Es vergingen wieder ein paar Tage, bis der nächste Besucher vor der Tür stand. Penny und Sam waren in Oberstadt, um Gabriel wegen Sams Wundheilung auftzusuchen, und ich war mit Evelyn und Nighton allein.
Nighton hatte mich vor einigen Tagen über die Person aufgeklärt, die neuerdings die Regentschaft über Oberstadt führte. Es handelte sich dabei um ein fünfzehn Jahre altes Mädchen, das obendrein die Tochter von Nedeya war und deren Nachfolge angetreten hatte. Nedeya war vor kurzem offiziell als verschollen erklärt worden. Was die Engel wohl über die Wahrheit denken würden?
Auf jeden Fall wurde Oberstadt nun von dieser Isara geleitet, natürlich unter Aufsicht des Rates. Isaras richtiger Name war eigentlich Grace, doch der Seher der Engel, irgendein kauziger alter Sack namens Azmellôn, hatte bereits ihren Engelsnamen herausgefunden. Deshalb nannte das Mädchen sich bereits jetzt Isara, und das, obwohl es noch gar nicht auferstanden war.
Was Nighton mir auch erzählt hatte, war, dass Isara ihn ziemlich umherscheuchte und er mit ihr nicht besonders gut klarkam, was mich nicht wunderte. Nighton hatte ja schon damals mit mir und meinem Status ein Problem gehabt. Nicht, dass er es mir nicht gegönnt hatte, aber er war lieber der Stärkere und hatte das Sagen. Und da ich ihn als Yindarin mit einem einzigen Hüftstoß über den nächsten Hügel hätte schubsen können, schien er heute dementsprechend froh zu sein, dass er nun andersherum war. Die Oberste musste zudem wohl, seit sie ihren neuen Posten innehatte, ziemlich herrisch geworden sein, und damit hatte Nighton sowieso ein Problem.
Am Freitagnachmittag, ich hatte gerade meinen täglichen Anruf bei meinem besorgten Vater beendet, pochte jemand gegen die Haustür. Ahnungslos, wie ich halt manchmal bin, machte ich sie auf.
Es war Michael. Ich freute mich so sehr über den Anblick des Erzengels, dass ich ihn kurzerhand ansprang und die Arme um seinen breiten Brustkorb schlang.
Zuerst war Michael so verdutzt, dass er sich versteifte, doch dann schlang der gutmütige Erzengel seine Arme um mich und drückte mich zurück, wenn auch etwas distanziert. Erst als er hüstelte, ließ ich ihn los.
»So stürmisch wurde ich lang nicht mehr begrüßt«, brummte er, ehe er mir ein väterliches Lächeln schickte und mir die Schulter drückte. Mit einem Mal huschte eine Mischung aus Wehmut und Mitleid durch Michaels blaue Augen.
Ernst sagte er: »Du wirst vermisst, Jennifer Ascot. Es ist schön, dich zu sehen, auch wenn du ein Mensch bist. Im Herzen wirst du immer dazu gehören.«
Beinahe traten mir die Tränen in die Augen. Ich war so gerührt, dass ich nicht mal dran dachte, mich über Michaels absolut untypisches Outfit lustig zu machen, wegen dem ich ihn auch nicht durch das Glas der Haustür erkannt hatte.
Der Erzengel schoss mit seinem fragwürdigen Aussehen wirklich den Bock ab.
Er hatte eine braune Lederjacke und eine rote Leinenhose an, dazu trug er Motorradstiefel. Seinen Kopf zierte ein Cowboy-Hut, unter dem das lange Silberhaar hervor wallte. Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen schleppte er, als wäre es das Normalste der Welt, eine zwei Meter lange Holzlatte mit sich durch die Gegend. Wahrscheinlich war das sein Schwert. Ich sah ihm an, dass er sich unwohl ohne seine Plattenrüstung fühlte.
»Wie siehst du denn aus?«, fragte ich kichernd, woraufhin Michael ein saures Gesicht zog.
»Neue Vorschriften zur Tarnung«, presste er hervor, langsam über die Schulter sehend. Just in dem Moment ertönte ein Räuspern hinter ihm. Zu meiner Überraschung standen da noch mehr Engel hinter Michael, die ich bis jetzt noch gar nicht bemerkt hatte. Der Erzengel war so bullig, dass er die anderen einfach verdeckt hatte.
Es waren Frauen, ein alter Mann und ein Mädchen. Den alten Mann erkannte ich sofort. Tharostyn. Er sah noch älter aus als beim letzten Mal. Die anderen beiden identifizierte ich als die zwei Jägerinnen, die mich vor einigen Tagen bedroht hatten.
