Die Treffen und die Gespräche hatten beiden Energie gekostet und darum besuchte Tiffany ihn am dritten Tag nicht. Es war Viktorius egal, ob sie kam oder nicht. An dem Tag wo sie allerdings den Besuch ausließ, kamen negative Gedanken in ihn hoch. "Sie kommt nicht wieder. Sie hat gemerkt, was du für eine komische Gestalt bist, so wie die Bewohner es sagen." dachte er seufzend und legte sich in das Bett. Er nahm sich vor, später noch auf den Markt zu gehen und einzukaufen, gerade mochte er allerdings nicht.
Tiffany brauchte die Ruhe ebenfalls für sich und kümmerte sich um das im Haushalt, was die Tage liegen geblieben war. Irgendwie wollte sie nach Viktorius sehen, aber sie brauchte die Zeit für sich und hoffte, dass es ihm gut ging. Im Laufe des Tages fand Viktorius die Motivation, sich eine Liste zu schreiben, um anschließend einkaufen zu gehen. Brot hatte er noch daheim und einen neuen Teigling hat er nicht geschafft, zuzubereiten, sonst wäre er zum Bäcker seines Vertrauens gegangen. Er hatte das Gefühl, der Bäcker war der Einzige, der ihn unvoreingenommen behandelte. Mit seinem Stoffbeutel in der Hand lief er auf dem Markt und kam zuerst zum Metzger.
Den Metzger mochte er am wenigsten. Dieser fand immer eine Möglichkeit, Viktorius zu blamieren. Seit geraumer Zeit hatte er einen schwarzhaarigen Lehrling. Viktorius war froh, wenn er da war, dann erging er der Blamage.
Zu seinem Pech standen heute zufällig beide in der Metzgerei. Dem Lehrling wurde etwas erklärt und der Meister sah nur Viktorius. Zynisch meinte er: "Bediene ihn schnell, bevor seine ganzen Haare in dem Fleisch sind." Damit ließ er den Auszubildenden mit Viktorius alleine. Schnell bestellte er und lief wieder aus dem Laden. Er hielt inne beim Stand eines örtlichen Bauern. Ein blonder Mann, nahe 30, mit einer Zigarette in der Hand. Seine Kleidung hatte Löcher und er sah Viktorius an. "Naa? Alles frische Ernte, sag ich dir." erzählte der Bauer, wirkte jedoch nicht seriös. Viktorius vertraute ihm trotzdem. Er wusste, dass der Bauer noch bei seiner Mutter mit seinem Bruder lebte und sie den Hof zusammen führten. Viktorius nahm einen Sack Kartoffeln und entlohnte den Landwirt. Sein letzter Weg führte ihm zum Laden einer Frau Mitte 40, die Eingelegtes oder selbstgemachte Marmelade verkaufte. Sie erkannte Viktorius, ihr Haus war in seiner Nähe und sie hatte ihn zuvor aus dem Fenster beobachtet. Er nahm sich drei Lebensmittel und bezahlte, den missachtenden Blick von ihr war er bereits gewohnt, doch heute hatte sie etwas drohendes in ihren Augen.
Kurz darauf gab sie auch kund, was sie die ganze Zeit im Kopf hatte. "Ich habe Tiffany bei dir gesehen. Sie ist eine gute Frau mit traurigen Schicksal. Keine Ahnung, was ihr bei dir treibt, aber halte dich fern von ihr! Du würdest sie nur mit in dein drecksloch ziehen, das hat sie nicht verdient." warnte sie ihn und Viktorius zuckte bei dieser Aussage zusammen. Er fühlte sich ungerecht behandelt, aber dagegen sagen konnte er nichts.
"Verstanden?" hakte die Frau nach und Viktorius nickte einfach nur, verließ den Laden und kehrte Heim.
Der Wind wehte durch die Bäume und Berta nahm einen tiefen Atemzug. Ihre nackten Füße liefen durch den Rasen des Waldes und sie nahm all die Sinneseindrücke auf. Sie kam zu einer Lichtung, an der sie oft war und setzte sich im Schneidersitz hin. Berta schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Achtsamkeit des Waldes. Tief holte sie Luft und atmete diese wieder aus.
