Am Montagmorgen verpasste ich meinen Wecker und wurde deshalb um halb acht von Nighton aus dem Bett geworfen. Der hatte für diese Uhrzeit übertrieben gute Laune. Generell war er erschreckend gut drauf, und das ließ er mich spüren. Ich war nämlich ein Morgenmuffel, schon immer eigentlich, das wusste er ganz genau. Das Wecken erfolgte auch nicht gerade sanft. Er nahm mir Kissen und Decke weg und genoss es auf eine sadistische Art und Weise, mich zum Aufstehen zu zwingen. Seine Erklärung hierfür war, dass er es meinem Vater leider versprochen hatte, und er dachte nicht daran, dieses Versprechen zu brechen.
Wenigstens machte er mir als Entschädigung einen Kaffee to-go, während ich mich im Bad fertigmachte. Als ich die Treppen heruntergeschlurft kam, stand er bereits fröhlich lächelnd im Flur und hielt mir ein Glas mit Latte Macchiato entgegen.
Ich pustete mir nur das Haar aus dem Gesicht und nahm das Glas mit finsterer Miene entgegen. Das war zu viel gute Laune für einen Morgen.
Aus dem Wohnzimmer hörte ich Penny leise mit Sam reden, der inzwischen wieder bei Sinnen war. Ich stattete ihm einen kurzen Besuch ab und war froh, zu sehen, dass es ihm besser zu gehen schien. Sam war zwar immer noch bleich und verschwitzt, aber wenigstens nicht mehr dem Tode nah. Zu gerne hätte ich mit ihm geredet, doch ich wusste, dass Sam für ein längeres Gespräch noch nicht fit genug war. Auch mit Penny hatte ich seit gestern Morgen kein Wort gewechselt. Aber eher, weil sich keine richtige Gelegenheit dazu ergeben hatte. Allerdings schickte sie mir ein liebes Lächeln und wünschte mir einen angenehmen Tag, wobei ich Letzteres mit einer Grimasse quittierte.
Sobald ich den Kaffee runtergestürzt hatte, begaben Nighton und ich uns gemeinsam nach draußen, den Hügel runter und durch den Wald zum Teleportstern.
Es war angenehm kühl draußen und ich hoffte, dass es heute nicht so warm werden würde. Im Gehen simste ich einen kurzen Statusbericht an meinen Vater und versprach ihm darin, dass es mir gut ging. Am Teleportstern angekommen, teleportierte Nighton sich und mich nach London in den Hyde Park und von da zur Schule. Ich versicherte ihm zwar, dass er mich nicht bis vor die Schultore bringen musste, aber davon ließ er sich nicht abbringen. Um zwei Minuten vor acht erreichten wir die Schule. Ein paar Nachzügler rannten an uns vorbei. Ich wollte ihnen schon folgen, da spürte ich einen Ruck an meiner Tasche und drehte mich um. Nighton ließ mich los, setzte eine ernste Miene auf und schob die Hände in die Hosentaschen.
»Also dann. Ich bin in deiner Nähe, in Ordnung? Wenn etwas ist, sag es einfach, ich kann dich hören.«
Er rang sich ein Lächeln ab, ehe er auflachte, über mich hinwegsah und murmelte: »Fast wie in den guten alten Zeiten, wie?«
Zuerst wollte ich ihm etwas Bissiges entgegenschleudern. Doch als ich so zu ihm aufsah und in sein viel zu ansehnliches Gesicht blickte, fühlte auch ich mich ein Jahr zurückgeworfen. Mit einem Mal stob eine verräterische Schmetterlingswolke in meinen Eingeweiden auf und fing an, meine Organe durcheinanderzubringen. Dieses alte, intensive Gefühl irritierte mich. Klar hatte ich schon diverse Gefühlsregungen verspürt, seit Nighton wieder in mein Leben getreten war, aber die meisten davon waren meinem übermächtigen Zorn erlegen und hatten mich nicht nachhaltig beeinträchtigt. Diese nun allerdings war stark und sorgte dafür, dass mein Puls stieg und meine Wangen rot wurden. Die offensichtlichen Zeichen meiner Schwäche und die Gewissheit darüber, dass mein Wunsch nach seiner Nähe langsam stärker wurde als mein Drang, Abstand zu ihm zu wahren, versetzten mich in Angst und Ärger zugleich. Warum machte mein Körper mir nur so einen Strich durch die Rechnung?!
