"Nein... Viktorius..." hauchte sie und hörte die Bewohner um sie herum reden. "Wenigstens sind wir diese Plage nun los."
"Dass die arme Kirche dafür herhalten musste... Da werde ich nicht mehr beten gehen."
"Hätte er sich nicht in seinem Haus hängen können? Zum Schluss noch Aufmerksamkeit haben wollen, Gesindel!"
Tiffany schlug die Hände über den Kopf. "Nein, hört auf, sowas zu sagen... Ihr kanntet ihn nicht..." Ihre Hände rutschten zu ihrem Bauch runter und ihr wurde schlecht. Sie schloss die Augen. "Wäre ich nur bei dir geblieben... Ich hätte dir noch gerne was gesagt..." Die Aufmerksamkeit zog sich auf Tiffany.
"Ach ja, seine Freundin. Vermutlich die Einzige, die ihn je geliebt hat." tuschelten die Menschen und Tiffany stand auf, verschränkte die Arme und bahnte sich wortlos ihren Weg durch die Menge.
"Wir können ihn da nicht hängen lassen." debattierten die Menschen und eine Frau scheuchte zwei Kinder weg, die Viktorius Leichnam mit Steinen bewarfen. "Ihr beschädigt noch die Kirche!" war ihre einzige Sorge und der Pastor kam zu den Bewohnern dazu, welche ihn mit Fragen überschütteten. "Wie kann es sein, dass er tot ist? Ich dachte, der Himmelsfürst holt einen?" war die häufig gestellte Frage und der Pastor musste selber erst einmal Antworten finden. "Ich werde den Himmelsfürst um Antworten bitten." entschuldigte er die Menge und sah zum Leichnam hinauf. "Wir müssen ihn erstmal da runter schaffen." wies er an und bekam Hilfe von drei Männern. Sie hatten eine Leiter und Messer dabei. "Wollen wir nicht auf den Bestatter warten?" fragte einer, doch bekam als Antwort nur: "Ach, der hat doch so viel zu tun, der kann mal frei machen. Ey, du bist doch Tischler, hol mal einen Sarg." Der dritte Mann lief sofort los und der Erste stand schon auf der Leiter. "Wollen wir das dürre Etwas mal runter holen. Du fängst ihn auf." befahl er und sein Kollege nickte.
Das Seil wurde durchgeschnitten und der Körper fiel hinunter, allerdings ließ der zweite Mann diesen rücksichtslos auf dem Steinboden aufprallen. "Bist du bescheuert? Den fass ich doch nicht an!" rief der Mann angewidert und lachte zugleich darüber. Das andere Seilstück wurde noch losgemacht, bevor der Tischler mit Sarg wiederkam. Interessiert sahen die Dorfbewohner zu und keiner sagte etwas darüber, wie sie seinen toten Körper schändeten. Der Tischler öffnete den Sarg und hob Viktorius Körper mit Hilfe des anderen Bewohners hoch. Achtlos warfen sie ihn regelrecht in den Sarg, wie Müll auf der Straße. "Dann wollen wir ihn mal auf den Friedhof bringen!" riefen sie und setzten sich auf die Kutsche. Auf die Kutsche stiegen ebenfalls die Dämonen, die es unheimlich witzig fanden, wie die Dorfbewohner Viktorius selbst nach seinem Tode noch ächteten.
