Der 18-jährige Richard war mit seiner Mutter in die nahegelegene Stadt gefahren, um dort einzukaufen. Von zeit zu Zeit taten sie dies. Die Stadt bot weiterhin mehr Auswahl und hier kannte man ihre Geschichte nicht. Meistens trennten sich ihre Wege, Tiffany kaufte ein und Richard sah sich die Stadt an. Auf dem Markt stand eine offene Kutsche. Dem restlichen Stroh nach zu urteilen, gehörte die Kutsche einem Bauern, der diesen transportierte. Richard bemerkte den jungen Mann mit den schwarzen langen Haaren, die er pfleglich zusammengebunden hatte. Er lehnte sich an die Kutsche und las ein Buch. Viel älter als Richard konnte er nicht sein und Richard entschied, ihn anzusprechen.
"Guten Tag." Damit erweckte er die Aufmerksamkeit und der Mann ließ von seinem Buch ab, blickte auf und Richard sah die silberne runde Brille, die die grünen Augen zierten. "Ich bin Richard, Richard Dronner. Was lesen Sie?" fragte er lächelnd und dein Gegenüber legte ein Lesezeichen hinein und schloss dieses, um es Richard zu zeigen. "Ein Buch über die Medizin. Gestatten, Paul Commer, zukünftiger Doktor Paul Commer." Er betonte das Doktor mit gehobenen Kinn und war sehr selbstsicher. Trotzdem schien Richard begeistert. "Wie lange lernst du schon?" hinterfragte er und dass er einfach auf das Du überging, ließ Paul eine Augenbraue heben, aber er tolerierte diese unhöfliche Geste.
"Mein Vater ist Mediziner. Ich lerne schon ein Leben lang, um irgendwann wie er zu sein, vielleicht sogar besser." Eine leichte Arroganz fand sich in seiner Stimme wieder.
"Ich mache eine Lehre im Büro, wie mein Opa." erzählte Richard munter weiter von sich und Paul nickte. "Dein Vater ist Arzt? Das finde ich bewundernswert." lobte Richard und Paul nickte. "Er hat hier seine Praxis. Ich war noch klein, als wir vom Dorf hierher zogen." erzählte Paul und Richard redete sofort weiter. "Aus dem Dorf komme ich. Meine Mutter und ich sind hier, um Lebensmittel zu besorgen. Ich bin übrigens 18. Du wirkst etwas älter." Er nahm kein Blatt vor dem Mund. "Ich bin 22. Meine Mutter ist auch gerade unterwegs. Ich wollte mir die Beine vertreten, aber auch lernen, so führte es mich hierher. Vielleicht läuft mir auch eine hübsche Lady über den Weg." meinte er ruhig, lehnte sich zurück, das Buch fest im Griff. Richard wurde hellhörig.
"Lady? Suchst du auch deine wahre Liebe?" hakte er freudig nach und Paul fand Richards Frage amüsant. "Nein, ich bin kein Vertreter der Monogamie, wahrer Liebe, Sex nach der ehe. Wir Menschen sollten dies viel entspannter sehen. Ich verachte dieses Konstrukt." Diese Ansicht fand Richard interessant. "A-also beim Sex nach der Ehe stimme ich dir zu, aber ich suche schon die Eine, mit der ich Kinder haben kann. Hast du eigentlich eine Schwester?" Paul sah Richard empört an. "Nein, habe ich nicht." entgegnete er kühl und Richard seufzte. "Und du möchtest keine Familie?" fragte Richard und Paul hob eine Augenbraue.
"Du stellst ganz schön private Fragen für jemanden, den ich wohl nie wiedersehen werde." mahnte er und Richard fühlte sich peinlich berührt. Irgendwie konnte Paul Richard auch nicht böse sein und in gewisser Weise genoss er das Gespräch. "Nein, ich möchte keine Familie. Sie würde mich nur beeinträchtigen, dazu käme die Frage, welche Frau perfekt geeignet dafür wäre, mein Kind zu bekommen. Selbst wenn ich ein Kind hätte, es müsste genauso schlau sein, wie ich und es wäre ein Traum, wenn es die Commer Arztpraxis weiterleiten würde. Ein starker junger Sohn, wobei ich eher zu einer hübschen Tochter tendiere. Ich würde ihr die schönsten Kleider schenken und sie sollte das Wissen anmutig präsentieren. Nur leider käme eine Frau in dieser Gesellschaft nicht weit. Und dass so ein Talent durch Kochtopf, Haushalt und Familie vergeudet werden würde, wäre eine Schande." Er sah Richard direkt an und hatte ihn mit seinen Worten etwas überrollt, aber Richard war trotzdem begeistert. Paul hatte den Anschein, von Richard bewundert zu werden und diese Aufmerksamkeit genoss er. Richard fand seine Worte wieder.