Und als wäre das nicht genug, presste ich nun auch noch mit unbeabsichtigt hoher Stimme hervor: »Ja, finde ich auch.«
'Ja, finde ich auch'? Oh Hölle, Jennifer!
Nighton entging meine erhöhte Stimmlage nicht. Er verengte die Augen ein wenig, runzelte die Stirn und legte den Kopf schief, aber bevor er fragen konnte, machte ich, dass ich wegkam.
Zu meinem Glück kam ich noch vor unserer Lehrerin im Kursraum an und warf mich in der hintersten Reihe auf meinen Stuhl. Ein paar Leute schauten mich an, doch wie immer ignorierte ich sie alle und las stattdessen die Antwort, die mein Vater mir geschickt hatte, in der er schrieb, dass mich zuhause alle vermissten. Davon wären mir fast die Tränen gekommen, wenn ich in diesem Moment nicht eine Nachricht von Nighton bekommen hätte. Es ging also schon wieder los. Während ich sie öffnete, erwischte ich mich dabei, wie ich freudig grinste, was ich mir sofort verbot.
Nerviger Creep schrieb am Montag, 13. September 2010, 08.03am:
Handy weg und aufpassen, Miss Ascot.
Jenascot schrieb am Montag, 13. September 2010, 08.03am:
Kehr mal lieber vor deiner eigenen Haustür.
Warum war ich nur plötzlich so schwach? Was war denn los mit mir?!
Zum Glück kam in diesem Moment unsere Physikdozentin Mrs. Harris herein, was mich vorerst ablenkte. Leider nur für kurze Zeit. Bald schon galt mein Interesse nämlich nicht länger dem Unterricht, da ich Physik genauso wenig verstand wie Mathe. Die ganze Zeit schweiften meine Gedanken entweder zu den Angriffen, zu der Wunde an meinem Bauch oder zu Nighton ab. Es war so viel leichter, nicht sauer auf ihn zu sein. Ich vermisste es, mit ihm zu witzeln oder tiefgehende Gespräche zu führen. Von seiner Nähe ganz zu schweigen. Vielleicht sollte ich es wirklich gut sein lassen? Oder war es zu früh dafür?
Über diesen Gedanken hängend brachte ich den Tag, bestehend aus Physik, Biologie, Musik und Mathe hinter mich. Casey war heute leider krank, weswegen ich keinen vernünftigen Gesprächspartner hatte. Am Ende des Schultages erwischte ich mich dann auch noch dabei, dass ich mich auf Nighton freute. Es war einfach hoffnungslos mit mir.
Nach der letzten Stunde jedoch wurde ich von Brittany aufgehalten. Ich hatte gerade meine Tasche geschultert und wollte die Klassenzimmertür schließen, da fing Brittany mich zusammen mit ihren Freundinnen ab. Manchmal erinnerte sie mich an Evelyn. Nur dass Evelyn jetzt eine Freundin war und Brittany - nun ja, Brittany war mir komplett egal.
»Hi Jennifer. Wir haben uns heute noch gar nicht unterhalten, wie geht es dir denn? Fährst du auch mit dem Bus?«
Ich hätte mich fast an meinem Kaugummi verschluckt, als sie mich ansprach. Verwirrt starrte ich Brittany an, die an ihren übergroßen Kreolen spielte und mich von Kopf bis Fuß musterte.
»Wir reden auch sonst nie miteinander«, erinnerte ich sie stirnrunzelnd, ohne auf ihre Frage einzugehen.
Brittany zeigte auf mein Gesicht.