"Mutter Natur..." hauchte sie und fühlte einen Windzug aufkommen. Sie lächelte und wusste, dass Mutter Natur da war. Es war ihr nicht möglich, sie zu sehen, aber ein grünes Licht tauchte vor ihr auf, welches sich als weibliche Person mit langen, braunen gewellten Haar in einem grünen Kleid manifestierte. Ihre Augen strahlten in einem hellen grün.
"Mutter Natur, bitte erzähl mir, was tut sich in der Welt, im Universum?" fragte Berta ruhig, weiterhin im Schneidersitz sitzend. Mutter Natur saß ihr gegenüber. "Die Energien sind konstant." antwortete sie in einer sanften Stimmlage und Berta lächelte, als sie dies vernahm. Mutter Natur spürte Bertas Schwingungen und erkundigte sich nach ihrem Geschöpf. "Was lastet deiner Seele?" Mutter Natur konnte keiner belügen. Sie spürte und wusste alles. Tief atmete Berta aus.
"Tiffany Dronner... Ich habe Sorge um sie, dass sie sich im dunklen verirrt und das Licht nicht mehr findet. Sie möchte jemanden helfen, der in der Dunkelheit gefangen ist. Ich helfe ihr, wo ich kann, habe ihr mitgeteilt, dass sie aufpassen soll..." erzählte Berta ruhig mit einem besorgten Unterton. Mutter Natur strich über Bertas Hände. "Stütze sie und lass sie ihren Weg gehen, es ist der Richtige." hauchte sie und legte eine Hand auf Bertas Stirn. Berta hatte das Gefühl, zu verstehen und dankte Mutter Natur für das Gespräch. Mutter Natur verschwand und für einen Moment lauschte Berta noch dem Wald, bevor sie den Heimweg antrat.
Tiffany und Viktorius fanden sich zusammen in seinem Haus wieder. Er hatte ihr nichts von seinem Erlebnis beim einkaufen erzählt. Im Hinterkopf hatte er die Angst, dass Tiffany gesehen wurde und er sich beim nächsten Mal wieder Warnungen anhören durfte oder er, schlimmer noch, verprügelt werden würde.
"Wir können uns auch mal bei mir treffen." schlug sie vor, doch Viktorius lehnte sofort ab. "N-nein... hier ist absolut okay.. N-nichts gegen dein Haus." stammelte er und es war ihm unangenehm, wie er sich ausgedrückt hatte. In ihm herrschte nur die Sorge, gesehen werden zu können. Außerdem war sein Haus seine sichere Umgebung. Tiffany verstand ihn und nickte. "Kein Problem." murmelte sie und war sich auch bewusst, dass er Zeit brauchte, um Vertrauen zu fassen.
Während des gemeinsamen Kochens fragte Tiffany ihn: "Möchtest du etwas Geld dafür haben oder soll ich beim nächsten Mal was mitbringen? Du musst nicht alles aus eigener Hand bezahlen." Sie bekam sonst ein schlechtes Gewissen, aber Viktorius versicherte ihr, dass es in Ordnung sei. Er war froh, dass jemand ohne Abscheu bei ihm war. Während er die Kartoffeln köcheln ließ musterte Tiffany seine langen, krausen Haare, die leicht fettig waren.
"Viktorius, entschuldige bitte, ich möchte dir nicht zu nahe treten, aber wollen wir dir nach dem Essen deine Haare schneiden?" Er drehte sich zu ihr und stockte. Sein Mund war leicht geöffnet, aber er war sprachlos, unwissend, wie er darauf reagieren sollte. "Ich weiß, wir kennen uns nicht lange und dann irgendwie deine Haare schneiden zu wollen...." murmelte sie beschämt und Viktorius lief ohne ein Wort zu sagen aus der Küche. In Tiffany kam die Sorge auf, dass sie ihn verletzt hatte, doch er kam mit zwei Scheren wieder. "Mutter hat mir sonst immer die Haare geschnitten. Mich nerven sie auch, aber ich wollte nicht zum Barbier. Fühl dich frei, sie zu schneiden." gab er sein Einverständnis und wusste, dass seine Haare dringend Pflege brauchten. Nach dem Essen setzte Viktorius sich auf einem Stuhl und Tiffany ergriff die Scheren und einen Kamm. Sie war nervös. "Ich kann nur ein paar grobe Schnitte, die ich mir selber beigebracht habe. Ich versuche mich nicht zu verschneiden." erklärte sie, aber das war ihm egal. "Hauptsache sie sind wieder nur schulterlang." meinte er ruhig und Tiffany tätigte die ersten Schnitte.
