Gevatter Tod brachte Gamia zur Wohnung ihrer Eltern. Er war der Auffassung, dort würde sie am besten aufgehoben sein. Fritz und Gina öffneten die Tür und nahmen Gamia in ihre Arme. Vom Weinen waren Gamias Augen gerötet, das Gesicht leicht gequollen.
Auf dem Sofa saß sie zwischen ihren Eltern. Beide hatten die Arme um sie gelegt und hörten ihr zu, nahmen jeden schmerzhaften Satz auf und waren nur für sie da. In einen ruhigeren Moment löste Fritz sich von der sitzenden Person und holte etwas hervor. In seinen Händen hielt er einen Bilderrahmen. Gamia blickte auf. Ihr Vater setzte sich mit den Worten: „Ich habe etwas für euch gezeichnet.“ Dabei reichte er ihr den Rahmen und Gamia erblickte das fein säuberliche und detaillierte Porträt von ihr und Niklas. Es war ein Pärchenbild von ihnen auf dem Hof. Der Hintergrund, das Haus, in dem sie lebten, wurde leicht angedeutet. Im Vordergrund standen sie beide.
Beim Anblick dieser Zeichnung überkam Gamia erneut das Nass. Sie legte den Bilderrahmen auf den schwarzen Couchtisch aus Holz vor ihr ab. Mit beiden Handflächen verdeckte sie ihr Gesicht. Fritz reichte ihr ein Taschentuch und vergoss selbst ein paar Tränen. Es verletzte ihn, seine Tochter in Trauer vor sich zu sehen, zugleich rührte ihn ihre Freude über das Porträt. Er blickte zu Gina, Augen ebenso vor Tränen funkelten.
„Liebes, ihr werdet euch im Garten Eden wiedersehen.“ Versuchte sie Gamia zu ermuntern. „Aber ich möchte ihn bei mir haben und nicht immer nur zu gewissen Zeiten sehen können wie eine Fernbeziehung!“ Gina verstummte für einen Moment, bevor sie mit einer weiteren Idee kam.
„Du kannst ihn sicher jeden Tag sehen. Tod und Mutter Natur haben nichts einzuwenden, solltest du tagtäglich den Garten Eden besuchen kommen.“ Diese Aussage ihrer Mutter, einer Gehilfin des Sensenmannes, gab ihr Hoffnung.
„Wirklich? Das wäre schön, könnte ich öfters hingehen.“
„Natürlich. Das bekommen wir hin. Dein Onkel sieht seinen Gemahlen auch in sehr zeitnahen Abständen. Das wird.“ Sie zog ihre Tochter näher zu einer Umarmung an sich und zum ersten Mal schlich sich ein kleines, hoffnungsvolles Lächeln auf Gamias Lippen. „Ich werde ihn wiedersehen.“
Eine zarte Brise Wind strich durch das Haar der Familie Lenner, welche zu dritt im Garten ihres Hofes auf einer Holzbank saßen.
„Ich bin froh, dass ich endlich kein Halbblut mehr sein muss.“ Niklas Stimme war ein bisschen leiser, er wollte seinen inneren Unmut rauslassen, aber zugleich seine Eltern nicht verletzen. Beide hörten ihn. Eliane senkte den Kopf. „Hätten wir dies gewusst. Ich war selber so überrascht, als die kleinen Engel mich besuchen kamen. Wenn eine Verbindung zwischen Mensch und Todeswesen möglich war, da dachte ich nie daran was sei, wenn die Lebenszeit abläuft. Wir wollten dich. Du bist ein Wunschkind.“ Ihre Stimme zitterte leicht und Niklas merkte, dass es sie genauso sehr belastete, wie ihn. „Ich bin so dankbar dafür, dass du Gamias Familie kennengelernt hast und nicht ratlos bleiben musstest.“ Ihre Augen sahen besorgt aus, während ihre Lippen sich zu einem Lächeln formten.
„Ich bin auch allemale froh, euch meine Eltern nennen zu dürfen.“ Sanft lächelnd schloss er seine beider Elternteile in die Arme.
Nachdem lösen der Umarmung bemerkten beide die wohltuende Aura von Mutter Natur, die langsam näher kam. Sie begrüßte alle drei mit einem wohltuenden Lächeln und wandte sich dann an Niklas.
„Darf ich dich kurz sprechen?“ Er nickte zur Antwort und folgte ihr. Beide standen ruhig in der Nähe einer Esche.
„Ich möchte mich bei dir für all das, was geschehen ist, entschuldigen. Mir ist bewusst, wie schwer du es hattest. Wäre es nicht der Befehl des Himmelfürsten gewesen, hätte ich dich nicht zu einem Halbblut gemacht. Mir war nicht bewusst, was dies, besonders in Bezug auf dein irdisches Leben, deinen Tod, für Auswirkungen haben würde.“ Ihre Hände waren vor ihren Körper gefaltet und der Kopf leicht gesenkt, den Blick weiterhin auf Niklas gerichtet. „Sie können da genauso wenig für, wie meine Eltern. Es ist geschehen, es war nicht immer schön, aber endlich hat es ein Ende. Nur hätte das Ende gerne früher kommen dürfen.“ Leicht neigte er den Kopf zur Seite. Seine sanfte Art, ihr nicht böse zu sein, beruhigte Mutter Natur.