»Sollten wir aber unbedingt, wenn du mich fragst. Ich liebe deinen Lidstrich, den musst du mir unbedingt mal beibringen! Wie wäre es mit Morgen, ach, und bring doch deinen Freund mit, der dich heute hergebracht hat, den würde ich wirklich gern kennenlernen!«
Aha, daher wehte der Wind.
Diese Erkenntnis brachte mich dazu, aufzulachen. Fast ein wenig arrogant verschränkte ich die Arme und entgegnete: »Brittany, bevor ich freiwillig mit dir Zeit verbringe, färbe ich mir eher die Haare blond. Und meine Begleitung von heute früh steht auf Hirn, nicht auf Vakuum.«
Brittanys Gesichtsausdruck wurde umgehend frostig. Innerhalb eines Wimpernschlags änderte sich ihre ganze Haltung und plötzlich giftete sie aus dem Stehgreif los: »Was kann einer wie der schon von dir wollen? Alles an dir ist gruselig! Du bist ein totaler Freak, mit deinem - deinem Aussehen, deiner Art, einfach alles! Kein Wunder, dass die Churchill High dich rausgeschmissen hat!«
Ich lächelte sanft, nicht gewillt, mich provozieren zu lassen.
»Glaub doch, was du willst«, erwiderte ich und streifte meine Haare hinter meine Ohren. »Und ja, es stimmt, ich bin ein Freak, aber hey, wenigstens stehe ich zu meiner Person. Ich bin das und zugleich so viel mehr, und jetzt geh mir aus dem Weg.«
Ohne auf eine Antwort zu warten, drängte ich mich durch. Brittany rief mir noch einige nicht sehr nette Sachen hinterher, die ich aber ignorierte. Zufrieden verließ ich das Hauptgebäude. Vor dem Schulgelände konnte ich schon den hochgeschossenen Körper von Nighton erkennen, der an der hüfthohen Mauer lehnte. Als er mich erspähte, stieß er sich ab.
Hinter mir ertönte ein gerufenes: »Warte!«
Ich sah über die Schulter und musste feststellen, dass das Vakuum mir gefolgt war. Warum denn das? Was wollte sie denn noch?
Umgehend beschleunigte ich meine Schritte und floh geradezu vor der nervtötenden Brittany. Nighton legte fragend den Kopf schief, als ich so angeschossen kam.
»Schnell, ins Auto!«, rief ich aufgeregt, lief an ihm vorbei und stieg in den dunkelroten Cadillac ein, den Nighton am Straßenrand geparkt hatte. Scheinbar hatte er ihn vorhin noch geholt. Nighton tat es mir gleich und bevor Brittany angerannt kam, hatte er Gas gegeben. Im Seitenspiegel sah ich sie an der Straße ankommen und die Arme in die Luft werfen. Nighton schaute in den Rückspiegel und runzelte die Stirn.
»Warum sind wir geflohen?«, fragte er. »Sah für mich nicht wie ein Dämon aus.«
Ich schnaubte und schnallte mich an.
»Oh doch, das war ein Dämon der allerschlimmsten Sorte!«, versicherte ich ihm.
Nighton grinste verhalten und warf wieder einen Blick in den Rückspiegel, ehe er provokant bemerkte: »Hat erstaunlich lange Beine, dieser Dämon.«
Bevor ich mich bremsen konnte, schnaufte ich entrüstet und rief: »Sie und ihre langen Beine sind nur was für die Stoßstange vorne links!«
Daraufhin lachte Nighton. Entweder amüsierte ihn meine Wortwahl oder die Tatsache, dass ich auf seine Provokation eingestiegen war. Ich beschloss also, das Thema zu wechseln und sagte: »Wir müssen bei mir zuhause vorbei, ich brauche ein paar Sachen. Bücher und sowas.«
Nighton nickte. Ein paar Sekunden schwiegen wir, dann merkte er leise und ohne jeglichen Schalk in der Stimme an, während wir an einer Ampel hielten: »Ich fands gut, was du da eben gesagt hast. Dass du das und so viel mehr bist.« Ich spürte, wie er mich musterte. Ich hingegen starrte geradeaus und klemmte meine Hände zwischen meine Beine.
