In Erinnerungen schwelgend lief Niklas mit Gamia durch das Dorf Stedeswusen. Das frühere Haus von Fritz und das von Niklas wurden seit Jahren von anderen Menschen bezogen. Das Haus von Rin wurde komplett abgerissen, aber es war bereits zu erkennen, dass dort ein neues Gebäude entstehen sollte. Das Paar hielt sich verdeckt und konnte sich unbemerkt dem Tor der Weide nähern. Ein paar Schafe und Rinder grassierten dort. "Mir fehlt es, sie zu streicheln." merkte Niklas an und beobachtete die Kuh vor ihm. "In letzter Zeit fehlt mir die menschliche Welt sehr."
Nachdenklich schaute Gamia zu ihm. Sie besuchten die Welt der Menschen seit drei Tagen täglich. Gamia begleitete ihn gerne, gelegentlich ließ sie ihn auch alleine und geleitete Seelen. Die Zeit auf der Erde war eine Wohltat für Niklas Seele.
Nach mehreren Stunden in der Menschenwelt kehrten sie zurück in ihre Wohnung. Sie legten sich alsbald schlafen.
In der Nacht wachte Niklas auf. Ein komisches Gefühl befand sich in seinem Hals. Es fühlte sich wie ein Kratzen an. Er schluckte und hoffte es dadurch loszuwerden, stattdessen überkam ihn ein lauter Husten, der nicht weggehen wollte. Dieser Husten zog sich über Minuten und ließ Gamia aufhorchen.
"Niklas! Was ist denn los?" Sie richtete sich auf und sah wie er vermehrt in den Ellbogen hustete. Das Klopfen auf seinen Rücken brachte ihn keine Hilfe. Über mehrere Minuten zog sich dieser Zustand, bis das Husten leiser wurde und gänzlich erstarb. Erschöpft ließ er sich nach hinten fallen.
"Was war das denn? Werde ich krank wie es bei den Menschen öfters der Fall ist? Hoffentlich nicht!" In all seinen Jahren war Niklas nie krank gewesen. Schlafen konnten beide nicht mehr und während Niklas entschied im Bett zu bleiben, begab sich Gamia zu ihrer Berufung des Seelengeleits. Es fiel ihr schwer die Konzentration zu wahren, da ihre Gedanken zu Niklas Hustenanfall abdrifteten. Sie machte sich Sorgen und fragte sich, was dies zu bedeuten hatte. Gamia spekulierte, dass es mit seinem Halbblutdasein zusammenhing.
Ihr letztes Seelengeleit führte sie in das Haus einer zerrütteten Familie. Der Seelenauftrag handelte von einer bösen Seele, die in die Hölle kommen soll. Es war ein älterer Herr, der an einer Lungenkrankheit versterben sollte. Gamia setzte die Sense an seinem Brustkorb an. Der Herr bekam immer wieder weniger Luft und erstickte langsam. Gamia achtete nicht auf seinen Todeskampf und fokussierte sich auf das Auflisten der Sünden. Eine seiner größten Sünden war die Misshandlung seiner Kinder, die er regelmäßig zur Bestrafung würgte. Beim nennen dieser Sünde empfand Gamia seine Todesursache für ironisch.
Bitterbösen Blickes starrte die Seele sie an und wurde zorniger, da Gamia ihm keine Aufmerksamkeit schenkte. Ein letzter lauter Husten ließ Gamia aufhorchen und an Niklas erinnern. Sie brachte die Seele in die Hölle, schloss die Akte und sah selbst beim gehen nicht einmal auf den Körper. Diese Aufmerksamkeit wollte sie diesem schlechten Menschen nicht einmal im Tode geben.
Gamia brachte der Gilde die Akten und traf auf Henrik.
"Wie geht es Niklas?" erkundigte er sich. Die frage überraschte Gamia. Sie hatte mit solch einer nicht gerechnet.
"Er hatte heute Nacht einen komischen Hustenanfall, aber es scheint ihm besser zu gehen." berichtete sie. "Ok, vielleicht wird er krank. Ich frage nur, da er und Johannes gut befreundet sind." Niklas und Johannes hatten sich nach ihrem Konflikt Tage später vertragen gehabt. Das Thema um ihre Existenz wurde allerdings totgeschwiegen. Dies ging mehr von Niklas aus, nicht darüber zu sprechen.
Gamia öffnete die Wohnungstür und rief nach Niklas. Durch seine Antwort konnte sie lokalisieren, dass er sich im Schlafzimmer befand. Sie sah ihn, wie er sich gerade aufrichtete und die Hand an seinen Nacken hielt.
