Henrik setzte sich gedankenverloren in die Gilde und nahm einige Akten zur Hand. Er war mit dem Kopf bei seiner Familie und fühlte sich seelisch nicht gut. Selbst seinen Wein rührte er nicht an. In der Gilde wollte er einfach nur seine Arbeit verrichten, um dann wieder bei seiner Familie sein zu können. Er gab die bearbeiteten Akten den Praktikern, die vorbeikamen, bis Cedric die Treppen hochlief.
Cedric blickte seinen Bruder mitfühlend an und fragte: "Dir geht's nicht gut, oder?" Irgendwie ahnte Cedric, dass Henrik nicht bei guter Laune war und Henrik nickte, bevor er die Einzelheiten erzählte und betrüb den Kopf senkte. Auch Cedric war geschockt und umfasste Henriks Schulter. Die Brüder sahen sich an und Cedric versuchte seinen Bruder mit einem sanften Lächeln aufzumuntern. "Sie wird wieder, aber ich verstehe deine Sorge. Ich erinnere mich immer wieder an die Zeit zurück, in der Fritz verschwunden war oder von einem Mitschüler verletzt wurde. Ich kenne diese Sorgen sehr gut und verstehe deinen Schmerz." sprach Cedric ruhig mit seinem Bruder und ein bisschen lächelte Henrik auch wieder. "Wenn etwas ist, komm vorbei. Du kannst mich immer fragen oder um etwas bitten." bot Cedric an und Henrik nickte nachdenklich. "Es gibt tatsächlich etwas, um das ich dich gerne bitten würde." fing er vorsichtig an und Cedric setzte sich, überschlug die Beine und nickte. "Erzähl."
Sein Bruder seufzte. "Ich weiß, du magst das nicht, aber ich musste die Bitte vom Tod ablehnen, Lehrer zu sein. Würdest du das für mich übernehmen wollen?" Wie erwartet sah Cedric nicht begeistert aus, doch sanft lächelte er. "Na gut, für dich tue ich es." stimmte er zu und diese kleine Sorge weniger erleichterte Henrik. "Danke dir, du hast was gut bei mir." Jedoch winkte Cedric ab. "Schon in Ordnung." Die Zwillinge sahen sich gelassen an und Henrik gab Cedric das große Allgemeinwissen Buch über die Totenwelt. "Dort stehen alle nötigen Dinge drin. Ich werde dem Tod Bescheid geben. Danke noch einmal." Henrik war unfassbar froh über die Hilfe seines Bruders, welcher das als selbstverständlich ansah. Ihm fiel auf, dass Henrik viel emotionaler wirkte als zuvor.
Cedric verabschiedete sich und verließ die Gilde. Bei der nächsten Gelegenheit gab er dem Sensenmann Bescheid, welcher sich über die positive Nachricht freute. Gedankenverloren saß Henrik in der Gilde, als eine Stimme ihn aus diesen Gedanken riss. Er schaute auf und ein Lächeln schlich sich auf seinen Lippen, als er Smeralda sah. "Setz dich." bat er und seufzend setzte sie sich. Sie war immer noch niedergeschlagen. "Entschuldige, aber ich möchte gerade nicht alleine sein." erklärte sie und Henrik nickte verständnisvoll. "Kein Problem, du darfst immer vorbeikommen." versicherte er und sehnte den Dienstwechsel herbei. Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, bevor Florenz endlich erschien. Beide verabschiedeten sich nur schnell und liefen zu den Heilern. Genauso wie Cedric es einst bei Henrik getan hatte, besuchte er nun auch jeden Tag seine Tochter.
Die Ärztin mit dem Schwesternkittel brachte beide in den Raum, in dem Alma lag und sie setzten sich neben das Bett. Die kleinen Engel lagen nach wie vor auf Almas Oberkörper und Smeralda erinnerte dies an früher. Bedrückt senkte sie den Kopf, aber lächelte. "Die kleinen Engel lagen damals auch immer auf meinem Bauch, als ich Alma unter meinem Herzen trug. Sie konnten kaum davon ablassen, die Kleine zu streicheln." Stolz grinste sie, genauso wie die kleinen Engel, welche ihre Worte vernommen hatten. Henrik stellte sich dies bildlich vor.
