»Wa- aber - Jen?! Wo kommst du denn auf einmal her? Und warum seid ihr beide voller Ruß?«, rief Penny entsetzt, als sie uns im Flur von Harenstone entgegenkam.
»Jetzt nicht, Penny!«, knurrte Nighton abwehrend und stampfte an Penny vorbei in Richtung Treppe. Ich blieb auf halbem Wege stehen und warf meiner Freundin einen hilfesuchenden Blick zu, die nur die Stirn furchte und an mir rauf und runter sah.
»Ist alles in Ordnung? Wo warst du nur?«, wollte Penny erneut wissen, diesmal deutlich berunruhigter. Ich hatte schon den Mund geöffnet, dankbar für die Verwicklung in ein Gespräch, da ertönte ein ungeduldiges Räuspern von der Treppe. Nighton war auf der zweiten Stufe stehengeblieben und hatte sich zu mir umgedreht. In seinen Augen glomm es.
Penny schaute zu ihm und zog nun ernsthaft besorgt die Stirn in Falten. Erst auf mich und dann auf Nighton zeigend, hakte sie zum dritten Mal mit einem Ton nach, der durchscheinen ließ, dass sie etwas ahnte: »Wo wart ihr beide?«
»Das kann Jennifer dir später erzählen, jetzt haben sie und ich erst mal ein Hühnchen miteinander zu rupfen«, wich Nighton verbissen aus und machte eine auffordernde Kopfbewegung in Richtung Obergeschoss. Die galt wohl mir.
Aufseufzend schleppte ich mich an Penny vorbei, die nach wie vor völlig konfus dreinschaute, und folgte Nighton die Treppe hoch in den ersten Stock und in das Schlafzimmer, das wir uns teilten. Er hielt mir die Tür auf, schloss sie aber direkt hinter mir, was nicht gerade ein gutes Gefühl in mir auslöste.
Oh Hölle, ich wäre jetzt lieber auf dem Schwarzmarkt als hier. Hm, na gut, das sage ich natürlich nur so, aber wenn ihr an meiner Stelle vor Nighton stehen würdet - na ja. Da musste ich jetzt wohl durch.
Nighton schaute mich einen Moment lang an, dann wandte er sich ab, eine Hand in die Seite gestützt und mit der anderen an seine Nasenwurzel greifend. Ich stand mit dem Rücken zur Tür, nervös meine Finger knetend und sowas von nicht in der Position, meine Riesenklappe aufzureißen. Diesmal wirklich nicht.
Doch dann drehte er sich langsam zu mir um und verschränkte die Arme, mich direkt ansehend. Sein Gesicht war wie versteinert, die Kiefermuskeln angespannt und die Lippen zu einer schmalen Linie zusammengepresst. Die Luft um ihn herum schien förmlich zu knistern vor aufgestauter Wut, jedenfalls kam mir das so vor. Ich konnte den Ärger in jeder seiner Bewegungen spüren, wie er sich mit einer solchen Intensität aufbaute, dass ich das Gefühl hatte, jeden Moment würde etwas explodieren.
Er sagte immer noch nichts, aber die Stille war fast schlimmer als Worte. Seine Augen funkelten. Ich konnte die Enttäuschung in ihnen sehen, und das Wissen darum setzte mir mehr zu als gedacht.
Schließlich jedoch begann Nighton ruhig zu sprechen. Er betonte dabei jedes Wort, als würde es ihm Mühe bereiten, nicht loszubrüllen.
»Ich will nicht laut werden. Wirklich nicht. Aber was bei ALLEN Höllenkreisen und dem, was sonst noch existiert, geht eigentlich in deinem Kopf vor? Hast du vollkommen den Verstand verloren?«
Ich sah zu Boden. In meinen Ohren rauschte es.
»Tut mir leid«, murmelte ich. »Ich kann verstehen, dass du sauer bist. Witzig, als hätten wir kurz mal die Rollen getauscht.« Ich grinste freudlos, doch das Grinsen verging mir sofort wieder. Ich wäre so gerne abgehauen.
Stille.
Sehr unangenehme Stille.
Nighton unterbrach sie als Erster.