„Ich denke, Gamia Dronner wird dich die Tage besuchen kommen wollen.“ berichtete Mutter Natur und erwartete eine freudige Reaktion, die ausblieb. Stattdessen weiteten sich seine Augen und er presste die Lippen aufeinander. „Ja, das kann sie tun.“ murmelte er ohne sämtliche Betonung in der Stimme. Mutter Natur spürte bereits eine emotionale Distanz von Niklas gegenüber Gamia.
„Was lastet dir auf der Seele?“ Bei ihrer Frage wich Niklas einen Schritt zurück. „Das möchte ich persönlich mit ihr selbst besprechen.“ Ab diesem Moment war das Gespräch für ihn beendet. Mutter Natur hätte es bevorzugt, mit ihm über sein Laster zu sprechen. Zwingen konnte sie ihn nicht und daraufhin verabschiedete sie sich.
Drei Tage vergingen, bis Gamia sich entschloss, ihre Berufung als Todesengel wieder aufzunehmen. Sie geleitete sieben Seelen und begab sich mit den Akten zur Gilde. Sie wollte die Gelegenheit direkt nutzen, den Garten Eden zu besuchen.
In der Gilde traf sie auf Johannes, welcher die Gelegenheit nutzte, sie auf Niklas anzusprechen.
„Mein Beileid. Ich hörte bereits, dass er erlöst wurde.“ sagte er mitfühlend und bekam ein Nicken zurück. „Danke.“ murmelte Gamia und legte ihn die Akten auf den Tisch.
„Was genau ist geschehen?“ erkundigte er sich und ließ Gamia einen Augenblick verstummen. Sie wollte dem Gespräch anfänglichst ausweichen, aber erinnerte sich daran, das Johannes ebenfalls ein Halbblut war, dem ein ähnliches Schicksal blühen wird.
„Sein Körper ist verwest, während seine Seele noch in ihm war. Niklas Seele konnte nicht hinaus, selbst nachdem sein menschlicher Körper seinen Zenit überschritten hat. Mutter Natur und der Tod haben ihn dann erlöst. Er konnte wählen, ob er im Garten Eden oder als Todesengel weiterleben wollte.“ Während sie sprach hatte sie das Gefühl, nicht richtig da zu sein, die von ihr gesprochenen Worte nicht zu realisieren. Johannes Aussage holte sie kurz zurück wieder in ihr Bewusstsein. „Er entschied sich für den Garten Eden?“ Sie nickte nur. „Sollte es bei mir irgendwann so weit sein, bitte erlöst mich direkt und bringt mich in den Garten Eden. Ich möchte keine lebende Leiche werden.“ Erneut nickte Gamia nur und fühlte seine Worte wie ein Schwert in ihrer Brust. „Ja, ich werde zum Tod gehen.“ meinte Gamia geistesabwesend und lief zur großen Tür. Johannes sah ihr mit hochgehobener Augenbraue hinterher und murrte: „Dann nimm doch auch gleich die Akten mit, ach egal.“
Gamias Besuch wurde Niklas kurz vor ihrer Ankunft angekündigt. In seinen Gesicht zeigte sich keine freudige Gefühlsregung. Er wartete an der Esche auf sie, fernab seiner Eltern und wartete widerwillig auf Gamias Ankunft. Diese kam durch das Portal in den Garten Eden und nachdem sie ihn bemerkte, beschleunigten sich ihre Schritte. Eine Freudenträne rang ihre Wange herunter und sie begann zu lächeln. Sie wollte ihn in die Arme nehmen und tat dies, aber Niklas wich von ihr, nachdem sie die Umarmung vertiefen wollte. Mit seinen Händen umfasste er ihre beiden Hände, starrte dabei mit unerfreuten Ausdruck in ihr überraschtes Gesicht. Ihr Mund war leicht geöffnet. „Wie?“ Sie wollte näher kommen, in einen langen Kuss geben, aber Niklas ging auf sie nicht ein. Verzweifelt starrte sie ihn an, riss sich von seinem Griff los.