Sie verabschiedeten sich von Alma und gingen zu Smeraldas Wohnung. Dort setzte sie sich auf das Sofa. "Es freut mich, dass du mitgekommen bist." dankte Smeralda und fühlte sich ein Stück weniger alleine. "Natürlich, schließlich sagtest du doch, du möchtest nicht alleine sein." Er setzte sich zu ihr. "Ich möchte einfach nur, dass Alma schnell wieder gesund wird und zurück kommt." Smeralda hatte große Sorge und Henrik legte den Arm um sie. "Das wird wieder. Alma ist stark und die kleinen Engel sind bei ihr." sprach er ihr ermutigend zu, aber war, trotz der Aussage der Engel, selber aufgewühlt. Smeralda versuchte an etwas Positives zu denken und stand auf. "Hast du schonmal Fotos von der kleinen Alma gesehen?" hakte sie nach und holte ein Fotobuch hervor. Freudig setzte sie sich wieder zu Henrik, welcher den Arm um sie legte und sich zu ihr lehnte. Smeralda öffnete das Buch und Henrik sprang als erstes ein Foto von Smeralda entgegen, wie sie schwanger auf dem früheren Sofa saß und schüchtern in die Kamera blickte. "Dieses und das folgende Bild haben die kleinen Engel geschossen." lachte Smeralda nervös und zeigte ihm das zweite Bild, auf welchem sie Alma als Baby auf dem Arm hielt. Sie lag in einem Krankenbett, sah kaputt aus und hatte Tränen in den Augen, doch grinste stolz. Es war direkt nach der Geburt gemacht worden. Unter dem Foto stand Almas Name, Geburtstag und Zeit. Während Henrik sich das durchlas, strich er über Smeraldas Arm, der diese Berührungen nichts ausmachten. Er schaute zu einem Bild, indem Alma schlafend als Baby in ihrem Bettchen lag. Auf dem nachfolgenden grinste sie in die Kamera und man sah ihre ersten Zähne, darunter auch die Spitzen, die sie von Henrik geerbt hatte. Zu dieser Fotografie fiel Smeralda eine Anekdote ein, die sie glücklich kund gab.
"Ich erinnere mich, wie sie mit den spitzen Zähnen zu mir ankam und vollkommen hippelig sagte, was sie für Zähnchen hätte und ein bissiges Monster wäre. Nach ein paar Tagen nervte es dann doch und der Spaß hörte auf, als sie mich gebissen hat. Da war ich ein bisschen sauer auf sie, aber es tat ihr sofort leid und im nachhinein lache ich darüber." Auch Henrik schmunzelte bei dieser Erzählung.
Er sah ein weiteres Bild, wie sie auf einem ihr damals zu großem Schreibtisch saß und das Schreiben lernte. "Hier hatte sie ihren ersten Schultag. Sie hat sich riesig gefreut und war immer gerne dort. Vermutlich aber, weil sie die einzelnen Dinge auf der Erde so interessant fand." erzählte Smeralda freudig und Henrik musterte das Bild der kleinen Alma, die grinsend ihren Rucksack auf den Rücken trug. "Wie war sie denn in der Schule?" erkundigte Henrik sich interessiert. "Sie war ruhig und durchschnittlich." Daraufhin sah er ihre Zeugnisse und es fiel auf, dass sie in bestimmten Fächern, besonders dem Technikkurs, herausragend war. "Nur wenn Schulfotos gemacht worden sind, ist sie nicht zur Schule gegangen. Es war auch nicht einfach, verdeckt zu bleiben, aber Todeswesen finden bekanntlich ihre Wege. Ich habe die Zeit dann immer für die Akten benutzt und es war entspannend, wenn sie auf Klassenfahrt war, doch gefehlt hat trotzdem was. Schließlich war es dann ziemlich ruhig und sonst hab ich sie immer mit ihren Gerätschaften am rumwerkeln gehört." Die Stille und der Gedanke an Alma mochte sie gerade nicht haben, deshalb suchte sie die Ablenkung und Gesellschaft bei Henrik, obwohl sie eine Person war, die alles tonlos auszuhalten versuchte und Sorgen in sich hinein fraß.
