Im Totenreich war heute, am 14.6.1694, für einige Todeswesen ein besonderer Tag, denn heute fand das erste Seelengeleit für die neuen, zukünftigen Todeswesen statt. Die Lehrlinge, darunter auch Marius Hinel, hatten ihre Akten bereits bekommen und warteten nun den Todeszeitpunkt des jeweiligen Menschen ab. Auf Marius lastete der Druck dieser Prüfung und er musste sich an das neue Leben in der Totenwelt gewöhnen. Er hatte sich in der Lehre vermehrt die verschiedenen Bereiche durch den Kopf gehen lassen und über diese gelernt, um all dies zu verstehen. Zwischen Theorie und Praxis gab es allerdings einen großen Unterschied.
Marius blickte auf die Akte und zuckte zusammen, als er die Sterbezeit der zu geleitenden Seele sah. Diese war in wenigen Minuten und Marius war spät dran! Er wurde nervös und öffnete hektisch ein Flügelportal zur Erde, durch welches er sprintete.
Die zu geleitende Seele war ein alter, gutherziger Mann, der in seiner kleinen Wohnung versterben sollte. Schwarze Nebelschwaden schwebten in der Wohnung um den Körper umher, als Marius eintraf. Er weitete die Augen. "Nein, nein!" fluchte er und lief zum Körper, um das Seelengeleit zu beginnen, bis ein Flügelschlag ihn vom Körper wegschlug und er zurückwich. Marius sah mit an, wie sich eine Kreatur, ein Dämon mit zerschundenen, zerrissenen Fledermausflügeln vor dem Körper aufbaute, um sich dessen Seele einzuverleiben. Eigentlich dürfte dies bei dem ersten Seelengeleit nicht geschehen, wusste Marius und stockte bei den Gedanken, dass der Dämon nur erschienen ist, weil er nicht rechtzeitig war. Er erstarrte jedoch auch bei der Erscheinung dieser dunklen Höllengestalt.
Ein weiteres Todesportal tat sich auf und Marius erblickte die Sense eines weißhaarigen Todeswesens, welcher geradeaus auf den Dämon zuging und diese durch den Dämon stach. Ein ohrenbetäubender hoher Schrei des Höllenwesens war zu hören und Marius hielt sich die Ohren zu, während er mit ansah, wie der Dämon verschwand, mit ihm auch die Nebelschwaden und das Todeswesen vor ihm geleitete die Seele in den Himmel. Marius erkannte an der Akte, dass dieses Seelengeleit als abgeschlossen galt und nachdem die Seele geleitet wurde, wandte sich der Seelengeleiter an Marius.
"Mein Name ist Justin Cheriko. Dies war Ihr erstes Seelengeleit?" stellte er sich vor und schaute Marius ernst an. Nervös nickte Marius.
"Sie sind durchgefallen. Bitte wenden Sie sich an Ihren Lehrmeister. Er wird weitere Vorkehrungen mit Ihnen besprechen." Ohne jede Emotion sprach Justin diese Worte aus und verschwand daraufhin mit der Akte zurück in die Totenwelt.
Marius senkte den Kopf und fiel auf die Knie. Justins Worte hallten immer wieder in seinem Kopf. "Sie sind durchgefallen."
"Sie sind durchgefallen, Herr Hinel." las Marius immer wieder in dem Brief, bevor er diese Worte überhaupt erst realisieren konnte.
"Es ist wie mit meinem Studium... Nicht einmal zu einer Ausbildung bin ich im Stande. Ich bin ein Versager, sogar im Tode." redete er sich unter Tränen ein und legte seine von Tränen getränkte Brille ab. "Ich werde niemals etwas erreichen und mein restliches Totenleben sinnlos verweilen. Ich kann gar nichts!"
Das Gefühl der Wertlosigkeit und des Versagens kamen in ihn hoch. "All die Mühen waren umsonst, für etwas, was ich sowieso nie werde erreichen können!" Mit gesenkten Kopf verweilte er auf dem Boden, immer wieder gequält von den Gedanken, dass er durchgefallen ist.
