"Ich werde alt. Jetzt brauche ich schon eine Brille." seufzte Sarah und setzte ihre schmale, rechteckige Brille auf. Heather sah Sarah schmunzelnd an. "Sehe ich dadurch noch intelligenter aus?" fragte sie und Heather korrigierte: "Du siehst mal intelligent aus." Fassungslos starrte Sarah Heather an und öffnete leicht den Mund. Dabei sah man ihre gelben Zähne und ein Kaffeeatem war zu riechen. Sie fuhr sich durch ihr dünnes, längliches Haar, als würde sie zeigen, wie schön sie ist.
"Intelligenz und Alter hin oder her, für die Männer sind wir immer noch begehrenswert. Ich war letztens auf einer Feier und hatte eine Liebelei mit einen, der 10 Jahre jünger war." Sie sah Heathers Augenrollen.
"Ich weiß, das ist nicht dein Thema. Zugegeben er war auch nicht sonderlich gut. Der Beste war wirklich noch Johannes." Mit abgestützten Kopf seufzte sie. "Dank ihm bin ich überhaupt noch hier und konnte feiern gehen." murmelte sie vor sich her, aber Heather verstand jedes Wort.
"Glaubst du mittlerweile doch, dass er ein Todeswesen ist?" Auf ihre Frage bekam Heather keine wirkliche Antwort. Stattdessen lenkte sie das Thema ab.
"Für dich müssen wir auch noch wem finden." merkte sie an und lehnte sich im Bürostuhl zurück.
"Ich muss nichts. Ich darf. Wenn es nicht sein soll, ist das so. Vielleicht finde ich meine große Liebe auch in einer Frau." Heather verschränkte leicht die Arme und Sarah hob beide Augenbrauen.
"Wusste nicht, dass du auch Frauen magst." Heather zuckte mit den Schultern.
"Das war nur so vor sich hergesagt. Manchmal frage ich mich, ob ich mehr hätte suchen sollen. Eigentlich wollte ich Kinder haben."
"Darüber haben wir mal gesprochen." erwähnte Sarah und wandte sich ihren PC zu.
"Ach eine andere Frau zur Partnerin ist schon nett. Stelle ich mir zumindest praktisch vor. Du musst keine Angst haben, schwanger zu werden, zum Beispiel." Bei ihrer Aussage rollte Heather erneute die Augen.
"Ich hätte schon gerne wem gehabt, aber ich bin auch nicht davon abhängig." meinte Heather abschließend und verließ das Büro der Chefin.
Heather lief rüber zum Laden der Bäckerei. Ihr kam die Verkäuferin entgegen, die einen Vogel aus dem Geschäft verscheuchte. Sie seufzte, als dieser endlich draußen war. Sie grüßte Heather, welche sich zwei Laugenstangen mitnahm. Beide hielten einen kleinen Plausch, der von einen Kunden durchbrochen wurde. Heather ging und die bebrillte Verkäuferin wandte sich dem Kunden zu, der den Laden betrat. Es war Liam, der einige Backwaren und zwei Kaffee mitnahm.
"Mein Mann und ich fahren zu unserer Tochter. Sie liegt im Krankenhaus." erzählte er beiläufig und die Verkäuferin nickte aufmerksam. "Das ist nicht schön." murmelte sie unsicher und verabschiedete Liam.
Liam und Torben waren mit dem Auto nach Lerbin gefahren und bezogen ein Hotelzimmer für die nächsten Tage. Sie besuchten Vicky im Krankenhaus, die mit gebrochenen Bein im Krankenbett lag. Ihr Vater umarmten sie so vorsichtig wie möglich. "In diesem Zustand wollte ich euch ungerne wiedersehen." merkte Vicky verärgert an. Liam reichte ihr zwei dicke Bücher aus einem Rucksack.
"Oh danke. Damit kann ich die Zeit hier totschlagen." Sie legte diese vorerst zur Seite.
"Wir sind froh, dass dir nichts schlimmeres passiert ist. Wir waren geschockt, als wir die Nachricht bekamen." erzählte ihr Vater.
"Zum Glück hatte ich mein Handy in der Hosentasche."
"Und was wird jetzt aus dem, der dich gestoßen hat?" hakte Torben erzürnt nach und Vicky berichtete ihm. "Ich habe bei der Arbeit angerufen wegen dem, was passiert ist. Dort wurde mir berichtet, er sei gestorben, bei einem Wildunfall. Das nenne ich Rache von Mutter Natur." Ihre Väter hörten ihr zu.
