Tage vergingen, in denen Cedric seine Frau täglich besuchte. Ihr Zustand blieb unverändert. Die Heiler teilten ihm mit, dass ihr Herz nicht schlug, weil es noch regenerierte. Sie gingen davon aus, sobald die Heilungsphase abgeschlossen sei und es wieder schlägt, sie auch aus dem Koma wiedererwacht.
"Wenn jemand stark ist und der Verletzung strotzt, dann du." flüsterte er und strich über ihre Hand. Er dachte an ihre Narben von der Vivisektion ihres Vaters. Sie erzählte, dass sie damals auch eine gewisse Zeit im Koma lag, bevor es verheilt war. Cedric war guter Dinge, dass es seine Frau schafft. Mit einem Kuss verabschiedete er sich von ihr.
Cedrics Weg führte ihn zur Gilde, in welcher sein Bruder ihn erwartete. In letzter Zeit besuchte Cedric immer jemanden nach der Tätigkeit als Seelengeleiter. Sei es Felicia am Krankenbett oder Henrik. Er versuchte die Zeit so weit es ging zu strecken, in welcher er nicht alleine in der Wohnung verbringen musste. Wenn er denn daheim war lenkte er sich mit einem Klavierspiel ab.
Beide Brüder setzten sich in der Gilde zusammen und Henrik überreichte Cedric einen Wein. Cedric trank aktuell öfters einen Wein mit. Eine Tatsache, die Henrik innerlich leicht besorgte. Er wollte nicht, dass sein Bruder einer Sucht verfiel. Henrik musste sich selber bewusst machen, dass er Alkoholiker ist. Allerdings hatte Henrik ein anderes Anliegen an seinen Bruder.
"Ich möchte dich ungerne damit beauftragen, wenn du dies nicht möchtest richte ich es Josef aus, aber es gibt einen weiteren Seelengeleiter, der seine Aufgabe nicht verrichtet." erwähnte Henrik und Cedric hörte aufmerksam zu. "Diesmal geht es um eine Seelengeleiterin namens Celine Kroff. Sie ist ein Todesgeist in Ausbildung und ihr Lehrmeister hat berichtet, dass sie seit Tagen fehlt." erklärte Henrik weiter. "Ich werde mich darum kümmern." versicherte Cedric und ein bisschen überraschte Henrik diese Antwort doch. Daraufhin teilte er seinem Bruder mit, wo Celine Kroff ihre Wohnung hatte. Cedric trank sein Weinglas aus und teilte mit, sich am Folgetag um die Angelegenheit zu kümmern. Henrik dankte ihm.
Am nächsten Tag ging Cedric dem Auftrag nach. Er versuchte ohne Vorurteile daran zu gehen und an Felicias Worte zu denken. "Sie waren Menschen." hallte es in seinem Kopf wieder und er klopfte an der Tür. Eine Weile verging ohne, dass was geschah und Cedric klopfte erneut.
"Guten Tag, Cedric Dronner mein Name. Bitte öffnen Sie die Tür!" rief er laut und deutlich. Er hoffte, dass er gehört wurde und nach einer kurzen Zeit wurde ihm die Tür einen Spalt weit geöffnet. "Ich möchte nicht, dass jemand reinkommt." vernahm er eine hauchende Stimme. "Ich bitte Sie. Ich soll nach dem rechten sehen, da Sie Ihrer Lehre nicht nachgehen." erklärte Cedric höflich und tatsächlich öffnete sich die Tür. Cedric konnte einen kompletten Blick auf die Person und die Wohnung erhaschen. Er zuckte zusammen, als er Celine und ihr Umfeld sah. Vor ihm stand eine 22 Jahre alte Mädchen mit grünen Augen und langen, braunem Haar. Das Haar war ursprünglich zu zwei Zöpfen gebunden, die sich jedoch lösten. Ihre Haare waren ungekämmt und ihr Erscheinungsbild wirkte nicht gepflegt. Der Körper wurde von schwarzen, weiten Klamotten verdeckt. Die Wohnung war ebenfalls in keiner guten Verfassung. In den verschiedensten Ecken lagen Kleiderhaufen. "Es ist mir peinlich, dass sie meine Unfähigkeit zu leben, so sehen müssen." hauchte Celine und sah von Cedric weg.
