Smeralda erkannte die Umgebung im Himmel wieder. Es war ein modern eingerichtetes Wohnzimmer. Ihre Augen schweiften über das Wohnzimmer, bis diese an einer Frau mit braunem Haar hängen blieben. Die Frau trug mittellanges, glattes Haar und einen Seitenscheitel. Ihr Wollpullover war grau und hochwertiger Schmuck zierte ihren Körper. Smeralda erkannte diese Frau wieder und auch ihr Gegenüber erblickte sie.
"Mutter..." wisperte Smeralda und ungläubig nahm sie ihre Mutter in den Arm. "Ich habe nach meinem Tod solange auf dich gewartet, es war furchtbar." flüsterte ihre Mutter und beide konnten die Umarmung kaum voneinander lösen, bis Smeralda ein Platz auf der Couch angeboten wurde. Beide wischten sich ihre Tränen weg und Smeralda guckte ihre Mutter schüchtern lächelnd an. Sie war von dem Wiedersehen überwältigt und hatte nicht mit diesem gerechnet. Schließlich erzählte ihre Mutter, welche eine goldene Namenskette trug, auf welcher Amina stand, von der Zeit nach Smeraldas Tod.
"Es war eine grausame Zeit, als die Lehrer anriefen und uns erzählten, dass du auf der Klassenfahrt verschwunden seist. Meine Welt ist zusammengebrochen, als sie mir berichteten, dass sie dich tot aufgefunden hätten. Anfangs gingen die Ermittler von einem Unfall aus, zu viel getrunken, verlaufen und die Klippe nicht gesehen. Deine früheren Mitschüler sagten jedoch aus, dass du kaum was hattest und ehrlicherweise erzählte mir ein Junge, dass er dich abgewiesen habe, er wusste nichts von deinen Gefühlen und erfuhr von Mitschülern von deiner Schwärmerei. Aber ich konnte nicht glauben, dass du dich deshalb umbringen würdest, bis die Autopsie all die Wunden der häuslichen Gewalt fand und ich die grausige Wahrheit über die Missetaten deines Erzeugers erfuhr. Wir ließen uns auf der Stelle scheiden und er bekam eine Strafe, doch das brachte mir dir nicht zurück. Ich hatte so Schuldgefühle, dass ich dir mehr Aufmerksamkeit hätte geben müssen, dass ich es bemerken hätte müssen und gab mir teils die Schuld an diesem Umstand." Amina senkte den Kopf und erst jetzt wurde Smeralda der Umstand ihres Selbstmordes bewusst. Sie ergriff die Hände ihrer Mom.
"Dich betrifft keine Schuld. Vaters Taten haben mich dazu verleitet und mich diese Entscheidung treffen lassen. Ich war damals emotional am Ende, habe nicht mit klaren Verstand gedacht." Auch sie senkte den Kopf und Tränen stiegen erneut in sie hoch. "Ich bin nur glücklich, dass du jetzt wieder da bist. Es war ein Schock, als ich starb und der Himmelsfürst erzählte, dass ich dich gerade nicht sehen könne, da du im Zwischenreich seist und ich den Tag deiner Erlösung abwarten müsse. Es brach mir das Herz, aber nun darf ich dich endlich wieder in meinen Armen halten." Mutter und Tochter kamen zu einer Umarmung zusammen, bevor sie sich wieder setzten und Smeralda den Mut zusammen nahm, um ihr vom Totenreich zu berichten. "Es war anfangs beängstigend. Auch die Tatsache, mich als junge Frau zu sehen. Ich habe dort meine Arbeit verrichtet, Seelen geleitet und bevorstehende Todesfälle niedergeschrieben. Ich war dort ziemlich schüchtern und ängstlich." erklärte sie und krallte sich an ihre Hose, als ihre Mutter entgegnete: "Es ist ungewohnt, dich so erwachsen zu sehen. Ich hab dich immer noch als 16-jähriges Mädchen vor Augen." Beide schmunzelten darüber und Smeralda wurde nervös bei dem Gedanken, ihr von ihrer Familie zu erzählen.
"Ich... ich habe in der Totenwelt auch jemanden kennengelernt. Er heißt Henrik und.... wir haben eine Tochter namens Alma zusammen."
Sie wartete die Reaktion ihrer Mutter ab. "Ich bin Oma? Wie sieht sie aus? Wie alt ist sie?" hakte sie begeistert nach und Smeralda strich durch ihr Haar. "Sie ist 43 und sieht ihrem Vater sehr ähnlich." Daraufhin beschrieb sie ihre Tochter, aber ließ die Tatsache außen vor, dass sie eine Zeit lang alleinerziehend war. "Sie hat zudem das handwerkliche Geschick ihres Opas geerbt." lobte Smeralda und schwärmte von ihrer Familie.
"Ich würde sie gerne einmal kennenlernen."