"Mir ist das egal! Ich wüsste nicht, wie viele Kinder ich möchte oder ob ich einen Sohn oder eine Tochter will. Hauptsache ich habe eine Familie, in der ich glücklich bin." Diesen Wunsch konnte Paul nicht nachvollziehen. Er strebte nach Karriere und Geld, Wissen und Macht, aber er nickte nur.
Tiffany fand Richard bei Paul und sie stellten sich aneinander vor. Tiffany erkannte, dass er der Sprössling vom früheren Dorfarzt war. Richard verabschiedete sich. "Ich komme mal wieder her und dann sehen wir uns sicher wieder." Erneut nickte Paul nur und wandte sich dann seinem Buch zu. "Interessante Begegnung." murmelte er und beließ es dabei. Es war ihm egal, ob man sich wieder sah oder nicht. Er konzentrierte sich wieder ganz auf das Medizinbuch.
Richard wuchs zu einem staatlichen Mann heran. Ab und zu zerrissen sich die Dorfbewohner über seine Körpergröße den Mund. Zu diesem Zeitalter war er ungewöhnlich groß gewachsen. Trotzdem schätzten sie seine Arbeit im Amt. Mittlerweile war er 28 und schon über 10 Jahre im Dienst, aber er liebte seinen Job nach wie vor. Nur mit der Liebe selbst funktionierte es nicht und das frustrierte ihn. Es war oft das Erste, worüber er sich beschwerte, wenn er seine Mutter besuchte, die er bei seinem Auszug nur schweren Herzens alleine ließ. Sein bester Freund Paul verstand Richards Problem nicht. Er bot ihn immer an, abends mitzukommen, aber Richard lehnte angewidert ab. Paul war mittlerweile als angesehener Mediziner tätigt.
Sehr zu Tiffanys Leidwesen häuften sich die Selbstmorde und die Menschen sahen ein, dass dies ebenfalls eine Form des Todes sei. Interessanterweise waren die drei Männer, die Viktorius einst zu Grabe trugen, die ersten, den dieses Schicksal widerfuhr. Die Gattin von einen der drei Männer legte sich die Schlinge um den Hals. Die Bewohner streuten Gerüchte, sie sei Opfer körperlicher Gewalt geworden. Dem Zweiten war es die Tochter, die dem Fährmann über den Styx folgte und der Dritte führte sich unter Reue selbst zu Messers Schneide. Die letzten Zwei sprachen schon voller Trunkenheit, dies sei der Fluch, der Fluch des Hängemannes.
Mit ausgelassener guter Miene betrat Richard seine Arbeit und wurde herzlich begrüßt. Er nahm seine Arbeit auf, wie jeden Tag und kannte die Bewohner fast alle bei Namen. Heute betrat allerdings eine neue Dorfbewohnerin das Bürgeramt und Richard wurde auf sie aufmerksam. Sie war für eine Frau groß gewachsen, hatte langes braunes Haar, welches zu einer aufwendigen Frisur gesteckt war und ein bordeauxrotes Kleid an. Ihrem Gesichtsausdruck zu urteilen wirkte sie nicht, als hätte sie einen guten Tag.
"Gestatten, Flavia Cezener. Ich bin mit meinem Vater neu hierher gezogen. Man hat mir gesagt, ich soll mich an Sie wenden." Richard war ganz angetan von ihrer Schönheit und sagte erst nichts, bevor er nickte. "J-ja!" Er holte die nötigen Papiere. "Der Name war?" fragte er innerlich nervös und Flavia verschränkte genervt die Arme. "Cezener, Flavia Cezener." Sie buchstabierte ihn noch einmal den Namen vor. Richard dankte und fragte noch ein paar weitere formelle Sachen, bevor sie gehen konnte. Verträumt schmachtete er ihr hinterher und würde seiner Mutter alsbald von dieser Begegnung erzählen. "Sie ist also neu um Dorf?" dachte er und wunderte sich, sie nicht vorher in der Stadt angetroffen zu haben, als er Paul besuchte. "Hauptsache Paul hatte seine Finger noch nicht bei ihr." dachte er leicht eifersüchtig, immerhin kannte Paul die Stadt besser.
Nach vollendeter Arbeit lief Richard den kurzen Weg zu seinem Haus, aber klänge von Musik ließen ihn aufhorchen. Es war ein, für seine Ohren, wundervolles, wenn auch energisches Klavierspiel, dass aus dem ersten Stock des Hauses kam. Er konnte sich der Melodie nicht widersetzen und hörte ihr bis zum Schluss zu. Am Schluss ertönte ein Geräusch, als würden mehrere Tasten auf einmal gedrückt werden und erschrocken lief Richard weiter.