Das Mädchen, bei dem ich mir sicher war, es irgendwo schon mal gesehen zu haben, drängte sich plötzlich an mir und Michael vorbei, ohne Hallo zu sagen oder sich vorzustellen. Es war einen halben Kopf kleiner als ich, hatte kurze rotbraune Haare, große braune Augen, einen verkniffenen Mund sowie gepiercte Ohren. Dazu trug sie eine graue Jacke, darunter ein T-Shirt mit einem aufgedruckten Frosch und einen Karo-Rock. Vom Kleidungsstil abgesehen erinnerte es mich ein wenig an ein Streichholz, speziell wegen der Haarfarbe.
Die zwei Jägerinnen folgten dem Mädchen und senkten die Köpfe ehrerbietend vor mir.
»Guten Tag, Miss Ascot. Es ist eine wahre Freude, Sie gesund zu sehen!« Tharostyn nahm meine beiden Hände und schüttelte sie heftig. Meine Güte, der alte Mann hatte eine unglaubliche Kraft. Auch in seinen Augen schimmerte ein mitfühlender Funke, den ich überging. Ich war nämlich damit beschäftigt, dem Rücken des Mädchens einen langen Blick zuzuwerfen. Vielsagend sagte ich: »Kommt doch rein. Wenn ihr es nicht schon seid.« Der letzte Satz galt dem blasierten Mädchen, das, die Hände in die Seiten gestemmt, den Blick schweifen ließ.
Ich schloss die Haustür hinter dem unerwarteten Besuch und brüllte dann aus voller Kehle: »Nighton, da ist hoher Besuch aus Oberstadt für dich!«
Das Mädchen zuckte zusammen und hörte auf zu kauen. Es musterte mich abschätzig.
»Dass du mit diesem Organ nicht jeden in die Flucht schlägst«, gab es erstaunt von sich. Die beiden Frauen kamen heran und halfen ihm aus der Jacke. Es stand einfach nur da, als könnte es das nicht selbst. Als die zwei fertig waren, scheuchte das Mädchen sie vor die Haustür.
Michael stellte sich mit unbewegter Miene vor die Haustür, während Tharostyn auf Nighton wartete.
»Du würdest dich wundern«, entgegnete ich und lächelte in aller Falschheit.
Da kam Nighton die Treppe herunter. Als er das Mädchen erblickte, seufzte er, ehe er den Kopf leicht senkte. Ich verstand diese Geste nicht. Wieso neigte er vor ihr den Kopf?
»Ihr hättet Euch ankündigen können. Ich habe nicht mit einem Besuch gerechnet«, brummte er zu dem Mädchen. Dann nickte er Tharostyn und Michael zu, die zurücknickten. Herausfordernd verschränkte das Streichholz die Arme.
»Mein Yindarin muss allzeit bereit sein.«
»Ha«, machte ich belustigt. »Seit wann hat denn irgendwer Besitzrechte an einem Yindarin? Vor allem eine wie du? Du kannst dir ja offensichtlich nicht mal selbst ein Brot machen.«
Nighton räusperte sich im Hintergrund und ich sah mit Genugtuung, wie das Mädchen mich sprachlos ansah. Michael hinggegen schob den Kiefer vor, als müsste er sich ein Schmunzeln verkneifen.
Tharostyn versuchte sich einzuschalten, aber da fing das Streichholz Feuer und zischte: »Wie redest du mit deiner Obersten?!«
Ich prustete los.
»Ja, genau, guter Witz!«
»Jennifer«, seufzte Nighton. Ich spürte seine Hand auf meiner Schulter. »Das ist Isara, die neue Oberste der Engel.«
Oh. Deswegen kam mir das Mädchen so bekannt vor. Mir fiel sogar in diesem Moment ein, wann ich sie gesehen hatte: Im Himmelsturm, kurz bevor ich aufgebrochen war, um Selene anzugreifen. Sie war Nedeyas Tochter, die tot war - wegen mir.
Für eine Sekunde verspürte ich ein leises Schuldgefühl, doch dann erinnerte mich das Gesicht des Mädchens in aller Deutlichkeit daran, was Nedeya zu tun versucht hatte - und da tat es mir schon gar nicht mehr leid.
Ich schaute zu Nighton und verschränkte die Arme. Dann erinnerte ich ihn: »Ich bin ein Mensch, schon vergessen? Sie ist nicht meine Oberste. Eure Gesetze gelten für mich nicht.«
»Nighton!« Ihre Durchlaucht fuhr zu Nighton herum, der nur unendlich tief aufseufzte und sich an die Nasenwurzel griff. Wieder sah ich, dass Michael sich ein Schmunzeln verkneifen musste, diesmal schien es ihm noch schwerer zu fallen.
