Gamia fühlte sich bei Niklas gut aufgehoben, aber sie hatte weiterhin das Bedürfnis, mit ihren Eltern darüber zu reden, besonders mit ihrer Mutter. Immerhin war Gina ein Sensenmann und Gamia hatte das Gefühl, dass sie sich seit der Erzählung komisch verhielt. Sie ahnte, dass etwas ihre Mutter beschäftigt, aber sie sprach nicht darüber. Von früheren Erlebnissen wusste Gamia, wie gut Gina Geheimnisse verschleiern konnte. Auch Fritz fiel die Veränderung seiner Frau auf und merkte dies. Unteranderem zeichnete er vermehrt seine Tiere, sonst porträtierte er gerne seine Frau, die sich zu anzüglichen Posen bereit erklärte. Er wurde das Gefühl auch nicht los, dass sie sich von ihn distanzierte. Fritz vermutete, dass sie nach dieser Erkenntnis Zeit brauchte, schließlich ist sie als der Tod direkt am geschehen involviert und die Wahrheit hat ihre jahrzehntelange Vorstellung auf den Kopf gestellt. Er hoffte, dass sie bald wieder zu sich findet, denn zu lange würde er diese Distanzierung psychisch nicht mitmachen können. Dass seine Tochter vorbeikam erhellte seine Emotionen und er bat sie, neben ihn Platz zu nehmen. Gina sagte ihr zwar Hallo, aber es gab keine Umarmung und das verletzte Gamia innerlich. Sie hatte immer eine gute Bindung zu ihr gehabt und körperliche Nähe zugelassen. Stumm setzte Gamia sich und sah zu, wie ihre Mutter nach einem Buch griff, doch bevor sie zu lesen anfangen konnte, setzte Gamia mit ihrem Satz an.
"Ich war bei Viktorius Grabstätte."
Sofort hatte sie Ginas Aufmerksamkeit, die den Kopf zu ihrer Tochter drehte, welche weiter erzählte. "A-also eher zufällig. Ich war in Mynrane beim Gedenkstein und sie haben sein Grab ausgehoben." Gina sah zu ihrer Tochter wie eine Mutter, dessen Kind gerade etwas schlimmes gemacht hat und gleich den Ärger seines Lebens bekommt. "Warum?" fragte sie nur und Gamia rechtfertigte sich.
"Mir ließ das keine Ruhe und ich wollte nach Tiffany Dronners Namen sehen. I-ich habe ihren Geist gesehen." Den letzten Satz bereute sie, ausgesprochen zu haben. Ihr Vater saß unangenehm zwischen den Fronten.
"Und?" hakte Gina gestochen scharf nach und Gamia rückte mit der Sprache raus.
"Wir haben geredet, über ihre Momente nach dem Tod. Sie hat mir von Garten Eden erzählt, dass der Sensenmann die Seelen persö-", Da unterbrach Gina ihre Tochter mit wütender Stimme.
"Dich geht nicht alles an, was der Sensenmann tut. Vieles muss das Totenreich nicht wissen!" Sie stand auf und verschwand aus dem Wohnzimmer. Gamia blieb mit Fritz sitzen und waren geschockt über Ginas Ausbruch. Gamia kamen die Tränen und sie schmiegte sich in den Armen ihres Vaters.
Nachdem Fritz sich sicher war, dass es ihr besser ging, verabschiedete er sie und suchte das Gespräch mit Gina auf. Er fand sie im Schlafzimmer am lesen und fragte sie: "Was ist los mit dir? Gamia hat deswegen geweint." Er war nett aber auch direkt. Gina verhielt sich jedoch weiterhin abwesend.
"Ich möchte darüber nicht reden. Tut mir leid, dass sie traurig war." Ihre Worte waren nur daher geredet und das erzürnte Fritz.
"Worüber denkst du nach?" wollte er erzürnter wissen. Jetzt legte Gina das Buch weg und setzte ein leichtes Lächeln auf. "Als Sensenmann ist mir diese Situation aktuell noch zu viel. Ich bin da viel mehr drin involviert, das stresst. Verzeih, ich rede morgen mit ihr." erklärte sie und für Fritz schien dies ausreichend zu sein. Wichtiger war ihm die Entschuldigung, aber er wusste, dass Gina ihr Wort hielt.
Gamia saß am Folgetag mit Niklas auf dem Traktor. In letzter Zeit half sie ihren Freund vermehrt auf dem Hof. Niklas wusste aktuell alles über das Verhältnis zu ihren Eltern und auch der gestrige Vorfall hatte er erfahren. Bei einem kurzen Zwischenstopp bemerkte sie ihre Mutter am Zaun stehen und teilte Niklas mit, kurz zu ihr zu gehen. Gamia gesellte sich zu ihrer Mutter und Gina kam direkt auf dem Punkt.