»Ich bin nicht sauer...«, versicherte er nach wie vor mit dieser unangenehmen Ruhe und schob seinen Unterkiefer ein Stück vor. Seine Augen verdunkelten sich noch weiter und an seinem Hals flackerten die Tattoos seines Engelanteils hindurch, gepaart mit den dämonischen Knochenstrukturen an Kiefer und Schlüsselbein.
»Nein, sauer ist noch viel zu mild ausgedrückt. Ich bin scheißdrecksverdammt wütend auf dich, um es in deinen Worten auszudrücken, und nur dass du es weißt, sie-«, er zeigte auf seinen Schädel, »-ist es auch!« Wie zum Zeichen verrenkte er seinen Hals ein wenig und ich konnte es in seinen Augen gräulich aufflackern sehen. Fast instinktiv wich ich zurück.
»Begreifst du nun, wieso ich dich nicht dabeihaben will? Du hättest heute unzählige Male draufgehen können, ist dir das überhaupt klar? Allein auf dem Weg zu der Fabrik! Immerhin geschehen seit Wochen dämonische Angriffe auf dich! Doch was machst du? Setzt dich einfach auf ein verdammtes Fahrrad und fährst nachts durch die Gegend, als stünde dein Leben nicht auf dem Spiel! Und dann betrittst du auch noch einen Schwarzmarkt für Dämonen, als - als wäre das alles gar nichts, als wärst du unverwundbar oder unsterblich! Aber soll ich dir was sagen? Du bist weder das eine noch das andere! Du bist ein MENSCH, Jennifer, wann raffst du das endlich?!«
Nighton schnappte nach Luft und stieß einen langen Fluch in der Gossensprache Unterstadts aus, den ich nicht verstand. Seine Worte davor aber saßen umso mehr. Noch nie hatte ich ihn so wütend gesehen, vor allem nicht mir gegenüber.
Die aufkeimende Tränenfront in meinen Augen bekämpfend und ebenso gezwungen ruhig verteidigte ich mich: »Ich weiß, dass ich einen Fehler gemacht habe, das ist mir heute Abend mehr als bewusst geworden. Es ist nur - ich fühle mich ständig entmündigt, weil du denkst, mir Dinge verbieten zu müssen! Aber Nighton, ich bin keins von diesen rückgratlosen Individuen, die auf bevormundende Überväter mit Kontrollzwang hören, ich habe eine eigene Meinung. Und du kennst mich, wenn man mir Dinge verbietet, will ich sie umso mehr! Woher willst du bitte wissen, ob ich nicht doch nützlich sein kann, wenn du mir nicht einmal die Chance gibst, es zu beweisen? Du schließt mich aus, und zwar jeden Tag!«
Meine Worte schienen der Tropfen zu sein, der Nightons Fass zum Bersten brachte. Während ich gesprochen hatte, war er auf und abgegangen, doch als ich endete, verrenkte er seinen Hals in einem sehr ungesunden Winkel, nur um dann aus dem Stehgreif so laut loszubrüllen, dass ich zusammenzuckte.
»Ausschließen? AUSSCHLIESSEN?! Ich beschütze dich, verflucht, und zwar vor dir selbst und deinen Kamikaze-Aktionen! Wieso habe ich mir eigentlich die illusorische Hoffnung gemacht, du wärst wenigstens ein bisschen erwachsener geworden?! Dass du endlich anfängst, nachzudenken, bevor du etwas tust? Vor zwei Wochen erst hast du mir wirklich die heftigste verbale Klatsche erteilt, die ich je erhalten habe, und ich habe mit aller Macht versucht, dir und deiner Wut Zeit zu geben, weil ich alles verdiene, was du gesagt hast! Die ganzen Tage hatte ich trotz meines Naturells mehr Geduld für dich, als für irgendetwas anderes in meinem gesamten Leben, aber damit ist jetzt Schluss! Du kannst SO froh sein, dass der Engel eingegriffen hat, bevor Dorzar dich nach Unterstadt verschleppen konnte! Selene hätte dich ausgenommen und an ihre Generäle verfüttert, oder ist es vielleicht sogar das, was du willst?! Muss erst dein Blut fließen, bis du ENDLICH mal das tust, was gut für dich ist?!!«
Mitten in seinen Ausbruch mischte sich eine weibliche Stimme hinein, sodass er mich stellenweise zweistimmig anbrüllte. Ich wusste, wer ihn da nach Leibeskräften unterstützte: Sekeera.
