Je mehr Zeit in den Garten Eden zog, desto mehr fand sich Niklas dort wohl. Er und Gamia sahen sich regelmäßig in der Woche. Sie ging in den Garten Eden ein und aus, wie zur Menschenwelt, um Seelen zu geleiten.
Mit ihrer Sense betrat sie die Erde. Ein Ort, den sie nur noch aufgrund ihrer Berufung aufsuchte. Persönlich führte sie nichts mehr hierher. Die Erde hatte ihren Reiz verloren. Ihr Onkel, welcher großer Liebhaber der Erde war, fühlte sich selbst im Totenreich wohler.
Ihr Weg führte sie zu einer großen Eigentumswohnung, die lichtdurchflutet war, voller großer Fenster und mit wenig Möbeln eingerichtet. Was auffällig war, waren die vielen Pflanzen, wie einer Monstera im Wohnzimmer. Ebenso vielen die Runen an den Wänden, wie Algiz und Edelsteine auf den Möbel auf. Sei es der große Amethyst auf der Kommode, der Selenit-Stab nahe der Tür oder der schwarze Turmalin auf einen Nachtschrank. Gamia verblieb im Wohnzimmer, wartete, bis sich ein Portal vor ihr auftat und Mutter Natur hindurchtrat. Sie grüßte Gamia mit einer leichten Verneigung. „Wartest du schon lange?“ Fragte sie, aber Gamia schüttelte den Kopf. Mutter Natur nickte. „Danke, dass du mich an dem Seelengeleit teilhaben lässt.“ Beide liefen in das Schlafzimmer und blickten auf den Körper von Vicky, der ruhig vor ihnen im Bett lag. Ihr rotes Haar wurde langsam grau. Falten zeichneten sich an ihrer Stirn ab. Gamias Sense berührte Vickys Brustkorb und Mutter Natur umfasste den Sensenstab, um mit Vicky, einer ihrer Venefica, in Kontakt zu treten. Gamia übernahm die Formalitäten, während Mutter Natur mit Vicky sprach.
„Ich danke dir für deinen Glauben an mich.“ Vicky hörte die wohltuende herzliche Stimme von Mutter Natur. „Ich wusste, dass es dich gibt.“, hauchte sie. „Wenn dies nur die Anderen verstehen würden.“
„Du musst andere nicht von mir überzeugen. Es ist ihre freie Entscheidung, an das zu glauben, woran sie möchten. Zwinge niemanden deine Meinung auf.“ Wären diese Worte von einem anderen Menschen gesagt worden, hätte Vicky dagegen argumentiert. Diese Worte jedoch kamen von Mutter Natur persönlich und Vicky sprach keine Widerworte. Sie hörte diese Worte, nahm sie auf und verstand. Im Hintergrund vernahm sie Gamias Stimme.
„Gestorben am 22.1.1757.“ Vicky realisierte, warum Mutter Natur da war. Statt Traurigkeit verspürte sie nur eine Leichtigkeit. Sie war bereit, mit Mutter Natur in den Garten Eden zu gehen. Das Licht zu ihrem neuen Zuhause tat sich auf. Der Ort, an dem ihre Väter bereits auf sie warteten. Sie nahm Mutter Naturs Hand, folgte ihr mit einem Lächeln im Gesicht. „Ich bin dir dankbar für das, was du für die Erde getan hast.“ Sprach Mutter Natur und diese Worte erfüllten Vicky wie gleißendes Licht. „Ich würde es immer wieder tun.“ Sie kamen dem Portal zum Naturparadies näher, fühlte eine große innere Zufriedenheit. Vicky trauerte nicht um ihr Leben und war bereit für das, was auf sie zukommen würde.
Die wohltuenden Energien des Garten Edens empfingen Vicky. Ihre Augen weiteten sich beim Anblick der Schönheit des Gartens. Mutter Natur hatte immer noch ihre Hand in der ihrer, lächelte und sagte dann: „Willkommen im Garten Eden.“
Der Garten Eden wurde ein nahbarer Himmel für alle. Nicht nur die Venefica konnten mit Mutter Natur sprechen, mit ihr zusammen meditieren, Mutter Natur war zugänglich für jeden einzelnen im Garten Eden. Sie stand mit Rat und Tat zur Seite, begleitete die Seelen, wenn sie einen Besuch auf der Erde bei ihren liebsten tätigten. Immer mehr wurde der Garten Eden zu dem Himmel, den Mutter Natur ihren Seelen immer bieten wollte.
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13.10.1763
Der 50.te Hochzeitstag von Mikel und Musuko. Beide saßen auf der Couch, zwei Kelche mit dem Symbol des Lebensbaum zierte diese. Vor ihnen stand eine Packung Ziegenmilch, Desinfektionsmittel, Verbandszeug und ein Messer. Zwei Stumpenkerzen zierten den Tisch. Eine Stumpenkerze erleuchtete das Bild von Heather.
„Heather fehlt. Der Kuchen fehlt.“ Bei seinem zweiten Satz schmunzelte Musuko. „Der Supermarktkuchen bringt es nicht, aber was soll man machen, wenn die Krachten Bäckerei dicht machen musste?“ Seufzte er und blickte zu einer angebrochenen Packung Kekse. „Nachdem sie weg war, ist da alles den Back runtergegangen.“ Er griff nach einen der Kekse und verleibte sich diesen ein.