Sie brauchte ihre Zeit, war dafür am Ende aber zufrieden und wartete Viktorius Reaktion ab. Auf dem Boden lagen viele schwarze Haare. Er stand auf und musterte seine Frisur. Er fühlte sich wieder ein wenig wie vor einem Jahr.
"Danke." gab er leise von sich und zauberte Tiffany ein Lächeln damit auf das Gesicht. "Seit Mutter verstarb habe ich es nicht mehr schaffen können, mir die Haare zu schneiden." Er nahm sich einen Besen und fegte die Haare zusammen. "Ich räume das auf, danke." Damit setzte Tiffany sich an den Tisch. "Wie lange ist deine Mutter schon tot?" fragte sie leise. "Über ein Jahr ist es her. Mein Vater ist schon Jahre zuvor gestorben, da war ich 21." erzählte er nebenbei und Tiffany nickte. "Wann hast du Geburtstag?" Diese Frage hatte sie ihm noch nicht gestellt, nur wie alt er war.
"Am 26.9.... und du?" Ein kleines Lächeln huschte über seine Lippen. "Am 10.12, ich bin ein Winterkind." antwortete sie schmunzelnd und Viktorius schmiss die Haare in den Müll. Danach gesellte er sich zu Tiffany zurück. "Du erzähltest dein Vater sei kürzlich gestorben.. Du hast mir noch nichts von deiner Mutter erzählt." erkundigte er sich und traf einen wunden Punkt bei Tiffany. "Ähm... ich ich möchte darüber noch nicht reden." gestand sie ängstlich und Viktorius tat es leid, sie dies gefragt zu haben. Sie versicherte ihm, dass alles gut sei. "Wir reden ein anderes Mal darüber, einverstanden?" Mit einem Lächeln, was zeigen sollte, dass alles okay war, blickte sie ihn an und Viktorius nickte. Er wollte die Stimmung nicht verderben und zum Abschied ergriff sie seine Hand. "Bis die Tage." Glücklich trat sie aus dem Haus und auch Viktorius verspürte etwas wie Glück. Er fuhr durch die Haare und bekam die Motivation dafür, sich zu duschen. Ein stolzes Gefühl überkam ihn, als er das Wasser spürte und sich seit geraumer Zeit wieder wusch.
Die Frage von Viktorius zu ihrer Mutter brachten Tiffany in eine Gedankenspirale. In ihr kamen Erinnerungen an ihre Kindheit hoch und im Bett hielt sie sich die Ohren zu, hatte sie das Gefühl, ohrenbetäubende Schreie zu hören. Das Einschlafen fiel ihr schwer und sie zündete eine Kerze an, da sie angst vor der Dunkelheit bekam, wenn es ihr nicht gut ging.
Am nächsten Morgen wollte sie nicht aus dem Bett steigen und das blieb bis zum Nachmittag so. Sie hasste diese Phasen, wusste aber auch, dass sie oft vorübergingen. Nur dauerten sie mal länger, mal waren sie kürzer. Nachmittags klopfte es an der Holztür, welche auch geöffnet wurde und Tiffany wusste, dass es Berta war.
"Hallo Tiffany." rief sie durch das Haus und begab sich zum Schlafzimmer. Tiffany blickte Berta schon mitgenommen entgegen. "Hallo..." murmelte sie und Berta setzte sich zu ihr an das Bett. "Ich habe gespürt, dass es dir nicht gut ging. Bestätigt wurde mein Gefühl, als ein Vogel nicht von meiner Fensterbank weichen wollte, bis ich zur Tür raus bin." Sie faltete die Hände zusammen und Tiffany lächelte. "Du bist wirklich... bewundernswert." hauchte sie, aber Berta winkte ab und kam direkt auf Tiffany zu sprechen. "Was beschäftigt dich?" Tiffany drehte sich zur Seite, auf der Berta saß.