"Mein Nacken fühlt sich steif an, vermutlich bin ich verspannt oder habe mich verlegen." murmelte er und drückte mit den Fingern an seiner Schulter.
"Brauchst du eine Massage?" fragte Gamia und kam auf das Bett zu. Sie legte ihre Hände an seinen Schultern.
"Gerne. Ich denke das habe ich bitter nötig." Er ließ Gamia freie Hand und sie fing an, zärtlich zu massieren. Dabei bemerkte sie selbst, wie hart sein Oberkörper war und hatte Mühen, diesen zu lockern.
Nach einer halben Stunde, wo sie schließlich das Gefühl hatte, ihn ein wenig gelockert zu haben, ließ sie von ihm ab. "Ich bekomme noch Krämpfe in meinen Fingern." scherzte sie und zog seinen Kopf zu sich. Sie gab ihn einen langen Kuss. "Trotzdem danke." murmelte Niklas und linste ihr in die Augen. Sie vertieften den Kuss noch weiter und Gamia sah ihn verliebt an. Beide waren voll und ganz in diesem Moment mit dem jeweils anderen. Für einen Augenblick vergaß sie sogar, was in der Nacht zuvor geschah.
Zur späten Stunde begleitete Gamia Niklas zur Gilde, denn dieser wollte Johannes in seiner Schicht besuchen. Dies kam Gamia gelegene. Sie nutzte dies, um ihre Mutter beim Tod zu treffen. Ihr wurde Einlass gewährt und sie sah ihre Mutter mit überschlagenen Beinen auf dem Tisch sitzen. Der Sensenmann und Justin saßen vorbildlich auf ihren Stühlen, sagten zu Ginas Verhalten auch nichts mehr. Gina sprang vom tisch, um Gamia zu begrüßen.
"Na, kommst du mich abholen? Du bist ja lieb." schmunzelte sie erfreut und Gamia berichtete, dass sie Niklas zur Gilde gebracht hatte und sich dachte, vorbeizuschauen.
"Süß. Dann lass uns gehen." Beide verließen den Raum des Todes und kamen an den beiden Herrschaften vorbei. Gina hob die Hand zum winken und stoppte in ihrer Bewegung. Lächelnd wünschte sie einen schönen Tag.
Kaum war sie mit Gamia aus der Gilde, verflog das Lächeln. Sie nahm Gamia mit zur Wohnung von ihr und Fritz. Gamia spürte, dass etwas in Ginas Verhalten nicht stimmte. In deren Wohnung stellte sich Gina ihr gegenüber hin und ihr Blick verriet eine große Sorge.
"Ist dir irgendetwas an Niklas aufgefallen?" hakte sie nach und überrumpelte Gamia.
"I-ich, also gestern hatte er mitten in der Nacht einen starken Hustenanfall. Darüber wollte ich sowieso mit dir reden." Ginas Blick wurde nicht ruhiger, sondern nervöser und das machte Gamia angst.
"Ist dir noch was aufgefallen?" hakte Gina nach. Gamia stand vor ihr, als wäre ihr Kopf wie leergefegt.
"Er war am Nacken verspannt, aber wir dachten uns nichts dabei. Er ist immer noch menschlich." Ihre Stimme wurde impulsiv.
"Genau das ist es, Gamia. Er ist ein Halbblutmensch. Menschen haben Todesdaten. Er hat keine mehr."
Gamia entglitten alle Gesichtszüge. "Wie meinst du das?" hauchte sie und spürte die Ansammlung der Tränen in ihren Augen.
"Ich sehe nicht einmal mehr ein verschwommenes Todesdatum bei ihm. Ich sehe gar nichts." Ginas Worte waren hart. Hart auszusprechen, hart zu verstehen. "Soll das heißen?" Eine Träne bahnte sich ihren Weg durch Gamias Gesicht.
"Seine menschliche Seite hat ihren Zenit überschritten."
Hätte Gamia nicht die auffangenden Arme ihrer Mutter gehabt, wäre sie auf dem Boden zusammen gebrochen. Gina setzte sie auf das Sofa. "Was bedeutet das für ihn?" Ihre Stimme war nur noch ein Schluchzen. Gina wollte Gamias Gefühle nicht weiter mit der harten Wahrheit verletzen, aber konnte ihr diese nicht vorenthalten.
"Jetzt sollte er unbedingt zu den Heilern gehen. Seine Verspannung könnte eine Form der Leichenstarre sein." Gamia schlug beide Hände auf den Mund und ließ ihre Tränen raus. Die Hände dämpften den Schall ihres Schreis ab. Ihr Oberkörper wippte vor und zurück. In diesem Zustand verweilte sie mehrere Minuten, bis sie die Hände von ihrem Mund nahm und nur laut weinte. Langsam ließ sie Gina zu einer Umarmung heran, die jedoch den tiefen Schmerz nicht ansatzweise lindern konnte.