Das Todesportal öffnete sich und Justin betrat den Raum des Sensenmann. Sicher verwahrte er die Akte und begab sich dann zu seinem Platz neben dem Tod. Henrik betrat den Raum, um weitere Akten abzugeben und Neue mitzunehmen. Er lief zurück zur Gilde und neben seinem Platz saß Alma, die Beine überkreuzt. Sie wartete, bis ihr Vater sich setzte. "Die neuen Seelengeleiter haben heute auch ihre Sensen bekommen." erwähnte sie und Henrik nickte, während er die Feder mit seiner linken Hand umfasste. Alma blickte nochmal durch die Gilde, bevor sie aufstand. "Dann werde ich mal wieder zu den Scythe Makern gehen. Heute ist ein langer Tag." verabschiedete sie sich, drückte Henrik und lief die Treppe hinunter.
Alma legte sich ihre Schürze bei den Scythe Makern um und wartete einen Moment, bis ihr Lehrling Amelia die Tür betrat. Fertig umgezogen liefen sie zur Drechselbank und Alma bat ihren Lehrling, einen Holzstab anzufertigen. "Ich stehe für Fragen und Antworten immer zur Verfügung." erklärte Alma, bevor sie ging, um an ihren Sensen weiterzuarbeiten. Amelia nahm sich einen Holzstab und nahm diesen mit zur Drechselbank. Sie verbrachte die nächste Zeit mit der Anfertigung ihres Stabes. Sie fragte Alma in der Zeit nicht nach Rat und fertigte den ersten Teil der Sense an, wie sie es für richtig hielt. Amelia war mit sich selbst zufrieden und suchte Alma, damit sie ihr Werk präsentieren konnte.
Alma war ein wenig verwundert, dass ihr Lehrling bereits fertig war und blickte unbegeistert zur Drechselbank. Den Holzstab beachtete sie vorerst nicht, denn ihr war was anderes, nicht erfreuliches, in das Auge gefallen. "Sie können froh sein, dass dies keine Prüfung war, denn wäre dies so gewesen, wären sie nun durchgefallen." erwähnte Alma und irritiert schaute Amelia zu ihrer Lehrmeisterin. Sie vermutete, dass ihr Holzstab wohl nicht gut genug geworden sei, bis Alma sie aufklärte.
"Der Arbeitsplatz ist nach Benutzung zu reinigen."
Amelia schaute ihre Lehrmeisterin unverständlich an. "Und deshalb würde man direkt durchfallen? Lächerlich und ungerecht! Das kann doch der Nächste, der sie benutzen will sauber machen." meinte Amelia und lehnte sich dabei Alma gegenüber auf, welche zweimal über die Aussage ihrer Auszubildenden nachdenken musste.
"Entschuldige, aber das gehört sich nicht. Sie würden doch auch nicht erst den Dreck von jemand anderes weg machen wollen, oder?" Amelia verstummte und bekam von Alma nur noch einen Besen. "Ihre Arbeit schaue ich mir genauer an, sobald Sie die Arbeitsfläche gereinigt haben." Damit kehrte Alma Amelia den Rücken zu. Mit knirschenden Zähnen umfasste Amelia den Feger und befreite die Drechselbank von Holzspähne. Wenig später holte sie ihre Lehrmeisterin erneut, welche die Sauberkeit des Arbeitsplatzes nur abnickte und wandte sich dann dem handgefertigten Holzstab von Amelia zu.
"Hier und hier ist er zu unförmig." erklärte sie und verwies mit ihren Finger auf zwei Stellen im Holz. Amelia nickte nur und nahm den Holzstab zur Hand. In der Zwischenzeit fertigte Alma eine Sense an und kam dabei mit Sibylle in Kontakt. "Leider sind nicht alle Lehrlinge ordentlich." merkte Sibylle schnippisch an und ihr war als Leiterin der Schmiedeabteilung nicht entgangen, dass Amelia nicht einfach zu händeln war und was sich heute ereignet hatte.
"Es ist nicht das erste Mal, dass sowas passiert, aber ich bekomme das mit Ihr schon zurecht. Im schlimmsten Fall fliegt sie eben aus der Lehre." entgegnete Alma gelassen und wollte sich gerade einer anderen Tätigkeit zuwidmen, bis Sibylle sie aufhielt und fragte: "Reden wir privat darüber. Wenn Sie möchten kommen Sie heute Abend vorbei und sprechen uns bei einem Glas Wein aus, verstanden?" Alma dachte kurz über das Angebot nach, hatte sie schonmal bei Sibylle daheim mit ihr einen Plausch gehabt. Sie nickte und sagte zu.