"Nein, das stört mich keineswegs. Ich möchte nur wissen, warum Sie nicht zur Lehre gehen." sprachen Cedric sanftmütig und erneut dachte er an Felicias Worte.
"Jayna brauchte erst eine Therapie, bevor sie Heilerin werden konnte. Einige haben damals Schicksalsschläge erlitten."
Celine lief zum Wohnzimmer und setzte sich stumm auf die Couch. Cedric folgte ihr. Beide saßen auf der kleinen grauen Couch. Celine hatte den Kopf gesenkt und die Hände auf ihre Oberschenkel gesetzt. Nach einer kurzen Überwindung seufzte sie dann und erzählte Cedric von sich. An ihrem Seufzer vernahm Cedric bereits, dass sie den Tränen nahestand.
"Ich habe mich umgebracht..." hauchte sie und ihre Hände stützten ihren Kopf. "Das Leben war beschissen. Ich hatte eine schwere Depression" Sie musste sich beherrschen, nicht vor jemand Fremdes zu weinen, aber ein paar kleine Tränen konnte sie nicht verhindern. "Und jetzt geht es genauso weiter wie zu Lebzeiten!"
"Diese Welt kann für Menschen eine Qual sein." In Cedric kamen Erinnerungen an Fritz hoch.
Der kleine Fritz zerrte an Cedrics Mantel. "Ich möchte nicht mit in die Totenwelt." flehte er und Cedric kniete sich zu ihm runter. "Du brauchst keine Angst haben. Irgendwann wirst du das machen, was Mama und Papa jetzt auch machen, kleiner Todesengel. Es ist deine Berufung." Schmunzelnd erklärte Cedric dies seinen Sohn. "Wer sagt das?" fragte Fritz überhaupt nicht begeistert und zum ersten Mal stockte Cedric.
Fritz war 17 und stand kurz vor seinem 18.ten Geburtstag. Er hatte sich in seinem Zimmer eingeschlossen und seine Familie stand vor dieser. Sie alle wollten ihm gut zusprechen. "Wir verstehen, dass du Angst hast, aber die Lehre gehört für jeden Seelengeleiter dazu." rief Felicia, aber erreichte Fritz mit diesen Worten nicht. Schließlich war es Frederic gewesen, der mit Fritz sprechen konnte und ihm Mut zusprach, die Lehre anzugehen.
Cedrics fürsorgliche Seite kam zum Vorschein und ruhig erklärte er Celine die folgenden Schritte. "Ich werde Sie gleich zur Gilde nehmen. Leider ist dieser Schritt unumgänglich. Dort werden wir ihnen alles erklären. Ich kenne die Gilde sehr gut." Er stand auf und wartete, bis sie ihre Tränen weggewischt hatte. "Werde ich dort bestraft?" wisperte sie, aber Cedric schüttelte den Kopf. "Dort wird alles weitere besprochen werden." Unsicher folgte Celine dem Mann. Es war ihr unangenehm, ungepflegt die Wohnung zu verlassen. Sie hasste sich selber dafür.
Jeremy erwartete Cedric in der Gilde. Cedric setzte Jeremy in Kenntnis. Nickend hörte er ihm zu. "Wir hatten noch nicht mit einem Seelengeleiter zu tun, der seine Ausbildung verweigert." gestand Jeremy und Celine fühlte sich immer schlechter, wenn sie diese Worte vernahm. Immer wieder linste Cedric zu ihr und biss sich auf die Unterlippe. Stramm stand er neben ihr, doch innerlich sah es anders in ihn aus. Jeremy wollte gerade sprechen, um das Urteil zu fällen, als Cedric dazwischen sprach. "Entschuldigt, aber wenn ich etwas dazu sagen dürfte." sprach Cedric und Jeremy gestattete es ihm.
"Celine Kroff ist in keiner guten Verfassung. Sie ist aktuell nicht in der psychischen Lage, diese Lehre anzugehen. Ich würde ihr vorher die Möglichkeit geben, eine Therapie zu machen.", erzählte Cedric und wurde gebeten, dies näher zu erläutern. Cedric wusste, dass Celine sich dafür schämt, dass näher auf ihren Zustand eingegangen wurde, doch Cedric musste dies erläutern, damit er, so hoffte er, mit seinem Vorhaben durchkam.