Auf mich zeigend rief das Kind: »Ich verlange, dass du sie bestrafst! Irgendwie! Züchtige Sie!«
Nun schaffte Tharostyn es, sich doch noch einzuschalten, und das war auch besser, denn mir lag bereits der nächste Konter auf der Zunge. Oh ja, das Mädchen hatte ich gefressen, egal, ob es die Oberste war oder nicht.
»Nehmen wir doch erst einmal Platz und besprechen den Grund unserer Anwesenheit.«
Nighton stimmte eine Spur weit erleichtert zu und schob die aufgebrachte Teenie-Oberste vor sich her ins Wohnzimmer. Ich ging in die Küche und zum Kühlschrank, aus dem ich mir den Orangensaft holte.
Mit dem Saft begab ich mich ganz provokativ ins Wohnzimmer. Ich wusste, dass Nighton mich raushalten wollte, aber das konnte er jetzt vergessen.
Tharostyn nahm auf der einen Couch Platz, Isara auf der anderen und Nighton setzte sich, die Hände zwischen den Beinen verschränkt und mit den Unterarmen auf den Oberschenkeln abgestützt, auf den Wohnzimmertisch vor dem Kamin. Michael verharrte nach wie vor vor der Tür.
Tharostyn schaute mich an und musterte mich von Kopf bis Fuß. Der prüfende Blick des alten Engels war mir unangenehm. Es war schon eine ganze Weile vergangen, seit ich ihn gesehen hatte. Eine lange Narbe zog sich über seine Wange und das weiße Haar schien noch weißer zu sein, als ich es in Erinnerung hatte.
»Nun, Miss Ascot«, setzte Tharostyn an und holte eine lange Pfeife aus seiner Manteltasche, in der sich offensichtlich Gras befand. Er suchte in einer anderen Tasche nach einem Streichholz. Zu meinem aufkeimenden Ärger kramte nun auch das Streichholz eine Schachtel Kippen hervor, meine missbilligenden Blicke eiskalt ignorierend. Bevor Tharostyn jedoch weitersprechen konnte, machte ich einen Schritt auf Isara zu und zupfte ihr einfach so die Zigarette aus den Fingern. Dann stützte ich mich neben ihr auf der Couch ab.
»Wenn du dich vergiften willst, dann tu das gefälligst nicht in meinem Haus«, raunte ich. Ich sah auf. »Gilt auch für Sie, Tharostyn.«
Isara schaute mit offenem Mund zwischen mir und Nighton hin und her. Ihr fehlten offensichtlich die Worte.
Nighton schloss für einige Sekunden die Augen, als müsste er Kraft sammeln. Als er sie öffnete, erhielt ich einen warnenden Blick, den ich jedoch ignorierte. Tharostyn murmelte irgendwas und steckte tatsächlich die Pfeife zurück in seinen Mantel.
Die Kinder-Oberste verschränkte die Arme und verlangte ziemlich unverschämt: »Sie soll rausgehen.«
Ich lachte auf und stemmte die Hände in die Seiten.
»Die? Jetzt hör mal zu, du-«
»Jennifer!« Die Warnung in Nightons Stimme war unüberhörbar. Ich schluckte und verkniff mir die Beleidigung, die mir auf der Zunge gelegen hatte.
»Was ist?«, fragte ich herausfordernd zurück.
Nighton und ich schauten uns für einen Moment in die Augen, dann schien er zu begreifen, dass ich nicht aufgeben würde. Er seufzte, schlug sich einmal auf die Oberschenkel und erhob sich. Zu den anderen gewandt sagte er: »Ich bin gleich wieder da.«
Er umrundete die Couchgruppierung, ergriff mich am Arm und zog mich mit sich. Ich sah, wie Isara mich angrinste, als hätte sie gerade etwas gewonnen oder so.
Nighton brachte mich ins Esszimmer. Vermutlich, weil es nicht so nah am Wohnzimmer lag wie die Küche. Dort angekommen, ließ er mich los, schaute mich ein wenig verärgert an und hob die Arme.
»Ich kann verstehen, dass du Isara nicht leiden kannst, aber ist das ein Grund, sich auf das Niveau dieses-«, er hielt inne, schaute über die Schulter und senkte die Stimme, »-Kindes herabzulassen?«
Unbeeindruckt zuckte ich mit den Schultern.
»Was denn? Nur weil sie die Oberste ist, ist das doch kein Freifahrtschein, sich so benehmen. Ich versuche nur, ihr ein paar Manieren beizubringen. Scheint ja bisher niemand gemacht zu haben.«
Nighton schüttelte den Kopf und entgegnete unwirsch: »Sie sind Gäste, geht man so mit seinen Gästen um? Ich weiß, dein Vater hat es dir oft nicht leicht gemacht, aber das wird er dir ja wohl beigebracht haben, oder? Arbeite erst mal an deinen Manieren.«
Ich lachte wieder laut auf, ehe ich herausfordernd zurückzischte: »Oh, was denn, werde ich sonst gezüchtigt?«
Nighton war schon am Gehen, hielt aber noch mal inne und antwortete mit einem schwer zu deutenden Grinsen: »Vielleicht?«
Damit ließ er mich stehen und ging zurück zu seinem Besuch. Ich hörte das Quietschen der zufahrenden Schiebetür des Wohnzimmers, sodass die Stimmen nur noch schwach zu hören waren.