"Muss es nicht ein furchtbarer Schock gewesen sein. Du hättest sterben können. Wir hätten uns vorher nicht noch mal gesehen." merkte Liam besorgt an und strich über ihre Schulter. Vicky senkte den Kopf.
"Mein Beruf verlangt nun mal viel Zeit von mir ab." Sie sah in die Gesichter ihrer Väter. "Wenn mein Bein nicht mehr gebrochen ist, versuche ich mir öfters oder einmal im Monat mindestens, frei zu nehmen, versprochen." seufzte sie und ihre Eltern waren erleichtert, dass sie zur Besinnung gekommen war. Beide umarmten sie vorsichtig und Vicky gab beschämt zu: "Ihr habt Recht. Es kann plötzlich vorbei sein und dann bereut man. Das möchte ich nicht."
Gamia lief in dem Krankenhaus umher und betrat das Zimmer einer älteren Frau mit vielen Gebrechen. Arthrose, neue Hüfte, Osteoporose. Man hatte viele Operationen an ihr durchgeführt, um ihre Lebensqualität zu erhalten. Nun war der Moment gekommen, ihre Seele zu geleiten. Gamia holte die Akte hervor und setzte die Sense am Brustkorb an. Die Seele teilte ihr mit, wie froh sie sei, den gebrechlichen Körper hinter sich lassen zu können. Sie dankte Gamia und brachte sie somit zum lächeln. Dies war Gamias letztes Seelengeleit und sie brachte den kleinen Stapel Akten zur Gilde. Daheim warteten ihre Eltern bereits, die sich am späten Abend zum Seelengeleit begeben wollten. Gamia setzte sich zu ihnen auf die Couch.
"Kam Niklas vorbei?" fragte sie ohne Erwartungen und Fritz schüttelte den Kopf. Er saß auf der Couch mit seinem Zeichenblock.
"Ich habe ihn aber den ganzen Tag aufm Feld Traktor fahren sehen." ergänzte er und Gamia nickte nur. Seit Tagen herrschte schweigen zwischen dem Paar.
"Meinst du nicht es wäre eine Option, ihn anzusprechen und es zu klären?" fragte Fritz mit besorgten Blick, aber Gamia lehnte ab. "Nein. Warum soll ich auf ihn zukommen? Er meinte, die Beziehung sei ein Fehler, da soll er auch selber drüber nachdenken und sich entschuldigen. Ich laufe da nicht hinterher. Vielleicht war es für ihn auch die Trennung, als er dies zu mir sagte." Sie lehnte sich an die Couch und verschränkte die Arme. Gina schmiegte sich an Fritz und blickte auf die unfertige Zeichnung eines Sensenmannes. "Ich verstehe sie. Er hat es verbockt. Er musst es auch wieder richten. Wärst du damals nicht auf mich zugekommen, hätte es sich nach dem Konflikt damals auch erledigt." Gina strich über sein Haar.
"Ich weiß nicht. Ich mag Konflikte nicht. Manchmal muss man nachgeben und den ersten Schritt zur Versöhnung tätigen." meinte Fritz und zeichnete weiter. Gamia und ihre Mutter sahen sich an.
"In diesem Fall soll er mal merken, was er verbockt hat." meinte Gamia negativ gestimmt und hörte ihren Vater bedenklich seufzen.
"Was seine Eltern wohl davon halten würden?" fragte sich Gamia und setzte sich aufrecht hin. Im Schneidersitz saß sie auf der Couch und schaute zu Gina. "Ich habe eine Idee! Kannst du mich in den Garten Eden bringen? Zu seinen Eltern?" Gina überlegte.
"Kann ich machen. Möchtest du jetzt dorthin?" Gamia nickte ohne großartig nachzudenken. Beide standen auf und Gina zückte ihre Sense. Fritz sah beide lächelnd an und es erfreute ihn, dass Gamia Niklas nicht vollständig abgeschrieben hat.
"Bis später, hab dich lieb." verabschiedete sich Gina von Fritz und brachte Gamia in den Garten Eden.
