Shadia erwartete beide bereits und führte sie in den Abschiedsraum. Musuko lief hinter Heather, die beim betreten des Raumes den offenen Sarg ihres Bruders sah und kurzerhand zur Seite kippte. Damit hatte Musuko bereits gerechnet und konnte sie auffangen. Er setzte sie auf den Holzstuhl, der an der Ecke stand und Shadia besorgte ihr ein Glas Wasser.
"Keine Sorge, du bist nicht die Erste, die umkippt." flüsterte Shadia und reichte ihr das Wasserglas, bevor sie die Tür schloss. Mit Musuko als Stütze lief sie zum Sarg ihres Bruders. Shadia hatte ihr gesamtes Können unter Beweis gestellt. Damians Körper zeigte nicht die geringste Spur seiner schweren Verletzungen auf. Er sah friedlich aus, wie ein Schlafender. Heather war der Ansicht, ein kleines Lächeln erkennen zu können. Innerlich hoffte Heather, er würde wirklich nur schlafen, aber langsam realisierte sie die bittere Wahrheit. Ihre Finger strichen über Damians Hände. Sein Körper fühlte sich kalt, feucht und hart an.
"Er ist tot. Er ist wirklich tot." Ihre Stimme war ein Hauchen und Shadia reichte ihr ein Taschentuch. Heather schniefte und die Tränen ließen ihre Sicht verschwimmen. Für einen Augenblick glaubte sie, ihren Bruder neben den Sarg stehen zu sehen. Ein weiterer Blick zeigte ihm nur in seinem Sarg. Sie beugte sich zu ihm runter, als würde sie ihn umarmen wollen.
"Danke, großer Bruder." flüsterte sie und strich über sein braunes Haar, das ihrem glich. Shadia und Musuko beobachteten die Szenerie und es fiel ihnen schwer, nicht auch in Tränen auszubrechen. Shadia wirkte von außen gelassen und professionell. Ihre jahrzehntelange Erfahrung machte es ihr möglich, all dies nicht an sich heranzulassen. Bei Heather stieß allerdings auch sie an ihre Grenzen. Sie überreichte ihr zum Schluss die Todesanzeige und Heather dankte. "Er sah wunderschön aus, danke." schniefte sie und Shadia fühlte sich beschämt.
"Dann habe ich meine Arbeit gut verrichtet." Sie und Heather umarmten sich zum Abschied. Beide ahnten dass der nächste Tag an dem sie sich wiedersehen würden, die Trauerfeier und Damians Beerdigung sei.
Am Tag der Trauerfeier lieferte Sarah persönlich den Kuchen. Heather hatte eine Location gebucht, in der sich engste Kollegen von Damian, Heather wie auch Musuko und seine Mutter einfanden. Sarah verblieb ebenfalls und war ungewöhnlich still. Heather trank nur Tee und nahm keinen einzigen Bissen vom Kuchen. Sie vermied Gespräche und wollte die Erzählungen über Damian nicht hören, zum Schluss gestattete sie jeden, sich den restlichen Kuchen mitzunehmen und fiel erschöpf bei Musuko ins Sofa.
Der Tag der Beerdigung war ein schmerzlicher für Heather. Sie wusste, ihr Bruder würde nie wieder zurückkehren. Heather saß mit Musuko ganz vorne und sah auf die Urne, die umringt war von Blumen. Besonders stach dabei das Heidenkraut heraus. Neben dem Bild von Damian stand ein Spielzeugbagger. Die Rede hielt Juliette und Heather hätte sich nie gewünscht, dass Juliette in dieser Form eine Rede vor ihr hielt. Die Kirche wurde von vielen besucht, die meisten davon waren von Damians Firma. Sarah und wenige Kollegen von Heather waren ebenfalls gekommen. Heather bekam kaum etwas mit, denn sie weinte ununterbrochen. Nachdem die Trauerrede gehalten wurde und sich die Beteiligten vor der Urne verabschiedeten, blieben nur noch Heather und Musuko übrig. Musuko hatte Heather schützend im Arm gehalten und die Leute daran erinnert, dass Heather nicht umarmt werden wollte.
"Danke." flüsterte sie und stand auf, um vor seiner Urne Abschied zu nehmen. Damians Seele beobachtete Heather. An seiner Seite stand Gina.
"Dass ich diese Kirche fast einmal abgerissen hätte." murmelte er und Gina beobachtete Heather dabei, wie sie vor der Urne ihre letzten Worte sprach. Sie bekam Reuegefühle wenn sie daran dachte, wie sie mit Heather umgesprungen war.