Als er eine Pause machte und nach Luft schnappte, konnte ich einfach nur dastehen. Mir fehlten ehrlich gesagt die Worte, und das kam jetzt nicht so oft vor. Für gewöhnlich war ich nicht um einen Konter verlegen, doch mit so einem intensiven Wutausbruch hatte ich nicht gerechnet, geschweige denn, dass ich damit umgehen konnte. Mir fiel überhaupt nichts Passendes zum Erwidern ein, so überfordert fühlte ich mich in diesem Moment. Fast hätte ich wirklich angefangen zu heulen, da seine Worte trafen.
Da ich so hilflos war und nicht mit der Heulerei anfangen wollte, entschloss ich mich kurzerhand, den Rückzug anzutreten. Wann immer mein Vater einen seiner Schimpfanfälle gehabt hatte, war ein taktischer Rückzug die klügste Idee gewesen, damit er sich beruhigen konnte. Meistens hatte das auch ganz gut geklappt. Doch mein Vater war kein frisch gebackener Yindarin, dem gerade die Hutschnur durchgebrannt war und der kurz davorstand, die Kontrolle über sein innewohnendes Wesen zu verlieren.
Nighton hingegen schon.
Bevor ich mich auch nur ansatzweise zur Tür umgedreht hatte, rammte er seine flache Hand so fest gegen die Tür, dass er ein Loch durch das Holz schlug. Wieder zuckte ich zurück. Diesmal verspürte ich neben all den anderen Gefühlen noch ein Weiteres: Angst. Ich wusste nämlich nicht, ob Nighton die Oberhand behalten würde. Gerade sah es nicht danach aus. Er war so wütend, dass er am ganzen Körper zitterte. Grelles Licht flackerte an seinem Hals auf, erhellte bisher nie gesehene Tätowierungen und seine Hände wurden gefährlich schwarz. Als wäre die Verwandlung in Sekeera nicht genug, ging eine Wand aus Hitze mit ihr einher, die mir in den Augen brannte.
Einen langsamen Blick auf das handgroße Loch dicht neben meinem Kopf werfend, schluckte ich. Inzwischen war ich so weit zurückgewichen, dass ich an die Tür gestoßen war. In meinem Rücken hörte ich jemanden die Treppe hochrennen. Insgeheim hoffte ich, derjenige würde reinkommen und irgendwas tun, damit Nighton runterkam. Doch das Gegenteil geschah. Die Schritte entfernten sich wieder.
Ich beschloss, zaghaft auf ihn einzureden. Schließlich kannte ich noch das Gefühl des Kontrollverlusts.
»Ich glaube, du verlierst gerade die-«
Aggressiv rief er: »Nein, tu ich nicht, schieb das nicht auf-« Nighton krümmte sich plötzlich, ehe es ihn nach hinten an die Wand katapultierte. Seine wütende Miene wich einer schmerzverzerrten Grimasse. Offenbar verlor er gerade tatsächlich die Kontrolle und Sekeera versuchte, zu übernehmen. Das fand ich aber nicht gerade besser oder beruhigend.
Ich wollte den Moment nutzen, um ins Bad abzuhauen, doch da rannte ich in Nighton hinein, der sich nicht länger an der gegenüberliegenden Wand befand. Er schoss in die Höhe und fauchte mich so bedrohlich an, dass sich sein Unterkiefer dabei aushakte. Vor lauter Schreck und Angst schrie ich spitz auf und starrte Nighton aus aufgerissenen Augen an, der einen wirklich furchterregenden Anblick abgab.
»Er h-hat Recht!«, zischte Sekeeras Stimme, die mit der seinen unterlegt war. »Macht es dir Spaß? Ich v-versuche nur-«
Nighton warf sich herum, als würde er gegen Sekeeras Kontrolle anrennen. In der Bewegung zertrümmerte er den Bettpfosten, der ihm am nächsten war. Ich musste die Hände vors Gesicht reißen, um mich vor dem Splitterregen zu schützen. Der innere Kampf zwang Nightons Körper schlussendlich erst auf die Knie und dann auf alle Viere. Doch ich wartete nicht, bis er wieder bei Sinnen war. Stattdessen stürmte ich ins Bad, schmetterte die Tür hinter mir zu, schloss ab und wich tiefer in den gefliesten Raum zurück. Es war nicht so, dass die Tür ein wirkliches Hindernis gewesen wäre, wenn Nighton wirklich vorhaben sollte, hier reinzukommen - doch ich hoffte, ihr geschlossener Zustand sprach für sich.
