Als wir allein waren, spürte ich auf einmal, dass Michael noch nicht fertig war. Er musterte mich mit seinen durchdringenden, goldenen Augen, die immer eine Spur von Unnachgiebigkeit hatten. Ich wusste, was jetzt kam, und trotzdem machte es die Sache nicht leichter.
»Jennifer Ascot«, begann er mit strengem Unterton, der mich ein wenig wie ein Kind fühlen ließ, »was hast du dir dabei gedacht, dich des Nachts davonzustehlen? Du wusstest doch genau, was dort draußen lauerte. Selenes Schergen, Asmodeus' Ritual, die Menschen - das war mehr als leichtsinnig! Ich hatte dich für klüger gehalten.«
Ich schluckte schwer. »Ich hatte keine Wahl. Es ging um meine Familie.« Kurz und knapp erklärte ich, was Dorzar zu mir gesagt hatte. Meine Worte kamen mir dünn und unsicher vor, und ich merkte, wie mir das Blut in die Wangen stieg. Als ich endete, schüttelte der Erzengel langsam den Kopf, als könnte er es kaum fassen.
»Manchmal verstehe ich dich nicht. Es ist, als würdest du ständig mit dem Feuer spielen, und dann wunderst du dich, wenn du dich verbrennst. Du hast in dem Yindarin jemanden gefunden, der deine Sicherheit über alles stellt. Mir scheint, auch du hast noch zu lernen, dass du nicht alle Lasten allein tragen musst.«
Ich schnaubte trocken auf. Das hatte Michael treffend formuliert. »Es tut mir ja leid«, murmelte ich schließlich, und mein Blick senkte sich auf den Boden. Die Spannung in der Luft war fast greifbar, als Michael mich weiterhin anstarrte, aber dann lockerten sich seine Schultern etwas.
»Du bist wieder sicher«, sagte er schließlich, und seine Stimme klang jetzt sanfter, beinahe väterlich. »Und das ist alles, was jetzt zählt.« Er räusperte sich brummig, und ich hätte schwören können, dass er kurz überlegte, ob er noch etwas sagen sollte. Dann, sehr unbeholfen, fügte er hinzu: »Ich freue mich, dass du und der Yindarin doch noch zueinander gefunden habt. Mir war schon lange bewusst, dass da mehr ist zwischen euch beiden, aber - pass auf dich auf. Du weißt... manche Dinge im Leben... ahem - können Konsequenzen haben. Zweibeinige Konsequenzen.«
Als Michael das sagte, wurde mir schlagartig heiß. Zweibeinige Konsequenzen?! Ich konnte spüren, wie meine Wangen in Flammen aufgingen. Mein erster Impuls war, in schallendes Gelächter auszubrechen, aber der Blick in Michaels Gesicht erstickte das sofort. Er meinte das wirklich ernst.
»Äh…«, brachte ich stockend heraus, während ich versuchte, meine Fassung zu bewahren. »Ich… wir…« Meine Worte blieben mir im Hals stecken. Wie sollte ich darauf reagieren? Die Tatsache, dass Michael sich genötigt fühlte, mir eine Art Aufklärungsgespräch zu halten, war peinlich – und gleichzeitig auch irgendwie… rührend?
Ich rang um Fassung und brachte schließlich nur ein knappes, aber aufrichtiges »Danke« heraus, während ich hektisch nach den richtigen Worten suchte. »Wir… also, wir passen auf.« Gut, dass wir uns wenigstens darum keine Sorgen machen mussten, um ehrlich zu sein... Nighton als Yindarin war steril, und wenn das nicht reichen sollte, ich war es durch meine Auferstehung damals ebenfalls geworden. Das war quasi eine bombensichere Verhütung. Hoffte ich jedenfalls. Vielleicht sollte ich Nighton aber trotzdem nochmal drauf ansprechen? Zur Sicherheit? In der Hütte war das nämlich in den Hintergrund gerückt.
Michael brummte erneut, auf den Boden sehend. »Gut, gut, ich meine, das geht mich ja eigentlich auch überhaupt nichts an, ich-«
»Nein, schon gut, also, ja, es ist ja-«
»Lass uns nach London aufbrechen, Jennifer Ascot.«
»Jep, fantastische Idee.«
Kurz darauf brachte Michael mich nach London, und zu meiner Überraschung landeten wir direkt in der Kirche. Bevor ich auch nur den Mund öffnen konnte, begann es plötzlich zu donnern, und hunderte von Kugeln prasselten mit ohrenbetäubendem Lärm auf den Durchgangsbogen zum Flur. Michael breitete sofort seine schützenden Flügel aus, aber ich konnte mich nicht zurückhalten. Mit einem schrillen Schrei warf ich mich zu Boden und schützte mich hilflos mit den Armen. Der Kugelhagel hielt nur kurz an, dann hörte ich einen lauten Knall, als Michael mit einem wenig engelhaften Fluch sein riesiges Schwert nach der Quelle der Kugeln schleuderte.
Es schepperte. Erst dann wagte ich es, mich langsam und zitternd aufzurichten.