"Ich bin dir bis heute dankbar, was du alles für mich getan hast. Du hast mich bei dich aufgenommen und dich um mich gekümmert, das vergesse ich dir nie." wisperte Heather und Damian kamen fast selbst die Tränen.
"Das war doch selbstverständlich. Du bist doch meine kleine Schwester." Shadia, Juliette, Heather und Musuko begaben sich zum Friedhof. Damians Urne wurde beigesetzt und Heather setzte die ersten drei Erdhügel. Er war endgültig begraben wurden und Heather wusste nun, dass ihr Bruder fort war. Sein einstiger Körper war zu Asche verbrannt wurden, umschlossen von einer Urne, begraben unter Erde. Immer wieder las sie die Innenschrift des gesetzten Grabsteins.
Damian Willers 9.6.1667*
4.3.1712 Geliebter Bruder
Musuko legte den Arm um Heather. Auch seine Augen waren von Tränen gezeichnet. "Wie viel Zeit muss vergehen, damit dieser Schmerz endet?" Heather erbte durch das Testament ihres Bruders und das nicht wenig. Sie verkaufte die Firma ihres Bruders an einen neuen Besitzer. Er wollte sie nie damit belasten. Einer der Gründe, warum er sie einst bat, ihre Ausbildung zur Bürokauffrau in einem anderen Betrieb zu tätigen. Sie suchte sämtliche wichtigen Gegenstände aus seinem Haus heraus und verwahrte diese als Erinnerungen. Am wichtigsten wurde ihr dabei sein Kamm mit gesammelten Haaren und die alten Blechschachteln der Milchzähne, die er noch von seiner Mutter hatte. Sie verwahrte zudem seine Kleidung und ihr kamen fast die Tränen, als sie seinen Geruch vernahm.
Nach der Beerdigung bezog Heather wieder ihre eigenen vier Wände, sortierte alles aus, was sie an Engelsstatuen besaß und verwahrte diese auf einer Kiste im Speicher. Eine einzige Engelsstatue ließ sie stehen und das war die, die Damian ihr einst zum Geburtstag schenkte. Heather verschenkte viele der Möbel aus Damians Haus.
"Wie? Sie wollen nichts für den Tisch haben?" war die irritierte Frage einer Frau mit drei Kindern, die ihr Glück kaum fassen konnte. "Nein, wirklich nicht." Jedes Geld lehnte sie ab und selbst den teuren 65 Zoll Fernseher, der erst drei Jahre alt war, verschenkte sie an einen begeisterten Filmfan.
"Sie könnten damit so viel Geld machen." hatte er gesagt, aber Heather schüttelte nur den Kopf. "Ich möchte damit kein Geld machen. Ich möchte andere glücklich machen. All dem liegt eigentlich ein trauriges Ergebnis zugrunde." erzählte sie und erwähnte nur grob, dass die Sachen ihrem verstorbenen Bruder gehörten. "Mein Beileid." murmelte der junge Mann und lud den Fernseher samt Zubehör in den Sprinter. Heather wurde viel los. Den Rest spendete sie an ein Sozialkaufhaus und das Haus wurde zum Verkauf angeboten. Heather wünschte sich innerlich, dass eine kleine Familie dort einziehen und glücklich werden würde. Musuko kam öfters vorbei, um sich nach ihr Wohl zu erkunden. Beide saßen auf dem zweier Sofa das Heather besaß.
"Manchmal schlafe ich nur drei Stunden, manchmal 12. Ich kann auch immer schlecht einschlafen und nachmittags überkommt mich eine Müdigkeit, der ich mich oft hingebe." erklärte Heather und nippte an ihren Apfelsaft. Die wenigen Stunden Schlaf die letzten Tage zeichneten sich in ihren Augenringen ab. Musuko hörte ihr zu.
"Hast du demnächst einen Termin frei?" fragte Heather und stützte ihren Kopf mit der Handfläche. Musuko sah sie überrascht an.
"Möchtest du dir wirklich eins stechen lassen?" hakte er nach und Heather nickte. "Als Erinnerung an meinem Bruder."
"Klar, kann ich dir machen. Was für ein Motiv schwebt dir denn vor?" hakte er nach und bat um Stift und Papier. Sie brachte ihn eines auf einem Klemmbrett und erzählte von ihren Vorschlägen.
"Am liebsten etwas, woran erkenntlich wird, dass es um einen großen Bruder und seine kleine Schwester geht." Musuko fing zu kritzeln an.