Für eine Weile verharrte ich so im Raum stehend, bis ich sicher war, dass Nighton nicht reinkäme. Erst dann entspannte ich mich ein klein wenig, aber nur so viel, dass ich an der Tür runterrutschen und mich auf den Boden setzen konnte. Dort blieb ich bestimmt eine halbe Stunde, in der ich leise weinte und mir erneut eingestehen musste, dass ich im Unrecht war. Es war wirklich eine Kamikaze-Aktion gewesen, deren negative Folgen ich nicht hatte sehen wollen, weil ich so sehr dazugehören wollte - weil ich nach einem Sinn suchte. Und in diesem unbedingten Willen hatte ich mein Leben riskiert, ohne drüber nachzudenken. Ich war so dumm. So unendlich dumm. Ja, warum lernte ich nicht aus meinen Fehlern? Wieso wurde ich nicht erwachsener? Was stimmte nicht mit mir?
Irgendwann versiegten meine Tränen und ich fühlte mich nur noch todmüde. Alles in mir verlangte nach Schlaf. Also zog ich mich an der Tür hoch, wischte die Überreste des Selbstmitleids an meinem Bademantel ab, der an der Tür hing, und öffnete die Tür. Im Türrahmen jedoch stockte ich. Nighton saß auf seiner Seite des Bettes, nicht mal einen Meter von mir entfernt. Etwa schon die ganze Zeit? Wie erbärmlich ich wirken und aussehen musste, wollte ich gar nicht wissen. Er hingegen wirkte wieder ruhig und gefasst, selbst als er den Blick hob und mir entgegensah, ohne eine Miene zu verziehen.
Kurz überlegte ich, wieder umzudrehen, doch dann riss ich mich zusammen. Rückzug war keine Option. Tief Luft holend wollte ich an ihm vorbei zur Zimmertür laufen, doch innerhalb einer Sekunde stand Nighton auf den Beinen und trat mir in den Weg. Seinen Kontrollverlust vor Augen stolperte ich umgehend einen Schritt zurück. Nighton, eben noch mit unbewegter Miene, riss die Augen auf, als er begriff, dass ich Angst vor ihm hatte.
»Ich tue dir nichts, Jennifer!«, versprach er hastig und bestürzt gleichermaßen, beruhigende Gesten machend. Sein Blick ruckte kurz zu dem zerstörten Bettpfosten, dann beeilte er sich zu erklären: »Das war ein Kampf um Kontrolle zwischen mir und Sekeera, der bezog sich in seiner Gewalt nicht auf dich, das musst du mir glauben. Ich würde dir nie wehtun! Also-« Er hielt inne, als ihm seine eigenen Worte bewusst wurden. Ein schmerzlicher Ausdruck breitete sich in seinem Gesicht aus.
»-ich weiß, für sowas ist es zu spät, aber das-«, er wies erneut mit Nachdruck auf die Splitterteile, »-so bin ich nicht, das musst du mir glauben! Du kennst das doch noch, die Machtkämpfe, oder? Da gehen schon mal Sachen kaputt!«
Ich nickte und schlang die Arme um den Oberkörper.
»Schon gut, ich weiß, dass du mir nichts tust, und Sekeera auch nicht«, murmelte ich, ehe ich mit deutlich wackligerer Stimme bat, ohne Nighton anzusehen: »Bitte schrei mich nie wieder so an.«
Ich konnte seine Überraschung spüren. Anstatt etwas darauf zu sagen, machte er einen Schritt auf mich zu.
Instinktiv wollte ich wieder zurückweichen, ließ es aber bleiben. Dann tat Nighton etwas, das ich nicht erwartet hatte und unter anderen Umständen vielleicht gar nicht zugelassen hätte.
Langsam überwand er mit vorsichtigen, fast zögerlichen Bewegungen den restlichen Abstand, als würde er mich allein durch seine Körpersprache um Erlaubnis bitten. Da ich ihm nichts Gegenteiliges signalisierte, legte er, ohne ein Wort zu sagen, seine Arme um mich und zog mich an sich.
