war. Ich verzog keine Miene und ging nicht auf seine Worte ein.
»Ich finde das Haus auch allein, wenn es sein muss. Mit dir ginge es natürlich schneller.«
Sam schluckte krampfhaft. »Na gut«, lenkte er ein. »Heute Nachmittag sollte er mit Penny und Ev auf Patrouille sein. Aber wenn er doch auftauchen sol-«
»Gott, Sam!« Ich stöhnte und stand auf. »Mach dir mal nicht so ins Hemd, du bist ein Engel, verdammt, und kein Waschlappen! Er wird dir schon nicht den Kopf abreißen.«
Sam zog eine Grimasse. Ich konnte ihm ansehen, dass er meinen Wunsch alles andere als toll zu finden schien. Schwerfällig erhob auch er sich. Mit hängenden Schultern sagte er: »Ich warte beim Teleportstern auf dich.«
Ich blinzelte. »Hier gibt es einen? Wo?«
Sam seufzte und schwenkte um: »Ach, weißt du was, ich hole dich bei deiner Haustür ab. Aber beeil dich, es ist jetzt vier Uhr und ich weiß nicht, wie lang die noch unterwegs sind.«
Jetzt sollte es wirklich losgehen? Du meine Güte! Plötzlich verspürte ich zum ersten Mal seit langem wieder Aufregung, obwohl das, was ich vorhatte, nichts Besonderes war. Aber ich würde das Haus sehen, das meine Mum mir vermacht hatte - und damit fühlte ich mich der übernatürlichen Welt wieder etwas näher.
Zum Glück war keiner aus meiner Familie zuhause, als ich dort ankam. Thomas war einkaufen, Anna bei einer Freundin und mein Dad hatte heute Morgen noch verkündet, dass er nachmittags einen Termin mit seinem Literaturagenten wahrnehmen würde. Das war die perfekte Gelegenheit für mich, in Ruhe zu verschwinden.
Ich zog etwas Luftiges, Sommerliches an, selbstverständlich in Schwarz, schrieb einen Zettel, auf dem stand, dass ich im Buchladen bei Owen wäre und legte ihn auf den Küchentisch.
Du meine Güte, da fällt mir ein, ich habe ja noch gar nichts von Owen erzählt! Den hatte ich tatsächlich in meiner bisherigen Erzählung total ausgelassen. Na, dann würde ich das eben jetzt nachholen.
Owen Delaney war der Sohn eines Londoner Medienmoguls. Er war vierzehn Jahre älter als ich und im Vorstand irgendeiner Grafikdesign-Agentur. Vor drei Wochen hatte ich eine Teilzeitstelle im Buchgeschäft seiner Frau Trish angenommen. Mein Dad hatte sie über Kontakte für mich organisiert, da er der Meinung gewesen war, dass mir etwas Ablenkung und eine Beschäftigung gut täte. Allerdings regelte Owen den Verkauf und die Bestellungen und auch er war es gewesen, der mich eingestellt hatte. Mit seiner Frau hatte ich eher weniger zu tun. Sie war sehr hübsch, aber meist in sich gekehrt und verschlossen. Zu Beginn hatte ich zwar gar keine Lust auf diese Art Sommerjob gehabt, doch ich hatte meine Zeit dort schnell zu schätzen gelernt. Es machte mir tatsächlich Spaß und außerdem war ich von Büchern und Ruhe umgeben. Und das Geld konnte ich auch gut gebrauchen.
Allerdings war Owen manchmal etwas ... unangenehm. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll, aber er zeigte ein flammendes Interesse an meiner Person sowie an dem, was ich so trieb. Man konnte ihn fast als besessen bezeichnen, so komisch das jetzt auch klingt. Ich verstand es ja selbst nicht. Aber damit konnte ich einigermaßen umgehen, zum Glück.
Man kann also sagen, Owen war so etwas Ähnliches wie mein Chef, zumindest dann, wenn er oder seine Frau mich brauchten. Ab und zu rief er an und dann kam ich vorbei und half aus, wo ich konnte. Damit war das die perfekte Ausrede. An sich konnte ich ja machen, was ich wollte, fand jedenfalls ich, aber jetzt zu meinem Vater zu gehen und zu erzählen, dass ich in mein geerbtes Haus fahren und potenziell einen Haufen übernatürlicher Leute treffen könnte - ich glaube, das wäre zu viel für Dad gewesen.
Nachdem der Zettel platziert war, schlüpfte ich in meine Flip Flops, schnappte mir Schlüssel und Handy und verließ die Wohnung. Mein Herz klopfte vor Vorfreude, aber auch vor Sorge. Auf was ließ ich mich hier eigentlich gerade ein?
Tatsächlich stand Sam unten vor der Haustür und fächelte sich Luft zu. Er wirkte immer noch nicht besonders begeistert, machte aber keine Anstalten, mich umstimmen zu wollen.
»Eigentlich hatte ich andere Pläne, nur dass du es weißt. Ich wollte nämlich gegen den Arenaleiter von Blütenburg City antreten«, beschwerte er sich und wedelte mit seinem Gameboy herum. Ich verstand wie immer nicht, was er meinte und sah ihm verständnislos entgegen. Allerdings gab ich es gewohnheitsmäßig direkt auf, seinen Gamer-Jargon verstehen zu wollen und rollte als Antwort einfach nur mit den Augen.
Gemeinsam liefen wir in den Park. Bei einer Fichtengruppierung hielt Sam an und wandte sich zu mir um. Er schickte mir einen letzten, flehenden Blick.