Kurz blieb ich stehen und haderte mit mir selbst. Ein Teil von mir wollte Nighton hinterhergehen und das Mädchen weiter provozieren, doch der andere hielt mich zurück. Ich scheute Konfrontation zwar nicht, aber sie mussten ja nicht unbedingt vor so vielen Leuten geschehen. Vor Nighton hatte ich zwar keine Angst, auch wenn ich wusste, dass er sehr unangenehm werden konnte, aber ich wollte der Teenie-Kuh keine Genugtuung verschaffen.
Also sah ich davon ab und ging in die Küche, um zu backen. Sollten die doch ihre blöden Pläne schmieden und dabei versauern.
Schlecht gelaunt schaltete ich die Spülmaschine an. Draußen war es noch hell. Am liebsten hätte ich mich an den Konzertflügel gesetzt, aber das ging ja auch nicht. Die Vögel aus Oberstadt saßen mit Nighton immer noch im Wohnzimmer. Ich hörte sie von hier aus reden, konnte aber nicht verstehen, worum es ging. Michael hatte sich inzwischen zu ihnen gesellt, sodass ich mich nicht mal mit ihm unterhalten konnte.
Also zog ich Sportkleidung an, schnappte mir meine Yoga-Matte und ging raus in den regennassen Garten, wo ich ein paar Dehnübungen machte. Es war ein wenig kühl, aber das hielt mich nicht ab.
Da sah ich, verkehrt herum, wie die Terrassentür aufgeschoben wurde. Nighton schaute direkt in meine Richtung und kam auf mich zu, die Hände in die Hosentaschen geschoben. Kurz beobachtete er mich, dann räusperte er sich und schüttelte mit missmutiger Miene den Kopf.
»War das wirklich nötig mit Isara? Sie hat ihre Mutter verloren, sie muss Oberstadt zusammenhalten und sie ist noch sehr jung.«
Ich presste den Mund zusammen.
»Ach ja?«, gab ich schließlich nach einigen Sekunden von mir. »Soll ich mal davon anfangen, was ich alles verloren habe? Ich habe meine Mutter auch verloren, sogar zwei Mal. Und die war keine miese Verräterin wie Nedeya. Außerdem, was ergreifst du überhaupt Partei für sie? Ich dachte, du magst die Oberste nicht?«
»Mit Partei ergreifen hat das überhaupt nichts zu tun. Nur manchmal ist es eben unklug, durchzublicken zu lassen, dass man jemanden nicht ausstehen kann.«
Anstatt zu antworten, schnaubte ich verächtlich.
Nighton seufzte auf, streckte mir eine Hand entgegen, doch ich stand selbst auf. Unglücklich dreinschauend zog er seine Hand zurück und murmelte, mir dabei zusehend, wie ich die Yoga-Matte einrollte: »Wenn das deine Wut auf mich ist, dann lass sie bitte nicht an anderen aus.«
Ich rollte mit den Augen und klemmte mir die Matte unter den Arm.
»Falls es dir nicht aufgefallen ist, Blödmann, bin ich schon seit ein paar Tagen wieder nett zu dir, das eben hatte nichts mit dir zu tun.«
Nighton runzelte die Stirn. »Das schaffst auch nur du, mich innerhalb eines Satzes zu beleidigen und gleichzeitig dazu zu bringen, mich zu freuen.«
Ich zuckte mit den Schultern und erwiderte neutral: »Nur eines meiner vielen Talente.«
Wir gingen zusammen zurück ins Haus. Auf dem Weg erkundigte ich mich: »Was wollte denn dein werter Besuch?«
Nighton schloss die Terrassentür.
»Tharostyn und Isara wollten das Haus mal sehen. Das ist ja so was wie unser aktueller Stützpunkt. Und sie haben eine neue Mission für uns. Hier ganz in der Nähe.«
Ich wurde hellhörig. »Geht es um die Fabrik, wo so viele Dämonen lauern?«, riet ich und erntete einen überraschten Blick.
»Hast du gelauscht?«
Ich verneinte und erklärte: »Rose hat es mir erzählt.«
Und ich durfte zu Hause sitzen und den Herd hüten.
Wie immer.
Super.
Oder - was wäre denn, wenn... Ein Gedanke begann, in meinem Kopf zu keimen. Er war verwegen und riskant, und er bedurfte Planung. Guter Planung.