Ihr dürft euch das jetzt nicht wie eine dieser kitschigen, leidenschaftlichen Umarmungen vorstellen, die in Romanen dominiert, wenn die zwei Liebenden endlich aufeinandertreffen. Nightons Umarmung hatte etwas viel Ruhigeres, Tieferes an sich. Seine Nähe fühlte sich vertraut und sicher an, wie ein längst vergessenes Gefühl, das plötzlich zurückkehrte, getragen von seinem typischen Geruch, der mich schon damals so vereinnahmt hatte.
Ich lehnte mich an ihn, spürte die Wärme seines Körpers und horchte der beruhigenden Monotonie des schlagenden Herzens an meinem Ohr. Nach ein paar Augenblicken hob ich meine eigenen Arme an und schlang sie um seinen Brustkorb, erst zaghaft, dann fester. Tief ausatmend schloss ich die Augen und spürte die Spannung aus meinem Körper entweichen, während er sein Kinn auf meinem Kopf ablegte.
Das hier fühlte sich an, als würden wir versuchen, die Bruchstücke von dem, was einmal war, zusammenzusetzen. Es war nicht perfekt, es war nicht die Lösung für alles, aber in diesem Moment war es genau das, was ich brauchte - was wir brauchten.
Die Welt um uns herum schien für einen Augenblick stillzustehen. Ich kann es nicht genau erklären, also das Gefühl, das mich hier überkam, aber aus irgendeinem Grund hatte dieses einfache Aneinander-Festhalten etwas an sich, das einem ersten Schritt zurück zu etwas Vertrautem und Verlorenen-Geglaubtem gleichkam.
Mir fiel nichts ein, das sich in letzter Zeit vergleichbar gut angefühlt hätte. Schluss mit Hass. Schluss mit Vergeltung, Zorn, Rache, Missgunst - ich wollte einfach nur bei ihm sein, ihn am besten nie wieder loslassen.
Natürlich war klar, dass dieser besondere Moment irgendwann enden würde. Allerdings tat er es viel zu schnell.
Ein Räuspern ertönte über mir. Voller Reue begann Nighton zu sprechen. Wenigstens schob er mich dafür nicht von sich.
»Es tut mir sehr leid, ich wollte dir keine Angst machen. Ich war nur so wütend, weil ich dich heute Abend fast wieder verloren hätte, und diesmal vielleicht für immer. Denk nicht, dass ich es nicht verstehe, dass du eingebunden werden möchtest. Aber sich mitzuschleichen, ist keine Lösung, das ist einfach nur unglaublich gefährlich!«, sagte er eindringlich.
Hinter Nightons Rücken hakte ich meine Finger ineinander. Mein Gesicht in sein T-Shirt pressend nuschelte ich: »Mir tut es auch leid. Du hast Recht, ich habe nicht nachgedacht. Ich war nur so frustriert und wollte beweisen, dass ich immer noch zu was zu gebrauchen bin.«
»Aber das bist du doch auch so, Jennifer! Außerdem gibt es noch so viele andere Möglichkeiten für dich, mitzuwirken, die nicht dein Leben aufs Spiel setzen.« Er seufzte. »So dankbar ich dir auch für mein Leben bin, ehrlich, ich werde nie verstehen, was du dir dabei gedacht hast. Du hast so sehr an Sekeera gehangen, so viel wert konnte ich dir doch gar nicht sein, schon gar nicht, nachdem Selene - nachdem Selene über mich ausgepackt hatte. Dachtest du, dir würde es als Mensch besser gehen?«, wollte er von mir wissen. Doch genau damit brach bei mir wieder der Damm. Nighton hatte nämlich genau ins Schwarze getroffen: Ich hatte damals tatsächlich eine Millisekunde gedacht, als Mensch würde es mir besser gehen. Ohne Sekeera, frei von allem übernatürlichen Druck. Wie sehr ich mich doch getäuscht hatte.
»Ich will nicht darüber reden«, blockte ich mit erstickter Stimme ab.
Ich spürte, dass er sich von mir lösen wollte, aber ich war nicht bereit dazu. Nighton jedoch löste meine Arme mit sanftem Nachdruck, schob mich ein Stück auf Abstand, mich nach wie vor an den Armen festhaltend und bat mich halb ernst, halb unglücklich: »Nicht mehr weinen, bitte, du weißt doch, dass ich damit gar nicht umgehen kann.«
»Das ist ja wohl nicht mein Problem!«, stieß ich hervor, musste aber selbst ein wenig lachen. Hier vor ihm zu stehen und seinen Blick auf mir lasten zu spüren, half nicht gerade, also machte ich einen Schritt in Richtung Badezimmer. Doch Nighton hatte andere Pläne. Er zeigte auf das Bett hinter mir.