"Hatte sie eigentlich Freunde oder Probleme in der Schule?" hakte Henrik weiter nach und Smeralda dachte nach. "Nicht wirklich, sie hat immer versucht, keinen Aufstand um ihre Person zu machen und das Meiste waren kleine doofe Kindersprüche, aus denen sie sich nicht viel gemacht hat. Freunde waren ihr nicht wichtig, weil sie ein Todesengel ist, aber einige fand sie interessant. Einmal habe ich ihr angemerkt, dass sie anders drauf war und sie sagte, sie würde jemanden interessant finden und beichtete, dass es sich um ein Mädchen handelte. Schließlich beichtete sie, dass sie schon öfters an eine Beziehung mit einer Frau gedacht hatte. Ich sagte, dass sei überhaupt nicht schlimm und das erleichterte sie sehr." Dabei erinnerte Henrik sich daran zurück, als sie ihm ihre Homosexualität gebeichtet hatte. "Alma geht selbstbewusst damit um und sagte, dass es ihr egal sei, was andere denken und wer damit nicht klar kommt, soll weggehen." fuhr Smeralda stolz fort und Henrik war begeistert von dem Selbstbewusstsein, welches Alma mit ihren 18 Jahren schon besaß und ihm fiel ein, dass er nicht anders gewesen war und ihm Meinungen oder weiteres ihm gegenüber zum Großteil egal waren. Smeralda rückte näher heran. "Mir fällt allerdings eine Situation von Almas Schulzeit ein, wo ich anfangs wenig begeistert war, davon zu hören, aber Alma dann doch nachvollziehen konnte."
Henrik wurde hellhörig und war gespannt, was Smeralda ihn erzählen würde. Sie verschränkte die Arme. "In der Schulzeit hat sie sich einmal mit Klassenkameraden geprügelt." Henrik war überrascht, das über seine Tochter zu hören und fragte nach. "Mitschüler haben sie gefragt, warum sie nie was von ihrem Vater erwähnt und sie hat ehrlich darauf geantwortet. Sie haben mich als Schlampe betitelt, sie als Tochter einer Hure bezeichnet und dass ich wohl selber nicht wüsste, wer der Vater ist. Da ist Alma ausgerastet und hat denen eine verpasst und die Prügelei nahm ihren Lauf. Als Todesengel war Alma ihnen natürlich überlegen." Nachdem er das gehört hatte war Henrik fassungslos und konnte nicht glauben, was Smeralda ihm erzählte und was sie bereits durchmachen mussten. "Ich verachte körperliche Gewalt, aber wenn jemand meiner Tochter etwas antun würde, würde ich wohl auch zu anderen Mitteln greifen. Sie sagte auch, dass sie es jederzeit wieder machen würde und verzog dabei keine Miene." Das konnte Henrik sich gut von Alma vorstellen, war aber trotzdem sprachlos über die Vorurteile, die sich Alma anhören musste.
"Ich hätte dich niemals so einfach verlassen dürfen und dich alleine gelassen." murmelte er und senkte den Kopf. Smeralda nahm es überrascht gelassen auf. "Wir haben darüber geredet, es ist in Ordnung." Henrik stimmte ihr zu und stellte sich dem gelassener entgegen. Er fand sich mit Dingen ab und lebte mit diesem. Deshalb trauerte er auch nicht der Tatsache hinterher, dass er Almas Kindheit verpasst hat. Es war so geschehen, ändern konnte er es nicht mehr, aber dafür konnte er jetzt viel Zeit mit ihr verbringen.
Zusammen sahen sie sich noch Bilder an, in denen Alma immer ein Stückchen älter wurde und das letzte Bild war eines von Alma in Schmiedekleidung. Henrik und Smeralda sahen sich dies voller Freude an und Alma sah sehr stolz aus. "Ich wusste nicht, dass dieses Foto existiert. Es kann noch nicht sehr alt sein." merkte Henrik an und Smeralda bestätigte seine Aussage. Als Smeralda dieses Foto sah und an ihre Tochter dachte, wurde sie wieder traurig. Henrik merkte das und umarmte sie. Smeralda umfasste ihn mit den Armen, während er sie drückte. Diese Umarmung und sein Mitgefühl taten ihr richtig gut. Sie klappte das Fotobuch zu und stellte es zurück ins Regal. "Soll ich hierbleiben oder möchtest du zu mir kommen?" fragte Henrik nach und sah ihr in die Augen. Smeralda überlegte still. "Mir wäre es lieber, wenn du hier bleiben würdest." brachte sie ihre Bitte leise hervor und Henrik nickte. "Das mache ich liebend gerne." Dafür war Smeralda ihm sehr dankbar und fragte, ob er wieder bei ihr in der Nähe schlafen könnte. Dem gegenüber war er ebenfalls nicht abgeneigt und Smeraldas Augen leuchteten auf. Henrik tat alles, damit er ihr beistehen konnte.