Am Abend klopfte Alma bei Sibylle und wurde hineingebeten. Sibylle hatte bereits einen Wein und Gläser hervorgeholt. Sie bat Alma Platz zu nehmen und füllte sich für beiden ein Glas ein, davon überreichte sie eines Alma. "Es erfreut mich immer sehr, mich mit einer kompetenten Kollegin wie Ihnen zu unterhalten." lobte Sibylle und Alma nickte nur dankend. Sie war kein großer Anhänger davon, wie Sibylle lobte, doch so kannte sie die Abteilungsleiterin.
"Ich möchte ehrlich etwas mit Ihnen besprechen, Frau Corenzola." erwähnte Sibylle und Alma wurde bei diesen Worten hellhörig. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit an die Abteilungsleiterin. "Ich möchte nicht lange drum herum reden und Ihnen direkt sagen, warum ich sie hergebeten habe." fing Sibylle ruhig an und nippte an ihrem Glas. "Ich werde demnächst erlöst und möchte Ihnen die Leitung der Schmiedeabteilung in die Hand geben."
Alma wollte gerade einen Schluck nehmen und stockte dann, um sich die gesagten Worte immer wieder durch den Kopf gehen zu lassen. Es überraschte sie, aber auch die Freude überkam sie über dieses Angebot, dass Sibylle ihr diese wichtige Stellung anvertrauen würde. Sie war sprachlos. "Ich habe Sie einst angelernt und Sie sind eine Meisterin in ihren Fach. Abgesehen von mir selbst würde ich Ihnen die Abteilung anvertrauen." Das freudige Lächeln von Alma ließ sich nicht länger verbergen, aber sie behielt die Fassung. "Ich danke Ihnen vielmals, dass Sie mir dies anvertrauen und ich werde die Abteilung selbstverständlich weiterführen." Sibylle erhob ihr Glas.
"Diese Antwort habe ich erwartet." Damit stießen beide Frauen an.
"Wissen Sie, ich bin nun schon mehrere Jahrhunderte in diesem Totenreich, dementsprechend sind auch meine Erfahrungswerte. Ich weiß noch, warum ich hierher kam." fing Sibylle ruhig zu erzählen an und es faszinierte Alma immer wieder, wenn Sibylle etwas über sich preisgab.
"Ich wollte damals, im zweiten Zeitalter der Menschen, mich nicht einer fragwürdigen Gesellschaft anschließen oder mich einem Mann unterstellen. Ich wurde als Kind oft mit Schlägen bestraft, da ich mich queer stellte, aufmüpfig war und sie nicht wollten, dass ich mich handwerklich beschäftige, Männerberuf, sagte Mutter. Ich habe irgendwann einen Mann geheiratet und einen Sohn bekommen, aber beide waren kaum zu was nutze. Ging etwas im Hause kaputt, meinte mein Gatte, er repariert dies, doch war dabei unfassbar geschickt, dass ich es heimlich selbst machte. Leider hatte mein Sohn seine Talentlosigkeit von ihm geerbt und war handwerklich ungeschickt. Irgendwann hat es mich so genervt, dass ich ihn einen Nagel in den Finger geschlagen habe."
Alma stockte und hob eine Augenbraue. Sie glaubte Sibylle, aber ihre Tat schockte sich doch auf eine gewisse Art und Weise. "Im Nachhinein war es nicht wirklich die richtige Option und ich war ihnen, bis zu meinem natürlichen Tode, wohl keine gute Mutter und definitiv keine gute Ehefrau. Ich möchte nicht leugnen, dass es von meiner Seite aus auch oft zu häuslicher Gewalt kam." Diese ehrlichen Sätze zu hören erschraken Alma nicht mehr und nach ihrer vorherigen Erzählung konnte sie sich dies bei Sibylle gut vorstellen.
"Ich werde der Scythe Maker Abteilung morgen bekannt geben, dass sie in meine Fußstapfen treten werden. Wer weiß, wie lange ich noch sein werde." Dabei lachte sie leicht über sich selbst und Alma fiel ein, dass sie ihren Eltern die frohe Botschaft alsbald mitteilen wollte. Sie wollte den morgigen Tag abwarten und es ihren Eltern dann bei einem feierlichen Glas Wein erzählen. In ihr nährte sich ein stolzes Gefühl, dass ihre frühere Lehrmeisterin ihr die Abteilung anvertraute.
Beide Frauen tranken noch ein Glas zusammen, bis sie sich voneinander verabschiedeten. Alma kehrte still zu ihrer Wohnung zurück. Es war ihr damals nicht leicht gefallen, auszuziehen, aber als sie dann Gewissheit hatte, dass ihre Eltern zusammen zogen, beruhigte sie dies.