"Ich wollte mich bei dir wegen gestern entschuldigen. Das war nicht richtig, so aus der Haut zu fahren. Die Situation stresst mich als Gehilfe von Gevatter Tod. Außerdem gibt es streng vertrauliche Dinge, die selbst Familienangehörige nicht wissen dürfen oder sollten. Pass auf dich und diese Information auf. Erinnere dich an die Regel um die Identität des Henkers. Niemand darf von seiner Existenz wissen, der außenstehend ist. Ich möchte einfach nicht, dass dies Konsequenzen für uns beide hat." erklärte sie und hatte ein offenes Lächeln im Gesicht. Gamia nickte und konnte ihre Mutter ein Stück weit nachvollziehen. "Wie lange seid ihr noch im Gange? Ich dachte mir, wir könnten zusammen Seelen geleiten." erkundigte Gina sich und Gamia überlegte. "Eine Weile dauert das sicher noch an. Ich schau sonst nachher vorbei und dann können wir gerne das Totenreich unsicher machen." Zum Ende lachte sie scherzhaft und beide machten das Seelengeleiten für später aus.
Nach Beendigung der Arbeit zog Gamia sich ihre Arbeitskleidung aus und schlüpfte in eine schwarze Jeans mit weißem Hemd und schwarzer Jacke, ebenfalls aus Jeansstoff. In dieser Aufmachung lief sie zu ihren Eltern rüber und sah ihre Mutter auf dem Dach sitzen. Sie sprang herauf und beide lächelten sich an. Gina stand auf. "Lass uns losziehen!"
Ihre erste Seele war die eines jungen Sportlers, der einer Lungenentzündung erlegen war. Gamia geleitete die Seele in den Himmel. Die Seele bedauerte ihr frühes ableben. Beide empfanden es als freudig, zusammen Seelen zu geleiten. Ihr nächster Auftrag führte sie erneut zu einem Mann, mittleren Alters, welcher auf der Arbeit ein Baugerüst hinunter fiel und kurz darauf starb. Seine letzten Worte bevor er den Himmel betrat waren seiner Familie gewidmet.
Da sie zu zweit waren geleiteten sie die drei Seelen eines Verkehrsunfall, bevor sie auf einem Bahnhofsgebäude zur Ruhe kamen. Sie sahen die vielen Menschen rein und rausgehen, mit Koffern oder Handy in der Hand.
"Ich glaube wäre ich ein Mensch, wäre ich auch immer auf Reisen." seufzte Gina als Freigeist. Ihre Tochter hingegen erwiderte: "Wenn du es dir denn überhaupt hättest leisten können." Beide schmunzelten. "Ob Todesgeister es genießen, nun überall einfach hinzukönnen?" überlegte Gina als Sensenmann und Gamia dachte über die vielen Vorteile des Todeswesen-Daseins nach. Man könnte überall hin, ist stärker und robuster, kann trotzdem die Vorzüge des Menschenlebens genießen, aber kurz vergaß sie dabei, dass sie trotzdem Menschen waren, denen der Umstand viel Leid verursachen konnte. Nicht umsonst gab es unter den Todesgeistern Suizid Fälle oder erweiterte Selbstmorde, Morde und Heiler boten die psychologische Betreuung an, damit Todesgeister ihre Tätigkeit verarbeiten konnten.
Die Ruhe der Beiden hielt jedoch nicht lange an. Gina spürte einen kommenden Suizid eines Menschen. Ihr Blick verhärtete sich und mit der Sense in der Hand stand sie auf. Sie biss die Zähne zusammen.
"Komm mit!" befahl sie und Gamia folgte ihr durch das Todesportal.
Es war ein älterer blinder Herr, der sich ein Messer durch die Kehle gestoßen hatte, um zu sterben. Er sah es nicht mehr als nötig an, zu leben. Er sei alt genug und seit seiner Erblindung sah er noch weniger einen Sinn darin.
"Ich habe schon all die schönen Dinge im Leben gesehen." waren seine letzten Worte und Gamia setzte die Sense an, während Gina dem Suicide Hangman gegenüber stand. Das Seelengeleit ging schnell vonstatten und Gamia sah Suicide Hangman an, seine Geschichte immer im Hinterkopf.
Suicide Hangman grinste nur und schien besonders auf Gamia fokussiert zu sein. Das passte Gina nicht. "Verschwinde! Hör auf, dem Tod in die Quere zu kommen! Du solltest nicht existieren!" rief sie und hielt ihre Sense vor ihrem Körper. Ihr Gegner blieb stumm und verschwand dann, was Gina in entsetzen zurückließ, bis sie seine Präsenz auf dem Hausdach spürte und sie dieser mit Gamia folgte.
Mutter und Tochter hielten ihre Sensen fest in der Hand. Ohne Rücksicht wollte Gina den ersten Schlag setzen und sprintete auf Viktorius zu. Dieser wich ihren Schlag aus und zückte im gleichen Zug seine eigene Sense. Mit dem Holzstab schlug er Gina von sich, doch sie hielt sich standhaft, stellte sich wieder auf und setzte den nächsten Angriff, aber auch diesen wehrte Suicide Hangman mit einen Sensenschlagabtausch ab. "Ich weiß um deine wahre Identität!" rief sie aus und brachte ihren Feind leicht zum schmunzeln. "Wie erfreulich. Hat Gevatter Tod endlich über mich erzählt." Ein erneuter Schlag wurde abgewehrt. Er lächelte nur dabei während Gina ihn erzürnt anfunkelte. Gamia beobachtete die Situation und wollte eingreifen, um ihrer Mutter zu helfen und Suicide Hangman schneller dem Garaus zu machen. Sie rannte auf ihn zu, doch entgegen ihrer Erwartungen stieß er erst Gina von sich und schleuderte dann Gamia auf den Boden. Seine Stärke überraschte sie.