Es war als würde Gamia den Hof auf Erden betreten, aber dem war nicht so. Sie stand vor einem Garten mit einer Sitzbank und auf dieser erblickte sie Niklas Eltern. "Ich hole dich später ab. Ich werde die Zeit hier bei Mutter Natur verbringen." erklärte Gina und ließ Gamia alleine zu Niklas Eltern gehen. Elaine und Frank bemerkten Gamia auf sie zulaufen. "Guten Tag." begrüßte sie beide und Eliane entgegnete: "Irgendwie hätten wir dich zusammen mit Niklas erwartet." Gamia setzte sich ihnen gegenüber. "Ja, das wünschte ich auch, aber dem ist nicht so." Beide bemerkten, dass Gamia keine guten Nachrichten mitbrachte. Sie berichtete ihnen von dem Gespräch mit Niklas und Eliane hielt erschrocken die Hand vor dem Mund.
"Ach herrje." entfuhr es ihr. Frank ergriff ihre andere Hand.
"Er konnte schon immer ein wenig stur sein." gestand Eliane, während Gamia nur entgegnete: "Langsam sollte er doch wissen, dass er sich keine Gedanken machen muss, weil er ein Halbblut ist. Ich bin doch selber ein Halbblut."
An Elianes zerknirschten Gesichtsausdruck sah Gamia bereits, dass sie eine andere Meinung vertrat.
"Du kannst nicht wissen, wie es wirklich in seinen Inneren aussieht. Zudem gibt es Unterschiede zwischen einem Halbblut, der halb Mensch und Todesengel ist und einem Halbblut, der Todesengel, wie auch Sensenmann ist. Du bist unsterblich. Niklas wird immer etwas sterbliches an sich haben. Er lebt in diesen Körper." Sie strich sich ihre Haare aus dem Gesicht. Frank ergriff das Wort.
"Ich habe Niklas erlebt, bevor er dich kennengelernt hat. Er wusste, dass er länger lebt wie die anderen Menschen und wollte nicht mit ansehen, wie seine Freunde sterben. Selbst zu den Dorfbewohnern hielt er nur sporadisch Kontakt." Gamia nickte und erinnerte sich an ihre erste Zeit im Dorf.
"Das macht es nicht besser, wie er sich verhalten hat. Ich möchte auch nicht nachgeben. Er soll selbst merken, was er verhauen hat." In ihrer Tonlage schwang Wut mit. "Manchmal muss man nachgeben, so schwer es einen fällt. Ich habe auch einige Male meinen stolz runtergeschluckt." Ihre und Franks Hand umfassten sich fester.
"Ich verstehe seine Gedankengänge nicht. Menschen sehen doch auch mit an, wie Geliebte sterben und freunden sich trotzdem an." gestand Gamia und Eliane nickte, bevor sie entgegnete: "Menschen wissen um ihre begrenzte Lebenszeit. Niklas weiß nicht, wie lange er leben wird und über Jahrhunderte zig Tode mitzuerleben, zermürbt einen. Menschen können schon am Ende sein, wenn nur eine Person aus ihrem Umfeld stirbt. Stell dir vor, du siehst hunderte deiner Liebsten zu Grabe steigen. Du verschließt dich aus Selbstschutz vor dem Schmerz. Es ist nicht so, dass Menschen die Tode einfach wegstecken. Du wirst es an Niklas selbst gesehen haben."
Augenblicklich erinnerte Gamia sich an Franks Tod und an das Gefühl, was sie empfunden hat. Sie versuchte sich vorzustellen, dies immer und immer wieder spüren zu müssen. Sie versuchte sich vorzustellen, nicht mehr mit ihren Vater Karten spielen zu können oder sich nie mehr mit ihrer Mutter unterhalten zu können. Langsam verstand Gamia, was Niklas zermürbte. Sie stand auf und blickte zu seinen Eltern.
"Ich danke euch für eure Aufmerksamkeit. Ich werde heimgehen und mit Niklas reden." Auf Elianes Lippen zeichnete sich ein Lächeln ab. "Gerne. Das nächste Mal besucht uns gerne zu zweit."
Beide winkten ihr zum Abschied und Gamia lief in den Garten Eden.
Gina saß Mutter Natur gegenüber. Auf Mutter Naturs Schulter saß ein kleiner Engel. "Ich gebe den kleinen Engeln ihre Hüllen, die sie gehabt hätten. Ein paar wundervolle Menschen hier kümmern sich um die kleinen Geschöpfe." erzählte sie und streichelte mit den Finger über den kleinen Kopf des Engels. Gina beobachtete Mutter Natur, bis sie Gamia bemerkte.
"Meine Tochter möchte zurück. Es war schön bei dir." bedankte sich Gina und stand auf. Sie ergriff ihre Sense und Mutter Natur sah zu Gina.
"Grüß Gevatter Tod von mir." bat sie und Gina nickte.