Cool bleiben, Jennifer, lass dich bloß nicht einlullen!
»Hast du etwa gelauscht?«, murrte ich.
»Das gehört zur Beschattung dazu«, erklärte Nighton gewitzt. Ich hörte seiner Stimme an, dass er lächelte. Daraufhin grummelte ich nur, ehe ich anfing, mir Luft zuzufächeln. Irrte ich mich, oder wurde es immer wärmer hier drin?
Als wir bei mir zuhause ankamen, war niemand da. Nighton blieb vorne im Esszimmer, um ein Telefonat zu führen und ich lief nach hinten in mein Zimmer. Die Scherben der heruntergefallenen Lampe hatte bereits jemand für mich entsorgt.
Ich steuerte meinen Schreibtisch an und stapelte einige Schulbücher, die ich für den Unterricht brauchte. Dann machte ich mich auf die Suche nach einer Tragemöglichkeit, wofür ich schlussendlich sogar unter das Bett sah. Ich meinte nämlich, mich zu erinnern, vor ein paar Jahren eine alte Reisetasche darunter geschoben zu haben.
Doch anstatt, dass ich die Tasche in die Finger bekam, fand ich etwas ganz anderes, dessen Existenz ich völlig verdrängt hatte. Unter meinem Bett versauerte seit ein paar Wochen eine gewisse Kiste, auf der in roten Edding-Buchstaben ASCOT geschrieben stand. Kurz nachdem ich aus Oberstadt zurückgekehrt war, hatte sie eines Morgens vor der Wohnungstür gestanden, mit einer Karte, auf der in geschwungenen Buchstaben 'Alles Gute für Ihren weiteren Lebensweg, Miss Ascot' stand. Sie stammte von Miss Dawes, die mir meine ganzen Habseligkeiten aus dem Internat hatte bringen lassen.
Ich setzte mich vor das Bett und zog die Kiste hervor.
»Ach herrje«, seufzte ich. Eigentlich hatte ich sie verschweißen und in die Themse werfen wollen, aber irgendwie hatte ich es nicht über mich gebracht.
Vorsichtig hob ich den Deckel an. Da drin war lauter Kram, an den ich mich keinesfalls erinnern wollte. Angefangen bei der schrecklichen Schuluniform, Bilder, die Penny mit ihrer Polaroid-Kamera gemacht hatte, über kleine Sammelstücke, die Kette, die Siwe mir vermacht hatte, bis hin zu einem kleinen Tagebuch. Dad hatte es mir vor zwei Jahren geschenkt und ich hatte sogar ab und zu etwas reingeschrieben, allerdings nie regelmäßig. Ich zog es heraus und blätterte darin herum, bis ich auf einen Eintrag stieß, der mir die Hitze in den Kopf trieb.
Liebes Tagebuch!
Wahrscheinlich spinne ich mir hier kompletten Mist zusammen - aber ich muss es loswerden! Irgendetwas passiert mit mir, das steht fest. Doch ich weiß nicht, was. Zum einen ist da dieser besserwisserische Kerl namens Nighton, den ich voll schräg finde - aber er ist zugleich so heiß!
Vor lauter Scham wurde mir ganz anders. Das zog sich so, egal, welchen Eintrag ich las. All die Erinnerungen, all die Gefühle und die Gedanken, die ich in das Buch hineingeschrieben hatte, machten mich sehnsüchtig, aber zugleich schämte ich mich oft genug für mich selbst. Es erschien mir beinahe, als hätte ich die Person in diesem Tagebuch niemals gekannt. Das konnte unmöglich ich sein.
Ich meine, was war mit mir passiert? Ich konnte mich überhaupt nicht mehr mit der Jennifer von vor einem Jahr identifizieren. Lag das daran, was ich alles erlebt hatte? Dass ich Sekeera verloren hatte? Oder war ich einfach erwachsener geworden?