"Man hat mich nach meiner Mutter gefragt..." Damit war alles gesagt und Berta wusste Bescheid. Es war nicht das erste Mal, dass sie über Tiffanys Mutter sprachen.
"Delia war eine wunderbare Frau, auch wenn ich sie erst kennengelernt habe, weshalb ich auch zu euch gestoßen bin, als ihre Hülle schon angefangen hat, sich selber zu zerstören.", erzählte Berta und Tiffany wollte das am liebsten nicht hören. "Ich habe damals schon gespürt, dass sie eigentlich ein toller Mensch ist, aber die Differenzen zwischen ihrer Seele und ihrem Körper waren zu groß, weshalb sie nachher so war, wie sie war." Tiffany blickte zur Wand und dann zu Berta. "Du umschreibst es sehr schön." murmelte sie und rückte die Decke zurecht. "Ich weiß, dass sie es nicht so meinte, aber was damals alles passiert ist... Ich war noch klein, jünger. Ich konnte das gar nicht begreifen oder verstehen. Meine einzigen Gedanken damals waren, was mit Mama los war und das ich funktionieren musste, mich um den Haushalt kümmern." Tränen liefen Tiffanys Gesicht hinunter auf das Kissen und Berta strich ihr liebevoll über die Schulter. "Du hast viel zu früh Dinge machen müssen, die kein Kind hätte tun sollen." hauchte Berta und fühlte mit ihr mit. Kurz darauf griff Berta nach etwas in ihrer Kleidertasche. Es war eine lila Pflanze. "Das ist eine Lavendel. Sue wirkt sehr beruhigend. Du kannst sie als Tee aufgießen. Ich werde dir einen machen." erzählte Berta ruhig und nickend stimmte Tiffany zu. "Ich sag ja, bewundernswert. Woher weiß du das immer?" fragte Tiffany neugierig. Berta war schon aufgestanden. "Ich antworte dir gleich. Ich werde dir erst den Tee zubereiten." Tiffany richtete sich auf und wartete, dass Berta wiederkam. Es dauerte einen kleinen Moment und Berta stellte den Tee vorerst zur Seite. Sie setzte sich wieder zu Tiffany auf das Bett.
Schließlich fand Berta eine gute Antwort, um es Tiffany zu erklären. "Mutter Natur spricht zu uns. Sie teilt uns dieses Wissen mit, damit wir anderen Menschen damit helfen können. Sie nennt uns Venefica. Durch uns spricht sie mit der Welt, die sie geschaffen hat." Tiffany war von ihrer Erzählung angetan. Berta wusste, dass andere sie für verrückt erklären oder ihr nicht glauben würden, darum erzählte sie es nur Auserwählten. In Tiffany kam auch keine Angst hoch, weder hielt sie Berta für ein komisches Wesen. "So wie der Himmelsfürst durch den Pastor spricht, tut Mutter Natur es durch uns Venefica. Nur halten wir uns mehr im verborgenen." Der Tee war mittlerweile zum trinken geeignet und Tiffany nahm dankend einen Schluck.
"Ich glaube daran, dass es zwei Arten der Venefica gibt. Die guten Venefica, die ihre Kraft aus Mutter Natur schöpfen, kräuterbewandert sind, Naturheilkunde vollziehen und die bösen Venefica, die ihre Kräfte aus dem Höllenfürst beziehen, Flüche aussprechen, Voodoo betreiben. Alles hat zwei Seiten und koexistiert miteinander. So auch das Licht und die Dunkelheit." Die Erzählung lenkte Tiffany von ihren Gedanken ab. Munter trank sie weiter den Tee und spürte eine innere Ruhe einkehren.
"Wenn du magst können wir nachher meditieren." schlug Berta vor und brachte Tiffany damit auf eine Idee. Sie dachte darüber nach, mit Viktorius meditieren zu gehen. "Danke, mir ist aber mehr danach, ruhig liegen zu bleiben." lehnte sie lächelnd ab und Berta verstand ihre Entscheidung. Als sie sicher gehen konnte, Tiffany alleine zu lassen, verabschiedete sie sich von ihr und kehrte zurück zum kleinen Haus.