Heather starrte mit geröteten Augen auf das Klingelschild mit Musukos Namen. Dieser hatte seine Wohnung direkt über sein Studio und er war froh, dementsprechend nicht lange zur Arbeit laufen zu müssen.
Sie klingelte und wartete ab.
Trotz der lauten Dark Techno Musik vernahm Musuko die Klingel. Seine tätowierten Arme waren um den Schoß eines jungen Mannes geschlungen und das Gesicht tief in diesem vergraben. Der junge Mann hatte die rechte Hand auf Musukos Schulter gelegt, mit der Linken hielt er ein Buch in der Hand mit dem Titel Makabres Stübchen. Sein Gesicht war stark geschminkt und er sah aus wie der Tod persönlich mit der geschminkten Blässe wie auch den schwarzen Linien. Beide hatten es sich auf dem Bett gemütlich gemacht.
"Es hat geläutet." sagte er ohne Gefühlsregung in der Stimme und Musuko löste die Umarmung. "Bin gleich wieder da." Er gähnte und war kurz eingeschlafen gewesen. Musuko trug eine schwarze Jogginghose mit Totenkopfprint, dazu ein Tank-top, das ein ähnliches Totenkopfsymbol zeigte. "Ich geh schon." Mit Schlüssel in der Hand spurtete Musuko die Treppe hinunter und spähte durch den Türspion. "Heather? Die wollte doch Auto shoppen gehen." murmelte er zu sich selbst und öffnete die Tür. Mit geröteten Augen und schränkten Armen stand sie vor ihm.
"Hey Heather, alles okay?" fragte Musuko vorsichtig und Heather fiel ihn um die Arme.
"Damian liegt im Krankenhaus." japste sie und Musuko drückte sie mit einer Umarmung an sich. "Oh, scheiße." murmelte er und zog sie ins Treppenhaus. Er schloss die Tür mit einer Hand, ließ aber nicht von Heather ab. "Ich würde kurz Mikel Bescheid geben. Aber der kann sich auch alleine beschäftigen." Er kehrte ins Schlafzimmer zurück und sah Mikel auf dem Rücken liegend sein Buch lesen. "Heather ist da. Wir sind im Wohnzimmer. Ihr geht es nicht gut." Mikel zeigte nur einen Daumen nach oben und sah nicht einmal von seinem Buch auf. Musuko lief zu Heather und beide begaben sich in das düster gestaltete Wohnzimmer. Jedes Möbelstück war schwarz. An den Wänden prangte Wanddeko von Horrorfilmplakaten, Kreaturen oder Zeichnungen von Musuko. Die Regale waren bestückt mit Sammlerfiguren, Horrorfilmen oder Büchern. In einem Regal standen mittelgroße Figuren von Menschen mit körperlichen Deformationen. Die Untersteller waren beschriftet mit: Body Horror Rücken, Absorption, Kugelmenschen, Sirenomelie
Dahinter standen mehrere einfarbige Bücher, die den Titel Body Horror trugen. Sie waren Musukos liebstes Sammlerstück.
Heather setzte sich auf die große Sofalandschaft neben dem Sensenmannkuscheltier. "Soll ich dir was zu trinken bringen?" Heather lehnte jedes Angebot ab. "Was ist denn passiert, dass dein Bruder im Krankenhaus liegt?" hakte er schließlich nach und Heather berichtete von dem Unfall, dem Geisterfahrer und dass die Chancen nicht gut standen. Musuko war zwischenzeitig näher herangerückt, um sie in den Arm zu nehmen. Musuko verkniff sich jeden Spruch, das den Tod beinhaltete und war komplett nur für Heather da. Sie redeten so viel, dass sie die Zeit vergaßen und das Gespräch sorgte dafür, dass Heather sich ein Stück weit besser fühlte. "Ich würde mir für Montag eine AU holen. So kannst du nicht arbeiten. Ist doch nur Büroarbeit." riet Musuko, aber Heather schüttelte den Kopf. "Geht schon." schniefte sie und hatte bereits eine Packung Taschentücher verbraucht. "Ich kann jetzt nicht alleine bleiben." hauchte sie und Musuko schlug vor, dass sie auch bei ihm übernachten könne.