„Was ist los mit dir? Hast du mich nicht vermisst? Ich habe die letzten Tage gelitten wegen deinem Verlust!“ Sie wurde laut und schluchzte. Niklas wich einen Schritt zurück. „Mir ist bewusst, was nach dem Tod meines Körpers geschehen ist. Ich bin verwest, meine Seele hat alles gespürt. Du hast versucht, meinen Körper haltbar zu machen. Du hast es bevorzugt mit einem lebenden Toten zusammenzusein, als mich davon zu erlösen! Ich kam mir vor wie ein Patient im Krankenhaus, dessen Maschinen man abstellen sollte, der aber mit Krampf versucht wird, am Leben zu erhalten. Von dir hätte ich mehr Vernunft erwartet, immerhin solltest du mich mit am besten kennen. Dir war bewusst, wie ich mit meiner Existenz zu hadern hatte und froh wäre, wenn diese enden würde, ich normal leben könnte. Ich hätte mir von dir gewünscht, mich früher zu erlösen.“ Er distanzierte sich weiter von Gamia, vermied ihre Nähe um jeden Preis. Gamia fühlte, wie ihr Herz rausgerissen wurde. „Bitte sag sowas nicht. Ich wusste es selber nicht besser. Es tut mir leid!“ Ihre Worte wurden von ihren schluchzen verschlungen. „Wie kann ich es wiedergutmachen?“ Voller Tränen in den Augen sah sie Niklas an, der keine Empathie mit ihr zeigte.
„Ich wollte dich so gerne wiedersehen und hatte mich auf dich gefreut. Ich wollte dir etwas zeigen.“ Niklas war nicht an dem, was sie ihm präsentieren wollte, interessiert und fragte nicht nach, worum es sich handelte.
„Ich weiß nicht, was ich sagen oder tun soll, um dich zu überzeugen, dass es mir wirklich Leid tut. Hätte ich es besser gewusst, hätte ich dich erlöst! Du hast der Behandlung selber zugestimmt! Ich hatte Hoffnungen, es würde besser werden, wir müssen nur die richtige Behandlungsmethode finden! Mir allein kannst du nicht die Schuld geben!“ Ihre anfängliche Verletztheit wandelte sich in Wut. Sie fühlte sich ungerecht behandelt, als sei die einzig Schuldige. „Wir wussten es selber nicht besser. Wie denn auch? Es gab zuvor nie jemanden wie dich!“ Rief sie ihn in Erinnerung.
„Ja, aber spätestens als ihr gemerkt habt-“, „Das haben wir doch getan!! Denkst du, mir ist nicht aufgefallen, dass das Formaldehyd, die Operation nicht anschlug?“ Niklas Stimme verstummte endgültig. Seine Arme verschränkten sich und sein Kopf senkte sich. Er dachte nach.
„Du sagst, deine Seele hat es gespürt, aber was hast du von deiner Außenwelt mitbekommen? Außerdem wusstest du ebenso wenig wie Oma und ich, was jetzt der richtige Weg sei. Wie denn auch? Im Nachhinein sind wir alle schlauer. Ich denke an Johannes. Ihm wird dieser Weg erspart bleiben.“ Ermutigte Gamia und ihr Gemüt beruhigte sich langsam. „Ich wünschte, mir wäre all dies erspart geblieben.“ An den Gedanken, jemanden dieses Leid erspart zu haben, konnte sich Niklas nicht erfreuen.
„Wichtig ist, dass es vorbei ist. Du bist frei von dieser Existenz.“ Lächelnd sah sie ihn an, aber er wich ihrem Blick aus. „Ja.“ Murmelte er zerknirscht, wirklich freuen konnte er sich nicht.
„Bist du nicht erfreut darüber, dass ich hier bin?“ Fragte sie schließlich sanft nach und Niklas biss die Zähne zusammen, bevor er schließlich zugab: „Doch, sehr.“ Ohne Vorwarnung umarmte Gamia ihren Liebsten und vorsichtig legte er die Arme um sie. „Ich bin glücklich, dass du da bist.“ Flüsterte er. „Ich versuche, dich regelmäßig zu besuchen. Ohne dich ist es einsam in der Wohnung.“ Beide blickten sich an und vereinigten ihre Lippen zu einem Kuss. Es folgte ein Weiterer und noch viele mehr, bevor sich ihre Lippen voneinander lösen konnten.
„Und was war, was du mir zeigen wolltest?“ Lenkte er das Gespräch auf ein anderes Thema. Kurzerhand löste sich Gamia von ihm und holte die Zeichnung von ihrem Vater hervor. Diese reichte sie Niklas in die Hände und seine Augen weiteten sich vor Begeisterung. „Woah, wie lange saß er daran? Das ist mega.“ Perplex konnte er den Blick nicht von dem Porträt lösen. „Das weiß ich nicht, aber es hängt in der Wohnung in unserem Schlafzimmer.“ Lächelnd nahm sie es wieder an sich.
„Wollen wir zu deinen Eltern oder ein bisschen die Zeit genießen?“ Erkundigte sie sich und ohne groß darüber nachzudenken antwortete Niklas: „Lass uns durch den Garten Eden laufen und die Zeit die wir zu zweit haben, genießen.“
Dies taten beide, fühlten den frischen Wind, der durch ihre Haare fuhr, spürten das Gras zwischen ihren Fingern, das Wasser, welches ihre Füße tränkte. Im Rasen lagen sie, glücklich aneinandergeschmiegt. Niklas Arm war um Gamias Oberkörper gelegt, ihr Kopf lag auf seinen Brustkorb. Beide Herzen waren fortan wieder miteinander vereint.