"Schätzchen, was hast du?" erklang die leise, ätzende Stimme eines alten Mannes mit Krügstock, der das Zimmer betrat und zu Flavia sah, die erbost aufstand.
"Ich verachte es hier! Die Stadt war viel schöner, Vater! Die Menschen waren nicht so komisch wie die Menschen hier. Ich habe das Gefühl, alle beobachten einen." Ihre Stimme wurde zum Ende leiser, als würde jemand lauschen.
"Du gewöhnst dich dran. Es ist nett." entgegnete ihr Vater seelenruhig und Flavia seufzte. Ihr Vater setzte sich.
"Du spielst schön." lobte er und Flavia dankte ihm. "Habe eben von den Besten gelernt." meinte sie schmunzelnd und sah zu einem Familienfoto. Ihr Vater saß in jungen Jahren am Klavier, mit seiner Tochter auf dem Schoß. Ihre Mutter stand mit Violine neben ihrem Mann. "Du spielst schön." unterbrach ihr Vater ihre Gedanken und erneut dankte Flavia. In letzter Zeit bereitete es ihr Sorge, dass ihr Vater sich vermehrt wiederholte und vergesslicher wurde.
"Sie hatte schönes Haar und ein hübsches Kleid an. Sie war genervt, sicherlich vom stressigen Umzug. Du hättest sie sehen sollen." schwärmte Richard und Tiffany nickte schmunzelnd, während sie ihrem Sohn zuhörte. Sie war dies von ihm schon gewohnt. Natürlich hoffte sie immer, dass aus eine seiner Schwärmerei mehr werden würde. Sie wusste um seinen starken Wunsch nach einer Familie. "Wie geht es Berta?" fragte er nebenbei und Tiffany horchte auf. "Sie ist in letzter Zeit sehr für sich, geht in den Wald meditieren. Ich glaube sie nutzt die letzte Zeit." mutmaßte Tiffany gedankenverloren und bekam das Gefühl nicht los, dass Berta bald zum Garten Eden übertreten werde.
Berta saß im Wald und meditierte. Ihr Anliegen war persönlich, denn sie spürte selbst die Lebenskraft aus ihrem Körper schwinden. "Es ist in Ordnung, wenn du mich zu dir holen möchtest. Ich hatte ein erfülltes, glückliches Leben." sprach sie und war mit sich im reinen. Sie ist alt geworden, hatte eine Familie und konnte Menschen helfen. Sie war vollkommen zufrieden. Berta begab sich heim und genoss die letzten Stunden auf Erden.
Tiffany, Richard und Bertas Kinder waren bestürzt, als sie von ihrem Tod erfuhren. Auch das Dorf kannte ihren Namen, war sie schließlich eine der Dorfältesten gewesen.
Richard war die Tage bei seiner Mutter zu Besuch und ein Blick in den Schrank verriet Tiffany, dass sie einkaufen gehen musste, wenn sie sich und ihrem Sohn etwas warmes auf dem Tisch bieten wollte. Ihr Weg führte sie daher zum Markt und sie wollte zum Bauern gehen, doch dieser schien trotz weniger Ware gut besucht zu sein, bis Tiffany den Grund hörte. "Ich sag euch, die Ernte ist schlecht ausgefallen... scheiß Plagen sag ich euch!" rief er lautstark und die Menschen stritten sich um das letzte Gut. Tiffany war sogar der Meinung, einen schlag ins Gesicht vernommen zu haben und lief schnell weiter. Beim Metzger sah sie den Gesellen nach etwas auf dem Boden schlagen. Er kam vor den Tresen aus Holz und jetzt sah Tiffany, wonach er schlug. Sie wich zurück und konnte nur mit ansehen, wie der Ratte der Schädel eingeschlagen wurde. Angewidert verließ sie den Laden, als der Geselle sie lächelnd begrüßte. Irgendwie war der heutige Einkauf nicht erfolgreich gewesen, aber sie war froh, am Ende doch noch etwas im Laden bekommen zu haben. Sie war auf dem Heimweg, als ihr ein alter Mann vor dem Bäcker entgegen kam. "Sie haben schon gezahlt." sagte die Frau ein wenig beschämt, aber der Mann wollte ihr erneut Geld geben.
Flavia suchte bereits besorgt nach diesen Mann und war froh, ihn gefunden zu haben. "Vater, hier bist du. Wie nett, dass du Brot holst." Peinlich berührt löste sie das Gespräch und lief mit ihrem Vater in der Hand heim.