Kurz darauf kehrten Gamia und Gina auf die Erde zurück.
"Danke, dass du mich hingebracht hast. Es hat mir geholfen, mit ihnen zu sprechen." bedankte sich Gamia in der Wohnstube bei ihrer Mutter, während sie sich auf das Sofa setzte.
"Gern geschehen." Sie setzte sich ebenfalls und warf dann ein: "Wo ist eigentlich dein Vater?"
Fritz stand neben dem Traktor von Niklas auf dem Feld und sprach mit Niklas.
"Sich aus dem Weg zu gehen löst auch keine Konflikte." merkte Fritz an und beobachtete Niklas dabei, wie er den Traktor nach Auffälligkeiten inspizierte.
"Sag das auch mal deiner Tochter, Fritzie." gab er gestochen scharf zurück. "Außerdem, warum mischt du dich ein ein? Lass uns das alleine klären. Wollen sich als nächstes auch noch meine Eltern oder Gamias Großeltern einmischen? Wir sind Erwachsene." Er stieg auf dem Traktor.
"Lass mich jetzt bitte meine Arbeit machen. Ich weiß, du meinst es gut, aber dein einmischen macht es nicht besser." Niklas startete den Motor und ließ Fritz auf dem Feld stehen.
Fritz ging nicht dagegen an und kehrte zurück zum Haus, wo seine Familie ihn erwartete. Er berichtete von seinem Gespräch mit Niklas. "Das hättest du nicht tun müssen, aber ich danke dir, Dad. Ich war heute im Garten Eden und habe mit seinen Eltern gesprochen. Ich schlafe noch eine Nacht drüber und werde ihn morgen darauf ansprechen."
Ihre Gedanken waren bereits bei dem kommenden Gespräch, aber trotz allem ging sie ihrer Tätigkeit im Totenreich nach. Ihr erstes Seelengeleit führte sie in eine Unterkunft für Kriegsflüchtlinge. Eine Krankheit breitete sich unter diesen aus, aber die medizinische Versorgung stockte und ein kleines Kind erlag der Erkrankung. Gamia vernahm die anderen Flüchtlinge husten, keuchen und schniefen. Hierher würde es die Tage mehrere Seelengeleiter verschlagen, dachte Gamia und beobachtete die Menschen um sich herum. Diese Menschen mussten alles zurücklassen und hatten nur, was sie bei sich trugen. Gamia dachte an sich und ihre Familie. Irgendwann würden sie die Erde verlassen müssen. Im Gegensatz zu den Menschen konnten sie mit allem ins Totenreich. Die Menschen konnten dies nicht. Sie realisierte, was für ein Privileg dies war, welches sie zu schätzen wusste.
Gamia zwar sah aus wie ein Mensch und hatte menschliche Vorfahren, aber sie unterschied sich von diesen. Ihr kam Niklas in den Sinn, welcher zwischen beiden Welten stand und sie realisierte, was für ein Laster auf ihn lag.
Gamia verließ die Unterkunft und betrat die Gilde im Totenreich. Sie lief die Treppen hinauf und erblickte Johannes. Sie gab ihm die Akte und starrte ihn dabei inspiriert an. Johannes sah sie fragend an.
"Starr bitte nicht so auf meine Todesdaten." riss er sie schließlich aus den Gedanken und Gamia entschuldigte sich.
"Sorry, das wollte ich nicht. Mir kam nur ein Gedanke. Darf ich dich fragen wie es dir als Halbblut ergeht?" Johannes schaute sie irritiert an, aber beantwortete ihre Frage.
"Ich lebe damit. Es hat Vor- und Nachteile. Ich kann Sachen die Menschen nicht können, aber mir wird diese Welt auch mal zu viel."
"Und gehst du Beziehungen ein? In jeglicher Art?" hakte Gamia nach und Johannes hob beide Augenbrauen.
"Ich halte mich bedeckt, sowohl zu Menschen und Todeswesen, aber ich würde einer festen Beziehung eine Chance geben. Das letzte Mal als ich einer Menschenfrau eine Chance gab, stieß ich mit meinen Sein leider auf Ablehnung. Nichtsdestotrotz würde ich es wieder versuchen. Es gibt genug, die mich akzeptieren würden." erklärte er ihr locker und Gamia bewunderte sein Selbstwertgefühl.
"Danke dir!" Sie wollte Niklas und Johannes nicht miteinander vergleichen. Ihr tat es gut von einem anderen Halbblut zu hören, wie dies für ihn war.