"Und ich möchte einen Spruch, Datum und Zahl haben, als Erinnerung."
"Eine elf vielleicht? Passt zu euch beiden, als wenn ich ein bis drei Geburtstage steche. Ruiniert nur das Motiv." Er fokussierte sich weiterhin auf die Skizze. "Elf finde ich schön. Wir waren ja elf Jahre auseinander." Sie lächelte und Musuko fragte weiter.
"An was für einen Spruch hast du gedacht?" Heather konnte keine genaue Antwort geben.
"Irgendwas damit, dass er mich lieb hatte, für mich da war und sich sorgte."
"Zu lang." war Musukos plumpe Antwort und er überlegte mit Heather.
"Er hatte doch einen Herzfehler, nicht?"
"Ja." erwiderte Heather und Musuko sah nachdenklich zur Decke hinauf.
"Wie wäre es mit; Du hast mich vom ganzen Herzen geliebt?" Heathers Augen funkelten. Es rührte sie. "Oder ist dir du liebst mich vom ganzem Herzen lieber? Er wird dich sicher noch lieben, auch wenn er tot ist. Nur weil jemand stirbt, stirbt nicht die Liebe zu der Person." Sie nickte eifrig und bemerkte eine Träne runterrollen.
"Ja, ja das ist gut." Daraufhin präsentierte Musuko ihr die Skizze. Es war ein kleines Mädchen, dass von einem älteren Jungen an die Hand genommen wurde. Darunter stand die elf und der besagte Spruch. Heather wischte sich ihre Träne am Pulli ab. "Es ist perfekt." Musuko lächelte zufrieden. "Ich arbeite das aus und schicke dir die Entwürfe. Termin sprechen wir noch ab."
"Ist gut. Ich bin ja eh noch krankgeschrieben. Wie viel wird das ungefähr kosten?" fragte sie und lächelte zufrieden. Musuko sah Heather sanft lächelnd an.
"Nichts. Sieh es als eine Art Trauergeschenk an." Augenblicklich fiel sie Musuko um die Arme und drückte ihn ins Sofa. "Vielen Dank."
Heather verabschiedete sich von Musuko und stellte die Gläser in die volle Spüle. Sie blickte in den Kühlschrank, als ihr Magen knurrte, aber dort befand sich kaum etwas. Sie entsorgte einen abgelaufenen Joghurt und begab sich ins Bad, um Zähne zu putzen. Die ungewaschene Wäsche stapelte sich in dem Wäschekorb. Heather sah zu ihren Fingernägel und entschied sich nach dem Zähneputzen, diese zu schneiden. Während sie zur Nagelschere griff, ertönte eine Stimme in ihren Kopf. "Stich sie dir in den Hals!"
Heather zuckte zusammen über diesen Gedanken und ließ die Schere ruhen. Hungrig legte sich Heather ins Bett und versuchte zu schlafen. Dies wurde zu eine der Nächte, in der Heather bis zu zwölf Stunden schlief.
Heather wachte am nächsten Morgen um 10 Uhr auf und sah als erstes auf ihr Handy. Eigentlich stand sie immer sofort auf, seit geraumer Zeit war dies nicht mehr so. Musuko hatte ihr Nachrichten zugesandt. "Hey, wo möchtest du das Tattoo gestochen haben? Wenn du keine Idee hast, hier habe ich ein paar Anreize. Übrigens, das ist das fertige Motiv. Gefällt es dir? Wenn nicht, arbeite ich es noch aus." Daraufhin scrollte sie über die zugesandten Bilder. Bei dem fertiggestellten Motiv rollte ihr eine Träne über die Wange. Sie sah die Beispiele, die Musuko ihr zugesandt hatte. Auf dem Oberschenkel, am Unterarm oder Oberarm. Musuko favorisierte den Unterarm und Heather schrieb ihm zurück: Das Motiv ist klasse. Ich bin begeistert. Ich möchte es auf meinem rechten Unterarm haben.
Musukos Antwort war schnell. "Verstanden. Mein Terminkalender ist aktuell bisschen voll. Ich kann dir folgende Termine anbieten: 26.3 13 oder 15 Uhr, 28.3 11 Uhr, 1.4 12:30 Uhr...
Heather nahm den ersten Termin, der ihr vorgeschlagen wurde am 26.3 um 15 Uhr. "Super, ist eingetragen. Hier noch ein paar Tipps für deinen ersten Tattoobesuch:"
Heather schmunzelte über seine Fürsorge und las sich die Tipps aufmerksam durch. Sie freute sich bereits auf den Termin.