"Wie soll ich ihm das erzählen?" Ihre Haare fielen ihr vor das Gesicht. "Er wird sich selber hassen und abstoßen."
Gamia war gebrochen.
Ihr emotionaler Zustand blieb auch Fritz nicht verborgen, der vom Seelengeleit kam und einen Schreck bekam, seine Tochter weinen zu hören. Er erkundigte sich sofort was passiert sei und Gina nahm ihn ins Schlafzimmer, um ihn darüber aufzuklären. Ihn kamen sofort selbst ein paar Tränen.
"Scheiße." Er biss sich auf die Unterlippe. Er folgte Gina ins Wohnzimmer und nahm Gamia in den Arm. Die Umarmung war lange und still. Nur Gamias Schluchzen durchbrach diese Stille. Sie verblieb eine Weile, bis sie entschloss sich der Wahrheit zu stellen. "Mom, magst du bitte mitkommen? Ich kann das nicht alleine!" bat sie leise und Gina sagte sofort zu. Fritz verblieb daheim, drückte Gamia und gab Gina einen Kuss. Er hoffte, dass Niklas Einsicht und Vernunft zeigen würde. Nachdem beide Frauen weg waren, warf er einen Blick auf die Bilderwand. Dabei entdeckte er eines von Gamia und Niklas. Beim betrachten dieses Bildes bekam er eine Idee. Er nahm das Bild von der Wand und nahm es mit an den Schreibtisch.
Mutter und Tochter betraten zusammen die Wohnung von Gamia. Sie schaute sich um, ob er schon wieder daheim war oder in der Gilde verblieben war. Sie fand Niklas auf der Couch im Wohnzimmer. Ihm fiel Gamias nasses Gesicht auf und er bemerkte ihre geschwollenen Augen. Er wollte aufstehen, aber Gamia sagte mit einer Handbewegung, sitzen zu bleiben.
"Was ist los? Ist etwas passiert? Geht es deinem Vater gut?" fragte er nervös und da Fritz fehlte, ging er davon aus, dass ihm was passiert sei. Gamia schüttelte den Kopf, setzte sich neben ihm und ergriff seine Hände. Sie wollte es sagen, aber ihre Stimme brach ab und Gina ergriff daraufhin das Wort. "Niklas, was ich dir sagen werde, ist nicht leicht zu verarbeiten, aber ich muss es tun." Er starrte sie mit geweiteten Augen an.
"Ich kann deine Todesdaten nicht mehr sehen. Gamia hat mir von deinem Hustenanfall erzählt und daraus ergibt sich folgendes; deine menschliche Seite ist gestorben."
Niklas ließ Gamias Hände los, stand auf und funkelte Gina wütend an.
"Bin ich jetzt ein Vollbluttodesengel? Eine lebende Leiche? Was soll das heißen?!" Gina blieb ruhig und stand ebenfalls auf. "Ich spüre weiterhin die Aura eines Halbblut bei dir, aber was das Ende deiner Menschenseite für dich bedeutet, wissen wir selbst nicht. Darum würden wir dich bitten, uns zu den Heilern zu begleiten." Ihre Bitte stieß auf eine Wand.
"Warum sollte ich? Ich kann doch noch gehen und wie ein verrotteter Mensch sehe ich auch nicht aus! Wozu das Ganze?" Er wurde laut und brachte Gamia mit seiner sturen Denkweise erneut zum weinen. In dem Augenblick kochte bei Gina die Wut über.
"Es reicht mir jetzt! Du willst das nur nicht, weil du große angst hast und lieber verdrängst, als dich dem zu stellen! Du bist schon immer nur weggelaufen, anstatt mal zu kämpfen!" Ihre Worte ließen Niklas verstummen. Erst nach wenigen Minuten entgegnete er zitternd:
"Du erzählst mir, ich sei zur Hälfte gestorben. Was erwartest du, wie es mir dabei gehen soll?" Er setzte sich wieder und strich über Gamias Rücken.
"Hey, ich bin doch noch da." hauchte er und zog sie an sich.
"Ja, aber für wie lange noch?" wisperte Gamia und wischte ihre Tränen weg. Dieser Satz regte Niklas zum nachdenken an. Gina ließ beide nach kurzer Zeit alleine, gab Gamia einen Stirnkuss und verabschiedete sich mit den Worten: "Ich hoffe das geht noch lange gut mit dir."