Um euch mal in die Welt des Schämens zu entführen, hier noch zwei Ausschnitte, die mir das Blut in den Kopf und die Tränen in die Augen trieben:
Ich habe echt keine Ahnung, was er von mir will. Er macht mir Angst, doch irgendwie hat er zugleich das gewisse Etwas. Keine Ahnung, ich weiß einfach nicht, was ich denken soll. Oh mein Gott, ich hoffe so, dass niemals jemand außer mir diese Zeilen, vor allem nicht er, das wäre so peinlich!
Oder, ganz brisant:
Ich werde noch wahnsinnig, WAHNSINNIG. Vermutlich fragst du dich, liebes Tagebuch, was ich meine. Es geht um Nighton. Weißt du, ich kann mich aktuell einfach nicht entscheiden, ob ich, ob ich ihm ins Gesicht schlagen will oder seine Kinder bekommen möchte.
Ich wimmerte entsetzt über diese Worte und barg das Gesicht in den Buchseiten. Wie hatte ich so etwas bloß schreiben können? War ich denn völlig durchgeknallt gewesen?
Dennoch brachten mich meine eigenen Worte trotzdem zum Lachen, so peinlich sie auch waren.
Über kurz oder lang geriet ich beim Lesen meiner Einträge schon wieder an den Punkt, an dem ich mich fragte, ob ich Nighton nicht einfach verzeihen sollte. Mein Plan, ihn schmoren zu lassen, klappte bekanntermaßen nicht so wirklich gut, davon abgesehen, dass es genug Momente gab, in denen ich mich nach seiner Nähe sehnte. Oder redete ich mir da etwas ein? War ich zu vorschnell? Immerhin war er ein Verräter, ein Dieb, ein Monstrum - aber er hatte sich geändert. Glaubte ich jedenfalls. Nur konnte man sich in zwei Wochen überhaupt so sehr ändern? Oder hatte dieser Prozess nicht eigentlich schon viel früher eingesetzt?
So grübelnd saß ich da, und es verging einiges an Zeit. Irgendwann hörte ich Schritte auf dem Flur, doch ich nahm sie gar nicht richtig wahr. Erst als ich gerufen wurde, zuckte ich zusammen. Hastig klappte ich das Tagebuch zu, das in meinem Schoß lag.
»Alles okay?«
Ruckartig hob ich den Kopf und blickte Nighton an, der soeben mein Zimmer betreten hatte. Er musterte mich und das Chaos am Boden und runzelte die Stirn.
»Wolltest du nicht was packen? Was machst du da?«, wollte er wissen und kam näher. Hektisch stopfte ich alles wieder in die Kiste, was sich als komplizierter herausstellte als angenommen. Nighton ging neben mir auf die Knie.
»Du hast einen Glaemar?«, stellte er überrascht fest und zog Siwes Halskette aus der Kiste. Ich grabschte danach, entriss sie Nightons Fingern und suchte nach dem kleinen Säckchen, in dem ich die Kette aufbewahrt hatte.
»Und was ist das? Etwa ein Tagebuch?«
Aus dem Augenwinkel bekam ich mit, wie er mein Tagebuch in die Hand nahm.
Nein!
Schreck durchzuckte mich. Ohne drüber nachzudenken, warf ich mich auf Nighton, um es ihm abzunehmen, doch der stand innerhalb eines Wimpernschlags schon wieder auf den Beinen, sodass ich nicht rankam und mich erst auf die Beine kämpfen musste.
»Du hast Tagebuch geschrieben? Wie ist mir denn das entgangen?«, hakte er interessiert nach.
Mich nach dem Buch reckend rief ich wütend: »Gib es mir!«
Nighton grinste frech. »Was kriege ich dafür?«
»Keinen Tritt in deine gottverdammten Eier, und jetzt her damit!«
»Uh, wie aggressiv!«, neckte er mich, hielt mir das Buch aber dennoch hin. Ob meine durchaus ernstgemeinte Drohung dafür gesorgt oder er sich eines Besseren besonnen hatte, wusste ich nicht. Sofort riss ich es ihm aus den Händen. Mein Kopf glühte.