»Und du bist dir sicher, dass wir das tun sollen? Nighton kann wirklich furchtbar unangenehm werden!«
»Sam«, begann ich sanft und ergriff ihn an den Oberarmen. »Er wird uns nicht erwischen und wenn, dann sage ich, dass es meine Idee war. Ich stehe dazu und ich habe auch keine Angst vor ihm. Außerdem ist es ja nicht so, als ob du mich im Himalaya vor der Höhle eines Jetis absetzt, du zeigst mir nur ein Haus, das ich geerbt habe. Und wenn er meint, dir deswegen die Hölle heiß machen zu müssen, glaub mir, dann zeige ich ihm, was Höllenfeuer wirklich kann.« Aufmunternd lächelte ich Sam an, der nur unsicher die Nase kraus zog. Er betrachtete mich einen Moment über den Rand seiner Brille hinweg, ehe er wieder interessiert nachhakte: »Was ist zwischen euch vorgefallen? Seit wann hasst ihr euch so?«
Mein Lächeln fror ein.
»Bring uns einfach zum Haus«, forderte ich und ließ Sam los. Der zuckte mit den Schultern, murmelte etwas, kniete sich hin und kehrte mit der Hand ein paar Blätter von einer unauffälligen, runden Steinplatte, die nicht mehr als einen Meter Durchmesser hatte. Als er fertig war, schaute er zu mir auf. »Weißt du noch, was das ist?«
Ich musterte die Steinplatte. Wenn ich genau hinsah, konnte ich hineingeritzte Runen erkennen.
»Ist das eine von den Teleportplatten? Ich dachte, die wären größer.«
»Das hier sind die kleinen. Die sind überall im Land verstreut und haben die mobilen Teleporter ersetzt. Gabriel hat gesagt, dass zu oft Fehler passiert wären und sie alle eingesammelt. Also fast alle. Und dann sagte er, das hier sei jetzt der Transportweg Nummer eins.« Er verzog das Gesicht.
Unwillkürlich tastete ich nach der kleinen Erhebung auf meinem Handballen, in den Gabriel mir damals das Instrument implantiert hatte, durch das ich mich hatte teleportieren können. Ob es noch funktionierte? Bisher war mir der Gedanke nicht gekommen. Also wies ich auf den Stein und fragte: »Kann ich die Platten auch benutzen?«
Aber Sam verneinte direkt. »Menschen können nicht in das Teleportnetzwerk eingreifen.« Er hielt mir seine Hand hin. Kurz verspürte ich Enttäuschung, doch dann griff ich nach ihr.
Ehe ich mich versah, drehte die Welt sich rasant. Sobald sie stillstand, taumelte ich zur Seite und sank fast auf die Knie, aber nur fast. Diesmal hatte ich mich drauf vorbereiten können, also war es mit der Übelkeit nicht ganz so schlimm. Nach ein paar Sekunden richtete ich mich auf.
Wir standen auf einem mit Kies bestreuten Waldweg, umgeben von hohen Tannen und Büschen. Es war kein Autolärm mehr zu hören. Ich sank ein wenig in den weichen Waldboden ein, sobald ich die von Kiefernadeln übersäte Steinplatte verließ und mich umsah.
Sam lauschte kurz, dann ließ er etwas entspannter die Schultern sinken, ging vor und winkte mir zu, was wohl eine Aufforderung sein sollte, ihm zu folgen. Nach nur hundert Metern erreichten wir eine asphaltierte Hauptstraße, von der eine Abzweigung zu einem Tor führte, auf das Sam zusteuerte, sobald er die Straße überquert hatte.
Dort hielten wir an. Das Tor war in einen mannshohen, schmiedeeisernen Zaun eingearbeitet. Es war wohl für Autos gedacht, denn es war sehr breit und außerdem ein wenig rostig. Links und rechts wurde der Zaun nach ein paar Metern von einer hohen Hecke abgelöst. Hinter dem Tor befand sich ein breiter Kiesweg, der einen sanft aufsteigenden Hang hinaufführte. Auf dem kleinen Hügel thronte ein kleines Herrenhaus mit Spitzdächern und Erkerfenstern. Mehr konnte ich nicht erkennen, da ein paar Fichten und Tannen die Sicht auf das Haus versperrten.
Mit offenem Mund betrachtete ich das imposante Haus. »Ist es das etwa?«
Sam trat neben mich, kurz über die Schulter sehend, als müsste er sich vergewissern, dass außer uns auch wirklich niemand hier wäre.
»Ja.«
Ich trat an das Tor heran und umfasste die Gitterstäbe. Unwillkürlich musste ich lächeln.
»Und es gehört wirklich mir? Mir allein?«
Sam brummte zustimmend, wandte sich halb um und zeigte auf ein brandneues Messingschild, das in eine kleine Mauer nahe des Tores eingearbeitet war.
Dort stand in Druckbuchstaben: Ascot
Andächtig berührte ich das Messingschild. Wer es wohl angebracht hatte? Mit einem Mal wurde ich von Wehmut geflutet, als Siwes Gesicht in meinem Kopf Gestalt annahm.
»Auf geht‘s!«, sagte ich daher schnell und versuchte, meine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken.
Sam reichte mir einen Torschlüssel.
»Wir springen meistens alle drüber, deswegen hast du jetzt die Ehre«, erklärte er. Ich schnaubte und nahm ihm den uralt wirkenden Schlüssel ab. Nachdem ich ein wenig mit dem Schloss gekämpft hatte, sprang es auf und ich konnte die beiden Torflügel aufstoßen. Sie gaben ein grässliches Kreischen von sich. Also wenn Nighton doch da sein sollte und bisher noch nicht mitbekommen hatte, dass ich hier war, jetzt wusste er es spätestens.
Wir traten durch das Tor und liefen gemeinsam den Weg hoch zum Haus. Sam schaute immer wieder über die Schulter nach hinten. Langsam steckte er mich mit seiner Nervosität an!
Was sollte schon Schlimmes passieren?