Schockiert starrte ich das Objekt an, das das Feuer auf uns eröffnet hatte. In der Kanzel des Querschiffs stand eine kleine Railgun, die jetzt rauchte und anscheinend als Verteidigungssystem der Kirche diente. Jason war wohl vollkommen durchgedreht! Dieses Ding hätte uns - mich töten können!
Michael schnaubte und bewegte sich leise vor sich hin schimpfend zur Kanzel, um sein Schwert zurückzuholen.
»Azrael hat sich kein Stück geändert. Immer noch ein Tüftler«, brummte Michael. Azrael, Jason ... es war merkwürdig. Ich hatte ja gewusst, dass Jason ein Erzengel war, aber der Name Azrael passte irgendwie nicht.
»Warum wollte er nicht mit euch reden?«, wollte ich wissen und kehrte mit dem Schuh einige Patronenhülsen aus dem Weg, die verstreut herumlagen. Michael warf einen kritischen Blick auf die vielen Einschusslöcher und antwortete: »Das ist eine sehr lange und sehr komplizierte Geschichte, die dir am besten Azrael selbst erzählt. Alles, was jetzt gerade zählt, ist, dass er aus seiner Versenkung aufgetaucht ist.« Er machte einen Schritt vom Teppich herunter und beugte sich fassungslos über das Taufbecken, das jetzt mit Bierdosen vollgestopft war. Sein Gesichtsausdruck verwandelte sich in eine Mischung aus Entsetzen und Unglauben, als er direkt daneben die Weihwasserschüssel entdeckte, in der sich Süßigkeiten türmten.
Michaels Kopfschütteln begleitete ein gemurmeltes »Unfassbar«. Dann griff er mit großen Händen in die Schüssel und steckte sich heimlich eine Handvoll der Süßigkeiten in die Tasche, in dem Glauben, ich würde es nicht sehen. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen und beobachtete ihn amüsiert.
Dann jedoch kehrte der Erzengel zu mir zurück, und seine Worte ließen mein Grinsen schwinden.
»Sag meinem Bruder, dass ich ihn in Oberstadt erwarte. Und du solltest bald deinen Vater aufsuchen. Es geht ihm nicht gut, habe ich gehört. Er hat es wohl mit dem Geist.«
Ein unangenehmes Ziehen breitete sich in meiner Brust aus. Mein Dad... Natürlich machte ich mir sofort Sorgen. Ihn und sein Schicksal hatte ich wieder völlig verdrängt. Ich nickte nur knapp, unfähig, mehr dazu sagen, bedankte mich bei Michael erneut für die Rettung, auch wenn ich spürte, dass meine Worte hohl klangen. Als er sich umdrehte und nach Oberstadt zurückteleportierte, blieb ich alleine zurück – mit Leere in mir. Das Gefühl der Euphorie, das ich durch Nighton verspürt hatte, war längst gewichen. Doch da wurde ich von dem Geräusch des aufschwingenden Kirchenportals aufgeschreckt. Keine Sekunde später traten Penny, Sam, Evelyn und Jason in die Kirche.
Jason erstarrte, als er mich sah – und die zerstörte Kirche um mich herum. Penny rief sofort meinen Namen und drängte sich an Jason vorbei, bevor sie mich fest an sich zog. Ihr Griff war so stark, dass ich kaum Luft bekam, aber ich hielt den Blick auf Jason, dessen Augen sich bei dem Anblick verhärteten.
Ich spürte die Spannung, die von ihm ausging – und dann lächelte er, aber es war ein Lächeln, das recht angestrengt wirkte.
»Willkommen zurück. Gut, dich wohlbehalten wiederzusehen«, begrüßte er mich. »Ich dachte schon, mich verhört zu haben. Da du meine Schutzvorrichtungen überlebt hast, schätze ich, dass dich jemand gebracht hat?«
Ich zog eine zerknirschte Grimasse. »Ja, Michael war so nett. Ich soll dir ausrichten, dass er dich in Ob...«
Doch meine Stimme erstarb, denn Jasons Blick wurde schlagartig dunkel, und er fuhr sich mit einer Hand über das kurze Haar. »Euretwegen habe ich meinen Schwur gebrochen«, unterbrach er mich. »Sonst hätte ich mich nie an ihn oder meine Geschwister gewendet. Ich will nichts mit ihnen zu tun haben, verstehst du? Jetzt schuldet ihr mir was, du und Nighton.«
Ich wusste nichts darauf zu sagen. Ohne auf eine Antwort zu warten, verschwand er und kehrte kurz darauf mit einer Schaufel und einem Besen zurück. Seine Bewegungen wirkten mechanisch, fast trotzig.