Ich verstaute das Buch, bevor Nighton noch in Versuchung kommen würde, und schloss den Deckel. Dann schob ich die Kiste zurück an ihren Platz, wobei meine Finger die Reisetasche streiften. Ich zog sie hervor und stellte sie aufs Bett, dann begann ich wortlos damit, meine Bücher in sie zu packen. Nighton verharrte neben mir. Plötzlich räusperte er sich.
»Du weißt, dass ich das nie gemacht hätte, oder? Also in deinem Buch lesen?«, hakte er vorsichtig nach. Sein Lachen war verschwunden und hatte einer ernsten, beinahe ängstlichen Miene Platz gemacht. Verärgert sah ich zu ihm auf.
»Nein, weiß ich nicht. Es gab eine Menge Dinge, von denen ich dachte, dass du sie nie tun würdest.«
Er runzelte die Stirn, betreten nickend. »Da kann ich dir wohl nicht widersprechen.«
Kurz musterte ich ihn. Offenbar hatte ich damit die Schuldgefühle, die Nighton in letzter Zeit sehr oft heimzusuchen schienen, wieder hervorgerufen. Im Gegensatz zu den bisherigen Malen verspürte ich plötzlich den leisen Anflug von Schuldbewusstsein, darüber, immer und immer wieder auf seinem Verrat rumzureiten. Besonders emanzipierte Frauen würden jetzt wahrscheinlich aufschreien. Verdient hatte Nighton das sicher, nur sehnte ich mich allmählich einfach nur noch nach ihm. Das machte das Ganze einfach nur schwerer.
Um das Schweigen zu brechen, das nach meinem Vorwurf zwischen uns entstanden war, räusperte ich mich und murmelte versönlich: »Es ist auch deutlich gesünder für dich, mir nicht zu widersprechen.«
Nighton rang sich ein gequältes Lächeln ab, das ich so halb zu erwidern versuchte. Dann raffte ich mich zusammen und fuhr damit fort, die Bücher von meinem Schreibtisch zu nehmen und sie in der Tasche zu stapeln.
Als ich fertig war und die Tasche vom Bett hievte, zog es mich beinahe gen Boden, so schwer war sie. Nighton schaute sich das einen Moment lang an, ehe er mit der Zunge schnalzte und mir die Tasche abnahm. Das ließ ich nur unter Protest geschehen.
»Ich kann das selbst!«
»Ja, weiß ich doch.« Er lächelte sanft, meinen Einwand aber übergehend und sich schon in Bewegung setzend, da fiel mir etwas ein, das ich über den ganzen Trubel hinweg vergessen hatte zu sagen.
»Du erinnerst dich an die Nachrichten, die ich bekommen habe, oder?«
Nighton runzelte die Stirn und nickte, die Tasche über seine Schulter hängend.
Tief Luft holend eröffnete ich ihm: »Ich habe vorgestern noch eine bekommen.«
Schreck breitete sich in seinen Augen aus. Er stieß hervor: »Und du sagst mir das erst jetzt?«
Ich hob die Schultern an und verteidigte mich: »Wann hätte ich davon anfangen sollen? Es war so viel los!«
Nighton brummte ein zustimmendes »Auch wieder wahr« und wollte wissen: »Was stand denn drin?«
Da ich den genauen Wortlaut nicht im Kopf hatte, zückte ich mein Handy, öffnete die Nachricht und zeigte sie Nighton, der sie überflog.
Als er mir das Handy zurückgab, sagte er: »Verstehe ich nicht. Wer schreibt dir da nur? Und was weiß er über Harenstone?«
Wieder zuckte ich mit den Schultern. Nighton hielt den Blick einen Moment lang noch auf die SMS gerichtet, dann seufzte er und gab mir das Handy zurück.
»Lass uns gehen. Wir können eh nichts machen. Aber wenn da nochmal eine Nachricht kommt, sagst du mir das direkt, ja? Irgendwie habe ich alles andere als ein gutes Gefühl dabei.«