"Keine Sorge, die Figuren werden nachts nicht lebendig." scherzte Musuko und brachte Heather zum kichern. Er sah auf die Uhr und realisierte, dass drei Stunden vergangen waren.
"Ob Mikel sein Buch mittlerweile durch hat?" fragte er sich und Heather war aufgestanden. "Ich danke dir." murmelte sie und Musuko sagte nur: "Klar doch. Meine Tür steht dir offen." Die Freunde umarmten sich zum Abschied und Musuko brachte Heather zur Tür. "Auf Wiedersehen."
Heather lief Montagmorgen in das Büro und versuchte einen guten Eindruck zu machen, aber ihre Kollegen sahen ihr die Belastung an. In einem ruhigen Moment lief ihre Kollegin, wenige Jahre älter, mit ihrer Kaffeetasse zu Heather. Ihr haselnussbraunes Haar fiel ihr dabei ins Gesicht.
"Chef ist nicht da, da mache ich das mal so." murmelte sie, als sie bei Heather am Tisch stand. Ihre Hand legte sie auf Heathers Bürostuhl. "Was ist los, Heather?" fragte die Kollegin und nippte an ihren Kaffee aus einer Tasse mit der Aufschrift: Monday Loading
Sie sah zu Heathers PC. "100 Zitronenkuchen für die Filiale beim Supermarkt? Nehmen die nicht immer nur 10?" meinte die Kollegin und beschämt korrigierte Heather ihren Tippfehler. "Ich geh eine rauchen. Möchtest du mitkommen? Dir liegt doch irgendwas auf der Seele." Heather seufzte und nickte. "Ja, gehen wir eine rauchen." murmelte sie, als ihre Kollegin mit aufgerissenen Augen meinte: "Du fängst mir nicht auch noch damit an! Ist der größte scheiß!" Heather nahm ihre Teetasse. "Nein, ich werde einfach meinen Tee trinken." Sie warf einen letzten Blick auf das Foto von ihr und Damian an ihren Abi-Abschluss, bevor sie ihrer Kollegin aus dem Büro folgte. Diese zündete sich ihre Zigarette an und nahm einen tiefen Zug.
"So, was ist los?" fragte sie lässig und verschränkte die Arme. Sie tippelte von einen Bein auf das andere. "Hätte mir ´ne Jacke mitnehmen sollen." flüsterte sie und sah zu Heather. "Mein großer Bruder liegt schwerverletzt im Krankenhaus." Ihre Kollegin weitete die Augen und vergaß, an ihrer Fluppe zu ziehen. "Scheiße." Sie schlug die Hand vor den Mund. "Verdammt, komm her." Damit umarmten sich die Kollegen. Nachdem sie die Umarmung gelöst hatten, trank Heather einen schluck und ihre Kollegin rauchte weiter. "Weiß du, mein Onkel ist bei einem Motorradunfall gestorben. Ist jetzt schon 14 Jahre her. Seitdem rauche ich auch diese beschissenen Stängel." Sie zeigte auf ihre halb aufgerauchte Zigarette. "Du kannst dir auch eine Krankschreibung holen, Heather. Wir bekommen das hier schon hin." Heather schüttelte den Kopf. "Ich brauche die Ablenkung." Ihre Kollegin drückte die Zigarette im Aschenbecher aus.
"Gut. Hast du schon was gegessen?" fragte sie und Heather antwortete: "Nur Müsli."
"Weißte was? Dann geh ich jetzt rüber und besorg uns was. Käsecroissant mit viel Käse, zwei deiner 100 Zitronenkuchen oder ´n Zwiebelmettbrötchen ohne Zwiebelmett." Beide lachten über diese Anspielungen von Missgeschicken. "Ist nicht sogar die Vertretung wieder da?" Ihre Kollegin zuckte nur mit den Schultern und lief rüber zum Laden, während Heather in ihr Büro zurück eilte. Ihre Kollegin kam mit zwei Tüten wieder.