Henrik und Alma waren nur noch zu zweit. Henrik hatte Smeraldas Asche in ein Gefäß verwahrt und diese auf das Regal neben den Bildern gestellt und konnte nicht glauben, dass dies eben noch Smeralda gewesen war, welcher er einen Kuss gegeben hatte. Vater und Tochter saßen gemeinsam auf der Wohnzimmercouch und tranken den Wein leer. Henrik blickte zu Smeraldas Glas, aus welchem sie zuvor noch getrunken hatte. Er überlegte, ihre restlichen Hinterlassenschaften sicher in einem Karton aufzubewahren, als Erinnerung. "Es wird sicher noch ungewohnt ohne sie." seufzte er leicht angetrunken und unterhielt sich lobend mit seiner Tochter über Smeralda. "Ist es in Ordnung, wenn ich heute hier schlafe?" fragte Alma und Henrik gab sofort sein Einverständnis. "Natürlich! Immer doch! Ich würde dann wieder auf dem Sofa schlafen." Seine Tochter dankte ihm und umarmte ihn, bevor sie ins Bett ging.
Beide schliefen nicht besonders lange und tief. Ihre Gedanken kreisten noch um Smeraldas Erlösung herum und so fiel beiden das Einschlafen schwer.
Am nächsten Morgen beschloss Henrik wieder zur Gilde zu gehen, wartete bis Alma wach wurde und wünschte ihr einen guten Morgen. Noch im Gedanken an gestern, wünschte sie ihm das auch und verabschiedete sich dann, um Heim zu gehen, damit sie sich für die Arbeit schick machen konnte. Henrik tat dies ebenfalls, nachdem Alma gegangen war und lief dann, nach einem letzten Blick zu den Familienfotos, zur Gilde.
In der Gilde traf er auf Herr Serptes, welcher es vermied, Henrik auf die Erlösung seiner Frau anzusprechen. "Sie dürfen Feierabend machen, ich übernehme die Schicht." meinte Henrik ruhig und zeigte seinem Kollegen eine gewisse Dankbarkeit. Herr Serptes machte mit Henrik eine kurze, schnelle Übergabe und lief dann zur Gildentür, um diese zu verlassen. Henrik wollte erst nach einem Wein greifen, aber als er die Flasche sah, verging ihm die Lust und stumm arbeitete er an seinen Akten. Er war Besuchern der Gilde gegenüber freundlich, auch wenn ihm ausnahmsweise nicht nach sozialen Kontakten war. Er vertiefte sich in seine Akten, als ein kleiner Aktenstapel, der auf dem Tisch gelegt wurde, ihn aus dem Gedanken riss. Henrik schaute auf und sah Cedric vor sich.
"Dass du hier bist bedeutet..." sagte Cedric leise und Henrik brauchte nur zu nicken, um seinen Verdacht zu bestätigen. Daraufhin setzte Cedric sich. "Wie empfindest du gerade?" erkundigte er sich ruhig. "Beschissen... entschuldige. Ich muss das erstmal verarbeiten und es ist ungewohnt, nicht mehr neben ihr aufzuwachen. Es wird sicher seine Zeit dauern, bis ich damit leben kann." antwortete Henrik ehrlich und sah sich in der Gilde um, ob jemand in der Nähe war. "Sie ist in den Himmel gekommen, oder?" Henrik nickte. "Es war schön. Wir haben Wein getrunken, Fotos geschossen und bevor sie erlöst wurde, gab ich ihr einen letzten Kuss. Es war eine emotionale und wundervolle Erlösung." Seine Stimme wurde leiser, er senkte den Kopf und behielt seine Emotionen für sich. Sein Bruder merkte dies jedoch. "Wenn du deine Gefühle rauslassen möchtest, tue das. Es befreit und unterdrücken macht es schlimmer. Wenn mir nach Weinen zumute ist, weine ich. Das ist weder schwach oder erbärmlich, es ist wahre Stärke." merkte Cedric an und Henrik verstand seinen Rat. In der Gilde, wo jederzeit wer hineinkommen konnte, fiel es ihm aber noch schwer. "Wenn sie in den Himmel gekommen ist, habt ihr die Möglichkeit, euch zu sehen. Du kannst zu ihr, sie zu dir. Wie es bei unseren Eltern der Fall ist. Sie ist nicht für immer komplett aus dem Leben geschieden." erwähnte Cedric mitfühlend und umfasste Henriks Schulter. "Du hast Recht, ich werde sie weiterhin in meine Arme schließen und sie küssen können, nur nicht mehr so oft." Zum Ende seufzte er und trotz dieser Tatsache, fiel es ihm trotzdem schwer, was ihn allerdings kaum einer verübeln konnte. Er wusste, dass sie nicht für immer weg und noch existierte, nur nicht mehr als Todeswesen, wie er es gewohnt war.