»Setz dich«, forderte er mich mit ruhiger Stimme auf, ehe er mich auf das Bett hinabdrückte, bevor ich auch nur selbst Anstalten machen konnte, mich hinzusetzen.
Ich wischte mir mit dem Handrücken über die Nase und brummte, zwischen meinen Wimpern zu ihm hochlinsend: »Das meinte ich übrigens vorhin. Du bist ein Kontrollfreak. Ich darf nicht mal woanders heulen gehen, wenn ich es will!«
»Ich bin kein Kontrollfreak!«
Eine Mischung aus Lachen und Schluchzen entfuhr mir.
»Doch! Ich bin vielleicht unreif, launisch und dickköpfig, aber bei dir muss alles immer so ablaufen, wie du es dir in deinem Kopf ausmalst, und wehe dem, der da nicht mitspielt. Du bist ein Kontrollfreak aus dem Bilderbuch!«
»Ich-« Nighton öffnete den Mund, scheinbar, um sich zu verteidigen, aber dann schloss er ihn wieder. »Kann sein«, murmelte er schließlich stirnrunzelnd. Der ernste Ausdruck in seinen Augen wich aber recht schnell, als er mein Gesicht in beide Hände nahm. Er fuhr mir mit dem Daumen über beide Wangen, um die Tränen wegzuwischen. Ich ließ ihn gewähren.
Den Kopf schieflegend fragte Nighton: »Wärst du sehr sauer, wenn ich dir sagen würde, dass du mit deinem verlaufenen Make-up gerade wie ein Panda nach einer durchzechten Nacht aussiehst?«
Ich schnappte entrüstet nach Luft, musste aber Widerwillen lachen.
»Ja, ich wäre sauer!«, bestätigte ich, seine Hände von meinem Gesicht ziehend.
Nighton grinste verhalten. »Dann verkneife ich mir das wohl besser.«
»Weise Entscheidung.«
Da übermannte mich die Müdigkeit von eben, und ich schloss erschöpft die Augen. Das Bett erzitterte. Im nächsten Moment saß Nighton neben mir.
Einige Zeit lang sagte schwiegen wir, dann hob ich meinen Kopf und ließ von der auseinander gerupften Deckenfranse ab, mit der ich mich beschäftigt hatte.
Ernst fing ich an zu sprechen, da ich noch nicht das Gefühl hatte, dass wir das Thema hinter uns gelassen hatten.
»Weißt du, alles, was ich mir wünsche, ist einbezogen zu werden. Nur habe ich den Eindruck, dass du schon das kategorisch ablehnst, was ich nicht verstehe. Ich bin nun mal hier, ihr alle lebt euer übernatürliches Leben vor meiner Nase. Ja, Sekeera an dich zu geben war meine Entscheidung, ich weiß. Genauso weiß ich, dass das heute nicht meine intelligenteste Tat war und ich verspreche dir, ich mach's nicht wieder. Aber du kanntest mich nur als Yindarin und nicht als Mensch, und du weißt gar nicht, wozu ich fähig bin. Das weiß ich ja selbst nicht mal. Aber ich will es unbedingt herausfinden, nur kann ich das nicht, wenn du mich in einen Wattebausch packst und vor allem Unheil bewahren willst. So etwas mache ich nicht mit, das ist nämlich nicht mit meinem Naturell vereinbar.«
Nighton schaute mich sehr, sehr lange sehr, sehr durchdringend an. Dann öffnete er den Mund und sagte langsam: »Na fein. Ich schlage dir einen Kompromiss vor. Wir beziehen dich künftig ein und dafür hörst du auf, eigenständige und unsinnige Entscheidungen zu treffen, die dich dein Leben und mich dich sowie meine Nerven kosten könnten. Deal?«
Ich schaute auf seine mir entgegengestreckte Hand hinab. Das klang gut, und mehr konnte ich wahrscheinlich nicht erreichen. Jedenfalls nicht jetzt. Also ergriff ich seine ausgestreckte Hand und schüttelte sie, jedoch nicht ohne mir ein bisschen komisch vorzukommen.