Aber da lenkten mich meine Freunde schon ab. Sam zog mich in eine Umarmung, sanfter als Rose, aber genauso innig, und Evelyn folgte, nur um mich nach einer Sekunde von sich zu schieben und gespielt angewidert die Nase zu rümpfen. »Gib zu, du machst das nur, um Aufmerksamkeit zu kriegen, du Stinkmorchel!«
Ich lachte, ein echtes Lachen dieses Mal, wenn auch kurz und heiser. »Das war der Plan, genau.«
Evelyns Augen glitten skeptisch über mich, und für einen Moment sah ich, wie ihre Stirn sich in Falten legte. »Irgendwas ist anders an dir«, murmelte sie. Ich zuckte nur mit den Schultern. Es war nicht der Moment, um das zu erklären. Da ich nicht antwortete, zuckte Evelyn mit den Schultern und verschwand in der Küche, während Jason weiter still vor sich hinfegte.
Penny öffnete gerade den Mund, doch ich hob eine Hand, bevor sie anfangen konnte. »Bevor ich mich euren Fragen stelle«, unterbrach ich sie hastig, »muss ich dringend was essen und ein Bad nehmen.« Sam und Penny nickten, und ich ergriff die Gelegenheit, auf dem Weg nach unten Jasons Festnetztelefon zu schnappen.
Im Bad schloss ich die Tür ab, schälte mich aus meinen klammen Klamotten und warf sie achtlos auf den Boden. Als das Wasser in die Wanne lief, gab ich so viel von meinem Duschbad hinein, dass die Luft sich sofort mit dem süßlichen Duft von Malve und Hibiskus füllte. Ich glitt ins Wasser, das meine schmerzenden Glieder umhüllte, und ließ mich bis zur Nase darin versinken. Es war, als würde die Hitze die Last, die auf meinen Schultern lastete, Stück für Stück wegschmelzen.
Dann aber griff ich nach dem Telefon und rief meinen Bruder an. Der bekam fast eine Kreischattacke am Telefon und ließ mich gar nicht zu Wort kommen. Er schrie mich weiter an, bis ich es endlich schaffte, ihm zu erklären, was wirklich passiert war. Dann, als wäre ein Schalter umgelegt worden, hörte ich nur noch ein leises Schniefen.
»Ich komme morgen sofort zurück, zusammen mit Anna«, verkündete er, seine Stimme klang brüchig und viel zu traurig für meinen Geschmack. »Wir müssen einiges wegen Dad besprechen.«
Anna war es dann, die sich das Telefon schnappte und fröhlich auf mich einredete. Sie war überglücklich, dass man mich nicht, wie sie es ausdrückte, 'vernichtet' hatte. Ja, 'vernichtet'. Ich konnte nicht anders, als nach dem Gespräch erst mal tief durchzuatmen. Anna war so klein – zu klein für diese Welt voller übernatürlicher Wahnsinnigkeiten.
Meinen Vater rief ich nicht an. Dafür hatte ich morgen Zeit, wenn Thomas und ich zusammen hinfuhren.
Nachdem ich mich endlich von Sand und Schmutz befreit hatte, stieg ich aus der Wanne und rubbelte mich energisch trocken. Ich war sicher, dass ich im Anschluss allein zehn Minuten damit verbracht hatte, meine Zähne zu putzen – etwas, was mir in den letzten Wochen fast komplett verwehrt geblieben war. Frisch eingewickelt in einen Turban und einen Bademantel, schlurfte ich in mein Zimmer am Ende des Flurs. Saubere Klamotten warteten auf mich, und sobald ich sie anzog, fühlte ich mich fast wie ein neuer Mensch.
In sehr viel besserer Stimmung ging ich wieder hoch, wo ich aber nur auf Sam und Evelyn traf. Sie saßen auf dem Sofa, und Sam kraulte Blooka die Ohren, während der Fernseher leise im Hintergrund lief. »Wo sind alle hin?«, fragte ich, während ich mir in der Küche mehrere Sandwiches und Tee machte.
»Nighton war hier und hat Penny und Jason mitgenommen. Er will wohl irgendwo tauchen gehen – hat was von eingesperrten Engeln und Dämonen gefaselt«, murmelte Sam, ohne seinen Blick vom Fernseher zu nehmen.
Überrascht hob ich den Blick an. Das war ja schnell gegangen. Offenbar hatte Nighton es eilig damit, sein Versprechen zu halten. Wobei ich mir auch genauso gut vorstellen konnte, dass es ihm selbst ein Anliegen war, die Gefangenen zu befreien. Trotzdem hätte ich mir gewünscht, dass er nochmal vorbeigekommen wäre.
Ich grummelte, nahm Tee und Sandwiches und trottete zurück in mein Zimmer. Dort setzte ich mich aufs Bett, stellte die Tasse auf den Nachttisch und atmete tief durch. Endlich wieder zuhause. Naja, fast. Aber immerhin wieder in London. Die letzten Wochen waren die Hölle gewesen.
Ich schloss die Augen und legte mich auf den Rücken. Alles, was passiert war, spielte sich wie ein chaotischer Film in meinem Kopf ab. Dorzar. Das Ertrinken. Zweimal. Urzeitliches Blut. Menschen, die Engel und Dämonen jagten – und Nighton auch. Mich hatten sie gekriegt. Würde das jemals aufhören? Und wann würde ich erfahren, wie es mit Projekt Yindarin vorangging? Ob die Engel Uriel schon gefunden hatten?