„Denkst du, sie schaut jetzt zu uns?“ Fragte er seinen geliebten Mikel, welcher nickte. „Sicher. Bestimmt sitzt sie gerade neben Mutter Natur und unterhält sich mit ihr.“ Mikel nahm die Ziegenmilch und schüttete sie beiden in die Kelche. Dann nahm er das Messer.
„Wollen wir?“
Mit absoluter Vorsicht schnitt sich Mikel in den Finger, während Musuko einen schnellen Schnitt machte. Das Blut ließen sie eine Weile in die Kelche tropfen, bevor sie die Wunde desinfizierten und verbanden. Sie hoben den Kelch mit dem Blut des jeweils anderen an.
„Musuko, möchtest du mit mir die Blutverbindung eingehen?“ Sanftmütig fragte Mikel. Musuko nickte. „Ja, ich will. Mikel, möchtest du mit mir die Blutverbindung eingehen?“ Wiederholte Musuko die Frage an seinen Geliebten.
„Ja, ich will.“
Daraufhin tranken sie das Blut des jeweils anderen, gemischt mit Ziegenmilch bis zum letzten Tropfen. Lächelnd sahen sie sich an. An Musukos Mundwinkel lief ein Tropfen Ziegenmilch entlang, welchen er belustigt wegwischte.
„Mir fiele nicht ein, was wir besseres an diesen Tag hätten machen können, außer ein Blutritual.“ Verliebt blickten sich beide an. Die Gesichter bereits von Falten durchzogen, aber sie sahen purer Schönheit in jeder einzelnen. „Ich liebe dich.“ Ihre Lippen vereinigten sich zu einem Kuss.
„Ich bin so glücklich dich zu haben, mein ein und alles.“ Hauchte Musuko und nahm Mikel in den Arm. Ihre Finger, mittlerweile dünn und die Hand von Flecken übersät, verflochten sich miteinander. „Bis zum Ende möchte ich bei dir bleiben.“ Er legte einen Arm um Mikel, strich über seine Schulter und genoss es, mit ihm auf der Couch Arm in Arm zu sein.
Heather blickte von einem kleinen See auf ihre beiden Freunde und verdrückte eine Freudenträne und eine Trauerträne. Freude darüber, ihre Freunde glücklich miteinander zu sehen, traurig darüber, diesen Moment nicht mit ihnen persönlich teilen zu können. Trotzdem wusste sie, dass all dies ein temporärer Zustand ist. Sie würden sich wiedersehen. Früher oder später.
Mikel lag einige Zeit stumm in Musukos Armen, bevor er den Mund zum Reden öffnete. „Weiß du, worüber ich froh bin?“
„Hm?“
„Dass wir das Ende der Welt nicht miterleben werden, wenn Mutter Natur sich richtig anfängt, zu erholen.“ Seine Stimme war leise, fast nur ein Hauchen. Musuko ließ seine Worte einen Moment im Raum stehen, dachte über diese nach.
„Ja, es wird Zeit, dass sie sich von alledem erholt.“ Seine Finger fuhren durch Mikels grau gewordenes Haar. „Es ist mir egal, ob wir dann tot oder lebendig sein werden. Wo wir sein werden. Hauptsache, wir werden zusammen sein.“ Diese zarten Worte entlockten Mikel eine kleine Freudenträne. Er kuschelte sich noch näher an Musuko heran. „Egal wo und wie, ich möchte bei dir sein.“
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Cedric eilte auf Geheiß des Sensenmannes zur Obrigkeit und betrat den Raum des Todes. Er saß alleine auf seinem hölzernen Stuhl und begrüßte Cedric. Dabei erhob er sich aus seiner sitzenden Position und trat zu Cedric hinunter.
„Cedric, mein Lieber. Ich habe dich aus einen Grund hergebeten. Es ist nichts Großes, trotzdem wollte ich dir dies persönlich mitteilen.“ Er legte kurz seine Knochenhände auf Cedrics Schultern und ließ dann von ihm ab. Cedric nickte. „Jawohl. Dies wäre?“
„Ich entlasse dich aus deiner Pflicht des Henkers.“
Cedric nickte.
„Wie dir sicherlich nicht entgangen zu sein scheint, ist die Anzahl derer, die gerichtet werden sollten, zurückgegangen. Die Todeswesen werden merklich weniger. Darum möchte ich dir diese Bürde dieser Berufung abnehmen. Zukünftige Sträflinge werden des Endes durch meine eigene Hand erfahren.“
„Verstehe.“
Eindringlich musterte der Sensenmann Cedric. „Ich danke dir für deine Dienste und dass du diese Last auf dich genommen hast. Mir ist durchaus bewusst, was ich all die Jahrhunderte von dir abverlangt habe.“ Erneut legte er seine Knochenhände auf Cedrics Schultern nieder.
„Es war mir eine Ehre, euch dienlich gewesen sein zu dürfen.“ Erwiderte Cedric und entlockte dem Knochenmann ein kleines Schmunzeln.
„Nicht so förmlich, mein lieber Cedric.“ Er bewegte sich zurück zu seinem Sitz.
„Dies war bereits alles. Genieße die Zeit.“ Verabschiedete sich Gevatter Tod und entließ Cedric.
Die Jahre fortan kam es zu keinen weiteren Hinrichtungen mehr.