»Deal. Aber wehe, du schummelst, Nighton, ich finde dich und reiße dir jeden Fingernagel einzeln aus.«
Doch damit schien ich Nighton nicht gerade zu beeindrucken, denn auf einmal wurde sein leichtes Lächeln unerwartet dämonisch. Sich streckend erwiderte er: »Nur zu, ich zeige dir gern, wie es richtig geht. Das habe ich schon lange nicht mehr gemacht, dabei zählte das während meiner Zeit in Asien zu einer meiner liebsten Beschäftigungen.«
Ich machte große Augen. »Jetzt ernsthaft?«
Für einen Augenblick beobachtete Nighton mich, dann griff er nach meiner Hand. Ich erschrak und wollte sie ihm entziehen, dafür allerdings erhielt ich einen ungläubigen Blick. Nighton beschwerte sich: »Ach komm, als ob ich das echt machen würde. Ich deute doch nur an.«
Skeptisch überließ ich ihm meine Hand. Er umfasste meinen Daumen und deutete auf den Nagel. In seine Augen schlich sich wieder dieses unheilvolle Glitzern, das ich von früher kannte. Es hatte etwas Sadistisches an sich.
»Wenn du jemanden zum Reden bringen willst, treib' ihm einfach ein Stück angespitzten Bambus unter den Fingernagel. Mit einer leichten Aufwärtsbewegung-«, er ahmte eine nach, »-drückst du den Nagel aus seinem Bett. Soll höllisch wehtun. Die Schreie waren-«, Nighton schauderte, sachte lächelnd, »-Musik. Alternativ geht auch jedes andere Werkzeug, aber damals hatte ich nur Bambus zur Hand und nicht gerade viel Geduld.«
Ich entzog Nighton meine Hand. Kopfschüttelnd kommentierte ich: »Manchmal vergesse ich, dass du früher Unschuldige abgemurkst hast, du kleiner sadistischer Psycho.«
Nighton lachte. »Ja, tja. Das waren andere Zeiten. Heute-«, er rollte mit den Augen und stand auf, »-stecke ich allerhöchstens noch Bambusstrohhalme in die Cocktails, die Sam mir ständig aufzwingt, im Glauben, er sei ein guter Barkeeper. Ich fürchte, du hast mich weich gemacht. Selbst für deinen Spruch gerade hätte es früher was gesetzt.«
»Ach ja?« Ich hob eine Augenbraue. »Und was? Eine Runde Züchtigung á la Möchtegern-Oberste?«
Nightons Grinsen wuchs wieder. »Bring mich nicht auf Gedanken«, riet er mir, woraufhin ich rot wurde. Das entging Nighton nicht, doch er erlöste mich direkt, indem er auf die Uhr sah und anmerkte: »So. Es ist jetzt zwanzig nach eins. Vielleicht solltest du ins Bett gehen. Der Abend war bestimmt anstrengend für dich.«
Zustimmend und dankbar für die Ablenkung nickte ich, ehe ich mich erhob und ins Bad laufen wollte, um mich abzuschminken. Auf halben Weg hielt ich nochmal inne und schaute zurück zu Nighton, der sich gerade dem Bettpfosten zugewandt hatte.
»Nighton?«
Er sah mich an.
Kurz zögerte ich, dann verkündete ich zuerst unsicher, im Abgang aber umso entschlossener: »Ab heute bin ich dir offiziell nicht mehr böse wegen der Sache in Oberstadt. Nur, dass du es weißt. Und nein. das hat nichts mit heute Abend zu tun. Mit dem Gedanken habe ich schon öfter gespielt.« Nighton brachte mit interessierter Miene den Kopf in Schieflage.
»So gar nicht mehr?«, hakte er überrascht nach. »Heißt das, du verzeihst mir?«
Ich stieß ein lautes »Ha!« aus und korrigierte sofort: »Vergeben ja, vergessen nein.«
Er strahlte mich an. Ganz kurz spürte ich den Anflug von Unsicherheit. Nun war es raus. War es ein Fehler gewesen, ihm zu verzeihen? War es die richtige Wahl? Der nächste fette Fehler in einer langen Liste?
Keine Ahnung.
Die Zukunft würde es mir ja zeigen, oder?