"Bei dem Käsecroissant fehlt zur Hälfte der Käse. Ach und Mandelhörnchen hatte sie noch da." Die Kollegin setzte sich ihr gegenüber an ihren Rechner und biss in eine Laugenstange. Heather dankte ihr und biss in das Käsecroissant. Sie mühte sich ab beim essen und zwang sich regelrecht dazu. "Ich stopf es dir in den Mund wenn du nichts isst!" hatte ihre Kollegin gemahnt und nach dem Mandelhörnchen ging es ihr ein Stück weit besser.
Schwerverletzt lag Damian im Krankenbett. "Damian Willers." ertönte Ginas Stimme. Damians Seele hing auf der Brücke zwischen Leben und Tod fest. Er zuckte bei Ginas Worten zusammen. "Ich kenne diese Stimme." dachte er und obwohl es über 15 Jahre her war, erinnerte er sich daran, wie er sie bei seiner Nahtod-Erfahrung vernommen hatte. "Du bist es wieder. Lange ist es her. Was führt dich diesmal zu mir?" fragte er in einer ruhigen Stimme, die Gina nicht erwartet hätte. Sie hätte ebenso nicht erwartet, dass er sie wiedererkennt.
"Ich bringe zu ende, was ich begonnen habe." flüsterte Gina und Damian senkte den Kopf. Er verschränkte die Arme. "Dieses Mal also wirklich?" Es war, als spreche Damian mit einem alten Freund.
"Dem Tod kann niemand ausweichen. Irgendwann wird er dich haben. Selbst wenn du ihm einst von der Schippe sprangst, wird er irgendwann wieder vor deiner Tür stehen." vernahm er Ginas Worte und obwohl kleine Tränen über sein Gesicht liefen, zwang er sich zu lächeln.
"Wie? Wie ist es passiert? Ich wollte mit meiner Schwester ein Auto begutachten, mehr weiß ich nicht mehr." fragte er gedankenverloren und Gina stand ihn mit einer Antwort zur Seite. "Ein Geisterfahrer fuhr mit überhöhter Geschwindigkeit in dein Auto. Der Selbstmörder war sofort tot." Sie duzte ihn, um eine Vertrautheit zu schaffen und ihm zu zeigen, dass sie auf einer Ebene waren.
"War ich zur falschen Zeit am falschen Ort?"
"Nein. Der Tod ist unvermeidbar. Niemand kennt sein Schicksal. Wäre es nicht der Unfall gewesen, würde es etwas anderes sein. Der Tod findet seine Mittel und Wege." erklärte Gina und Damian krallte sich mit den Fingern an die Oberarme. "Und ist dies nun das Leben nach dem Tod?" Die Leere der Brücke verängstigte ihn. "Dein Körper liegt schwerverletzt im Krankenhaus, aber die Hülle wird nachgeben."
"Ich liege im sterben, ist es das?" nahm Damian ihr die Worte aus dem Mund. "Ja."
Stille.
Stille, die durchbrochen wurde durch ein leises Wimmern und den Namen: "Heather..."
Heather eilte nach der Arbeit ins Krankenhaus und besuchte ihren Bruder in seinem Krankenzimmer. Bei seinem Anblick krampfte es in ihren Magen und sie holte tief Luft. Sie setzte sich zu ihm und wollte ihm von ihren Tag erzählen, da überkamen sie die Tränen. Sie holte eine Taschentuchverpackung hervor, wovon die Hälfte schnell verbraucht war. "Ich war heute arbeiten. Du würdest mich jetzt sicher mit rollenden Augen ansehen, wenn du könntest." Sie raffte sich zu einem Lachen auf, vergebens. Heather faltete die Hände zum Gebet zusammen. Still beobachtete Gina sie dabei, die Brücke weiterhin aufrecht erhaltend. "Ich komm dich jeden Tag besuchen, bis wir gemeinsam das Krankenhaus verlassen." hauchte sie und strich über seinen Arm. Auf der Brücke konnte Damian jedes Wort hören, aber nicht darauf antworten.
"Ich würde so gerne, Heather, aber wenn der Tod dich hat, bist du machtlos."