Alma und Sibylle traten am nächsten Tag gemeinsam den Arbeitsweg an und als beide umgezogen waren, lief Sibylle zur Mitte des Raumes, klatschte einmal lautstark in die Hände, womit sie die Aufmerksamkeit der Arbeiter erhielt.
"Ich möchte etwas verkünden!" rief Sibylle mit ihrer forschen Stimme und neigte den Kopf leicht nach oben. Die Mitarbeiter unterbrachen ihre Arbeit und richteten ihr Augenmerk auf Sibylle und Alma, welche neben ihr stand.
"Ich werde von meinem Posten als Abteilungsleiterin zurücktreten. Ich habe bereits einen Nachfolger auserkoren. Frau Alma Corenzola wird ab sofort die Abteilung leiten." Damit beendete sie die Ansage und die Mitarbeiter applaudierten kurz, beglückwünschten Alma und andere waren innerlich froh, dass Sibylle bald nicht mehr sein würde. Dessen war sie sich bewusst, es kümmerte sie allerdings nicht.
Alma folgte Sibylle und ihr lag noch eine Frage auf der Zunge. "Welche Aufgaben kommen auf mich zu?" hinterfragte sie und Sibylle blieb stehen und musterte Alma ungläubig. "Sie sind die Tochter des Gildenführers und haben unter meiner Führung gelernt, trotzdem fragen Sie mich dies nun?"
Damit ließ sie Alma stehen und sie beließ es dabei.
Amelia hatte die Bekanntmachung ebenfalls mitbekommen und wandte sich stumm der Drechselbank zu, die in den nächsten Tagen ihr Arbeitsplatz sein sollte. Alma wandte sich ab und zu an Amelia, um ihr über die Schulter zu gucken und ihr zu helfen. Stumm nickte Amelia und beachtete ihre Lehrmeisterin nicht weiter. "Alles in Ordnung?" fragte Alma ruhig nach und ihr Lehrling nickte nur mit den Worten: "Ja."
Alma und Amelia verließen zusammen die Abteilung nach Feierabend und mit einem großen Lächeln lief Alma zur Gilde rüber und wusste, dass ihr Vater da war. Sie betrat den Gildenraum und teleportierte sich zum obersten Gildenplatz, auf welchem ihr Vater saß und ihre Mutter daneben. Freudig umarmte sie beide und Smeralda hatte schon den Verdacht, dass etwas sei. Alma bediente sich am Wein ihres Vaters, füllte sich ein Glas ein und erhob dieses dann. "Die Abteilungsleiterin der Scythe Maker wird demnächst erlöst und hat mich zu ihrer Nachfolgerin auserkoren."
Ihre Eltern blickten sprachlos zu ihrer Tochter, bevor sie Alma mit funkelnden Augen umarmten. "Vor euch steht die neue Abteilungsleiterin der Sensenschmieder." rief Alma begeistert und stieß mit ihren Eltern an. Sie genehmigten sich einen großzügigen Schluck und Henrik grinste stolz. "Wie der Vater so die Tochter."
Die Tür zur Gilde ging auf und Henrik wandte sich vollends dem Besucher zu, welcher unsicher die Treppe hinauf lief. Henrik empfing diesen freundlich. "H-hallo, ich bin Marius Hinel und wollte meine Akte abgeben." Mit einem Nicken nahm Henrik diese entgegen. "Meine Glückwünsche zum bestandenen Seelengeleit." merkte Henrik lächelnd an und Marius nickte nur, während er mit verschränkten Armen zur Seite blickte.
An ihm lief Johannes mit seinem Vater vorbei und grüßte Henrik. "Guten Tag, wir sind hier, um den Gildenführer abzulösen." grüßte Johannes lächelnd und in diesem Moment betrat Justin ebenfalls die Gilde. Er nahm die Akte entgegen und beglückwünschte Marius, welcher still nickte und dann die Treppe hinunterlief. Henrik wandte sich an Johannes und erklärte ihm, dass nichts Besonderes gewesen sei. "Das einzig besondere, was geschehen ist, ist, dass meine geliebte Tochter nun Leiterin der Scythe Maker ist." erzählte er stolz und mit erhobenem Haupt, woraufhin Alma von Justin und Johannes gratuliert wurde und sie dies leicht beschämt annahm.
"Darüber wird dein Vater noch eine ganze Weile stolz drüber sprechen." erwähnte Smeralda schmunzelnd. Henrik sprach gerne in guten Zungen von seinen Liebsten.