"Wenn du Ablenkung brauchst oder eine Person, die dir zuhört, komm gerne vorbei." bot Cedric lächelnd an und Henrik dankte seinem Zwillingsbruder für das Mitgefühl. Cedric stand auf und verabschiedete sich, lief aus der Gilde und suchte das Büro seiner Frau auf.
Er klopfte kurz und öffnete bereits die Tür, ohne dass sie hereinbitten konnte. Felicia lächelte, legte die Feder zur Seite und blickte zu ihm. Auf ihrem Schreibtisch stand ein Familienfoto, welches sie sich gerne anguckte. Ihr Gatte stellte sich neben sie und beugte sich zu einem Kuss hinunter. "Ich war gerade bei meinem Bruder in der Gilde. Seine Partnerin wurde erlöst und ich habe ihn angeboten, dass er vorbeikommen darf." berichtete er ihr und Felicia nickte. "Du erwähntest ja bereits, dass sie erlöst werden soll. Er ist natürlich immer willkommen. Ihre Erlösung ging wirklich schnell." merkte sie an, drehte sich zu ihm und stützte ihren Kopf mit dem Handballen ab. Ihre Beine waren überkreuzt. Cedric strich über ihr Haar und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.
"Ich finde es schön, dass ihr wieder so ein gutes Verhältnis zueinander habt. Es freut mich jedes Mal, wenn ich euch zusammen sehe." merkte sie schmunzelnd an und Cedric gab ihr Recht. Ihm war selbst aufgefallen, dass er innerlich ruhiger geworden war, seit dem zwischen ihm und Henrik kein Streit mehr herrschte.
"Wie wäre es, wenn wir uns wieder alle einmal treffen und Henrik, wie auch seine Tochter einladen? Wir könnten uns bei Frederic treffen." schlug Felicia freudenstrahlend vor und nach einer kurzen Überlegung stimmte Cedric zu. "Ich werde Henrik davon erzählen." sagte er lächelnd und hoffte seinen Bruder demnächst in der Gilde anzutreffen, ansonsten würde er sich an Alma wenden oder einen Sensenmanngeist mit Brief schicken. Er fand die Vorstellung schön, dass die Familie wieder zusammen kommen wollte.
Frederic war in einem Krankenhaus und stand an der Seite eines älteren Herrn. Dieser war krank und erholte sich nicht von dieser Krankheit. Er setzte die Sense am Körper des Mannes an und listete die Tugenden auf, welche im Gegensatz zu den Sünden weniger waren. "Sünde; Vergewaltigung eines jungen Mädchens nach einer Feier." listete Frederic unteranderem auf und öffnete das Tor zur Hölle. Gierige, lustvolle Dämonen ergriffen die Seele des Mannes und stöhnten, als sie ihn in die Hölle zerren konnten. Frederic schloss die Akte und blickte im Flur auf all die anderen Wesen, die hier zusammen kamen.
Plötzlich stockte er, als er einen Sensenmanngeist erblickte, welcher einen Brief dabei hatte. Er nahm diesen und las von dem Vorschlag des Familientreffens. Beim lesen lächelte er und ihm gefiel diese Idee. Er mochte die geselligen Runden, wenn alle zusammen kamen. Kurzerhand sagte er der Idee zu und schickte den Sensenmanngeist zurück zu Felicia, damit dieser die Nachricht mitteilen konnte.
Zwei Tage waren seit Smeraldas Erlösung vergangen. Henrik und Alma saßen zusammen in der Gilde und genehmigten sich ein Glas Wein. Langsam nippten sie an diesen und blickten gedankenverloren durch den Raum. "Es ist ungewohnt ohne sie." merkte Henrik seufzend an und seine Tochter stimmte ihm zu. "Ich hoffe, es geht ihr gut im Himmel." murmelte Alma und spielte an dem Weinglasboden rum. In den letzten zwei Tagen war Alma ihren Vater in der Gilde besuchen gegangen und heute hatten sie sich zum ersten Mal wieder zu einem Wein entschlossen, allerdings mundete dieser nicht wie sonst. Ihre Gedanken wurden unterbrochen, als ein Sensenmanngeist mit einem Brief vor ihnen erschien. Henrik wurde neugierig und nahm den Brief entgegen. Er öffnete diesen und las ihn sich durch, bevor er zu Alma blickte und erzählte: "Wir sind bei meinem Neffen zum Familientreffen eingeladen."
Alma schaute von ihrem Glas auf, ließ sich dies durch den Kopf gehen und antwortete:
"Wir hatten lange kein Familientreffen mehr. Lass uns hingehen, könnte uns ganz gut tun." Ein Lächeln schlich sich auf ihre Lippen und Henrik mochte die Idee ebenfalls. Kurzerhand sagte Henrik dem Treffen zu und schickte den Sensenmanngeist samt Brief zurück.