"Ich war in Frau Kroffs Wohnung. Sie kann nicht für sich selbst sorgen. In einem Einzelgespräch berichtete sie mir, dass sie schwere Depression hat und sich aufgrund dieser das Leben nahm." Er und Jeremy blickte sich an und Jeremy fällte ein neues Urteil.
"In diesem Fall wird Celine Kroff von der Lehre befreit. Sie wird eine Therapie bei den Heilern angehen. Ein Sensenmanngeist wird ihr als Pfleger zur Hilfe stehen und sie betreuen. Celine Kroff wird ihre Lehre erst dann wieder fortsetzen, wenn sie sich dazu in der Lage fühlt." Damit war das Urteil gesprochen.
Jeremy entließ Cedric und wollte nur mit Celine ein paar letzte Worte wechseln. Bevor Cedric die Gilde verließ, wandte sich Celine an ihn und griff nach seinen Mantel. "Danke..." flüsterte sie und Cedric verbeugte sich lächelnd. "Freut mich, dass ich helfen konnte." Damit verließ er die Gilde und steuerte den Heilertrak an.
Cedric saß auf einem Gästestuhl neben Felicias Bett. Er strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. "Ich glaube, wenn du wieder wach bist musst du erst wieder meine Haare schneiden." schmunzelte er und dachte an den Tag zurück, an dem sie Schere an seiner langen Haarpracht anlegte. Er wusste, dass Felicia einen schmalen Zopf seiner langen Haare von damals aufbewahrte. Er hielt kurz inne, bevor er ihr von dem heutigen Tag berichtete.
"Ich habe eine Seelengeleiterin zur Gilde gebracht, die ihre Lehre nicht machen wollte. Mit der Gilde konnte ich absprechen, dass sie erst eine Therapie macht. Ich musste an deine Worte und an unseren Sohn denken. Es ist wie du sagst, einige waren Menschen mit psychischen Lastern." Während er dies sagte hielt er ihre Hand und streichelte ihre zarten Finger. Er seufzte und wollte sie unbedingt wieder bei sich haben. Seine Gedanken kreisten noch um die heutige Seelengeleiterin. Langsam fing Cedric an, seine Weltvorstellung zu hinterfragen. Bekanntlich glaubte man an die Realität, in der man geboren wird.
"Ist das was ich tue richtig?" fragte er murmelnd und ging seine Tätigkeit als Todesengel im Kopf durch. Seit seinem 18.ten Lebensjahr hatte er den Tod zukünftiger Menschen niedergeschrieben, ihre Seelen geleitet und für die Gilde wie auch dem Tod Aufträge erledigt. All die Todeswesen, die er der Gilde vorgeführt und gerichtet hat. Er dachte an Herr Borkes, welcher das Konzept des Totenreiches bereits angezweifelt hatte. Cedric wollte den Sensenmann für diese Weltordnung nicht verurteilen, denn der Tod war nur eines der Zahnräder des großen Uhrwerkes. Er verrichtete seine Arbeit nur so, wie es von einem gewissen Wesen verlangt wurde; dem Himmelsfürst.
Vielleicht waren auch die Zweifel seines Vorfahrens Viktorius von Eden nicht unbegründet.
Warum wurde strikt zwischen Gut und Böse unterschieden und wer nicht eindeutig zugeordnet werden konnte, verweilte im Zwischenreich? Das Leben bestand viel mehr aus Graustufen.
Selbst Cedric war nur ein kleines Gefüge des großen Ganzen und über das Leben sprechen konnte er nicht. "Wie würde ich denken, wenn ich ein Mensch gewesen wäre?" murmelte er und versuchte sich in Jeremy, seine Eltern oder Johannes hineinzuversetzen. Es fiel ihm schwer. Der Tod und einer seiner Gehilfen zu sein war die Normalität für ihn. Vielleicht sollte er einmal mit diesen Menschen, die nun Todeswesen waren, sprechen und dazulernen. Mit wem er auch sprechen wollte war sein Sohn Fritz. Er gab Felicia einen Abschiedskuss und machte sich dann auf dem Weg zur Erde.