"Wann versteht es der Tod? Ihr könnt mich auslöschen, aber den Suizid tötet ihr nicht. Es ist genauso eine Art zu sterben, wie durch einen Unfall." erzählte er und fuhr fort.
"Warum vernichtet ihr nicht auch die vier Reiter der Apokalypse, die ebenfalls Leid und Tod verbreiten?" fragte er schnippisch und Gina biss die Zähne zusammen.
"Weil... weil sie keinen zum..." Ihre Stimme brach ab und ihr Feind lächelte. "Weil du es selber nicht weiß." ergänze er und Gina knirschte. "Du bist kein Reiter der Apokalypse. Deine Existenz sollte nicht sein!" Mit dieser Aussage machte sie Viktorius wütend. "Ich sollte nicht existieren? Oh, wie oft hat man mir dies schon zu Lebtagen gesagt.... Wegen solchen Aussagen bin ich das geworden, was ich bin," Sie hatte seinen wunden Punkt getroffen. In der Zwischenzeit stand Gamia auf und wollte ihn angreifen, doch Viktorius sah ihr tun und ergriff mit einem Hieb ihre Sense, welche weggeschleudert wurde. Er zerrte an ihren Arm und hielt sie fest im Griff. "Dann sollte sie auch nicht existieren." zischte er und Gina weitete die Augen.
"Lass sie los!" befahl sie erzürnt, doch Viktorius widersetzte sich ihr. "Sie ist das, was mich auf ewig an den Tod binden wird!"
Und plötzlich verstand Gamia das Verhalten ihrer Mutter. Gamia war ein Sensenmann, doch sie war auch eine Nachfahrin von Viktorius. Gina war eine Verbindung mit einem Dronner eingegangen. "Sie hat nichts mit dir zu tun!" schrie Gina aufgewühlt, während Viktorius grinste, wie er es immer tat.
"Und ob! In ihr fließt das Blut einer Dronner! Sie ist mir genauso verbunden wie dem Sensenmann!" Diese Tatsache wollte Gina ungerne hören und stürmte auf ihn zu, um ihre Tochter wiederzubekommen.
Suicide Hangman hatte Gamia jedoch gut im Griff und wich Gina aus. Er wickelte einen Strick um Gamias Hals, die sich dagegen zu wehren versuchte. Dieser Anblick machte Gina noch wütender. Ihren Angriffen wich er nur noch aus, bis er ihr gegenüberstand und grinste.
"Wenn du mich entschuldigst, ich würde mich gerne alleine und ungestört mit meiner Nachfahrin unterhalten." Nebelschwaden bildeten sich um Viktorius und Gamia.
"Nein!!" brüllte Gina, wollte Gamia aus seinen Fängen retten, doch er verschwand mit ihr und Gina wusste nicht wohin.
Gina hob Gamias Sense auf und war den Tränen nahe. Ihre Tochter war von Suicide Hangman entführt worden. Sie musste dies dem Tod und Fritz mitteilen. Besonders an Fritzs Reaktion mochte sie nicht denken. Sie ballte die Hände zu Fäusten und ihr erster Weg führte zum Sensenmann.
"Wie bitte?" Wie Gina bereits erwartet hatte war die Reaktion des Todes voller Zorn auf Viktorius. Gina senkte nur den Kopf und fühlte sich für Gamias Entführung verantwortlich. "Es gibt auch keinen Anhaltspunkt wo sie sein könnte." erklärte Gina leise und dachte schon die ganze Zeit über nach, wo er sie hingebracht haben könnte. "Wir müssen und werden sie finden. Und dann löschen wir Viktorius von Eden endgültig aus!" rief der Tod aus.
Fritz sah seiner Ehefrau an, dass es ihr nicht gut ging. Zudem wunderte es ihn, dass Gamia nicht bei ihr war. "Ist was beim Seelen geleiten passiert?" fragte er behutsam, nachdem sie sich aufs Sofa gesetzt hatte. Er strich mit der Hand über ihre Schulter. Gina kamen die Tränen.
"Es gab einen Selbstmord. Suicide Hangman hat Gamia entführt."
Fritzs Augen weiteten sich, als er das hörte und er fühlte, wie er in eine Art Trance geriet. Er wollte seinen Ohren nicht glauben und geriet in einem gedankenverlorenen Zustand. Seine Augen wurden glasig und Gina wusste, dass diese Situation seine psychische Erkrankung triggern würde. Im Laufe des Tages hatte sie das Gefühl, dass Fritz nicht anwesend sei. Niklas erfuhr ebenso davon, welcher besorgt war, dass sie noch nicht heimgekommen war. "Ich erledige diesen Typen mit einer Mistgabel!" fluchte er und wollte seine Freundin wiederhaben.