Er fand Fritz in dem Terrainzimmer wieder. Sein Sohn war alleine und nur von seinen Spinnen und Reptilien umgeben. Im Schneidersitz saß er auf dem Boden und als Cedric den Raum betrat, krabbelte gerade eine Vogelspinne über Fritzs Kopf. Cedric setzte sich zu seinen Sohn auf den Boden. "Hallo Paps, wie geht es Mom?" war die erste Frage, die von Fritz kam. "Unverändert." war die kurze Antwort und Fritz senkte den Blick. Die Vogelspinne krabbelte derweil den Arm hinunter zu Fritzs offener Handfläche. Cedric wusste nicht, wie er am besten anfangen sollte und fragte dann frei heraus: "Darf ich dich etwas persönliches fragen?"
Fritz sah seinen Vater an. "Ja, natürlich. Du klingst so im Gedanken." merkte er an und Cedric nickte. "Warum wolltest du damals erst deine Lehre nicht machen?" Fritz schaute ihn kritisch an. "Du möchtest aber nicht wie-"
"Nein, ich möchte es nur verstehen." unterbrach Cedric sofort und Fritz entspannte seinen Gesichtsausdruck. "Ich hatte Angst, weil ich kein Selbstbewusstsein hatte. Der Gedanke an andere Todeswesen hat mir Sorge bereitet. Dazu habe ich nicht wirklich an meine Fähigkeiten geglaubt." die Spinne krabbelte von seiner Hand runter. Cedric nickte und erkannte sich ein Stück weit selbst wieder. Als Fritz kleiner war hat Cedric immer sein kindliches Ich in ihn gesehen. Zu Cedrics kindheitstagen war er es immer gewesen, der sich nah an seine Eltern hielt, während Henrik mehrere Meter vorauslief. Auch in der Gilde versteckte Cedric sich gerne unter dem Tisch, während Henrik jeden begrüßte, der hineinkam.
"Weiß du, als Kind glaubte ich immer, dass ich irgendwann, genau wie meine Eltern, eine Lehre in der Gilde anfangen muss. Das Erbe sozusagen fortsetzen. Insgeheim wollte ich dies nie. Ich war froh, als mein Ziehvater mir damals die Entscheidung ließ, ob ich zur Gilde mitkommen oder daheim bleiben möchte. Ich blieb dann immer daheim." erzählte Cedric und Fritz fühlte sich gut dabei zu hören, dass sein Vater auch einmal klein war und Angst hatte.
"Und Onkel Henrik ist sicher immer mitgegangen." fügte Fritz lächelnd hinzu und Cedric nickte, musste aber gleichzeitig lachen. "Ja, ist er." Er wurde wieder ruhiger. "Bedenke, dass wir damals zerstritten waren und es vermutlich nicht gut gegangen wäre. Seine Anwesenheit war für mich ein weiterer Grund, daheim zu bleiben." Fritz verstand und nickte.
Abrupt hielt Cedric inne. "Sie krabbelt auf meinem Rücken." flüsterte er und spürte die Laufbewegung der Spinne. Es erschreckte ihn nicht, aber er wollte die Spinne nicht in Auffuhr versetzen. Die Arachnida krabbelte auf seine rechte Schulter von welcher Fritz sie wieder auf seine Hand nahm und ins Terrarium setzte. "Genug Freilauf für dich heute."
Cedric erhob sich aus seiner sitzenden Position. "Ich danke dir für das kurze Gespräch." sagte er lächelnd und legte den Arm um Fritzs Schulter. "Warum wolltest du es so gerne wissen?" hakte sein Sohn genauer nach und Cedric überlegte einen Moment, weil er nicht wusste, wie er es erklären sollte. "Ich... Ich möchte die Seelengeleiter etwas verstehen lernen, die keine Tätigkeit ausrichten. Unsere letzte Diskussion und ein heutiger Vorfall haben mich dazu bewegt." Fritz verstand Cedrics Ansatzpunkt. Bevor Cedric sich von seinem Sohn verabschiedete teilte er ihn noch etwas mit. "Alexander Malu, der dich immer niedergemacht hat wird demnächst erlöst und kommt allem Anschein nach in die Hölle." Als Fritz diese Worte hörte konnte er sich schlecht zusammenreißen und fing an zu grinsen. Sarkastisch sagte er: "Das ist ja jetzt aber sehr schade." Bevor er weiter lächelte und sich über diese Nachricht freute. Cedric teilte ihm noch mit, dass er Grüße ausrichten soll, bevor er durch das Todesportal ging.