Die drei Männer hoben ein Grab aus. "Dass wir uns wegen dem noch so eine Mühe machen müssen!" fluchte einer und der Zweite warf mit ein: "Was ist mit einem Grabstein oder Segen? Seinem Weib?" Kurz überlegten die Männer. "Ich habe noch Bretter und Werkzeug. Ich mache ein Kreuz, dann hat er wenigstens etwas." schlug der Tischler vor und machte sich an das Werk. Er ritzte den Namen ins Holz und weil er nicht wusste, wann er geboren wurde, ritzte er nur den 6.5.743 als Todesdatum hinein. Währenddessen hievten die Männer den Sarg auf die Schnelle ins Grab und hörten ein Knacken. "Mach meinen Sarg nicht kaputt!" rief der Tischler erzürnt und die Männer schaufelten Erde auf diesen. Als sie damit fertig waren steckte der Tischler das kleine Holzkreuz in die Erde. "Eigentlich hat er es nicht verdient, aber ein paar Blumen würden nicht schaden, oder?" fragte der Tischler und seine zwei Begleitungen warfen paar Steine auf das Grab und pflügten Blumen vom Wegesrand. Einer machte mit den Fingern ein Kreuz. "Ruhe in Frieden und so. Danke, dass du so ein Feigling warst und wir wegen dir schuften durften." Dabei spuckte er auf das Grab. "Schwächling." fluchte er und trat gegen die Erde, bevor alle drei auf die Kutsche stiegen. "Hätten wir ihn nicht würdevoller beerdigen sollen?" fragte der Tischler, bekam aber nur schiefe Blicke. "Was soll er tun? Uns verfluchen? Die Dorfratte ist endlich tot! Das muss gefeiert werden!"
Unter Tränen klopfte Tiffany bei Berta, welche ihr die Tür öffnete und erschrak. "Was ist los? Warum ist das Dorf so in Auffuhr?" fragte sie und ließ Tiffany hinein. Beide setzten sich an den Tisch und Berta holte erst einmal ein Tuch für Tiffanys Tränen und umarmte sie. "Was ist passiert?" fragte sie behutsam und schluchzend erzählte Tiffany ihr von der Tragödie.
"Es ist Viktorius.", schluchzte sie aufgebracht. "Er... er hat sich an der Dorfkirche aufgehängt."
Berta weitete die Augen. "Nein, oh nein. Oh Tiffany... Das ist so bitter...." Sie drückte Tiffany an sich. "Ich konnte ihm noch nicht mal von dem Baby erzählen.... Vielleicht hätte es...", Ihre Stimme brach ab. "Er hat es wirklich getan, er hat sich vor seinem eigentlichen Tod das Leben genommen." hauchte sie und konnte es immer noch nicht glauben. "Und er hat immer gesagt, dass er sich vom Leben erdrückt fühlt und er anders ist und sich fragt, warum er dann noch auf dieser Welt ist. Wäre ich nur bei ihm geblieben, vielleicht..." Sie senkte den Kopf und brach den Satz ab, denn innerlich wusste sie, dass sie nichts hätte tun können. Sie wurde ruhiger und wischte ihre Tränen weg.
"Man kann sich also wirklich selber umbringen..." wisperte sie gedankenverloren. "War es wirklich, nennen wir es Selbstmord? Nicht, dass er so verhasst war, dass sie ihn aufgehängt haben, Mord." hinterfragte Berta und setzte sich. Tiffany schüttelte den Kopf. "Du kanntest ihn, er wollte sterben... Selbst wenn die Dorfbewohner dies tun würden, er würde sich nicht wehren, nur um endlich zu sterben. Er hat immer vom Freitod geredet. Ich hätte nie gedacht, dass es möglich ist..." Nervös knabberte sie an ihren Nägeln und Berta faltete die Hände zusammen. "Mutter Natur hat es mir nicht direkt gesagt, als ich sie gefragt habe, ob es möglich sei. Sie sagte nur, wir hätten einen freien Willen. Rein theoretisch, nach Viktorius kann sich jeder Mensch selbst töten. Es wird noch andere wie Viktorius geben..." berichtete Berta und schauderte selbst bei der Vorstellung.
"Das heißt, Menschen wie du und ich könnten..." "Tiffany!" ermahnte Berta erschrocken. "Theoretisch ja, aber ich glaube nicht, dass deine Seele dann wirklich frei ist. Was ist, wenn seine Seele nun zwischen Himmel und Erde hängt?" fragte Berta sich und Tiffany hatte bis jetzt nie daran gedacht, was mit der Seele nach dem Selbstmord geschieht. Was war wenn er deshalb selbst im Tode nie Frieden findet?
"Wenn du möchtest kannst du hier schlafen. Ich bin für dich und das Kind da. Wir bekommen das hin." bot Berta an und versicherte Tiffany, dass sie nicht alleine dastand. "danke." schniefte sie und versuchte sich keine großen Sorgen darüber zu machen, dass sie alleine mit dem Kind sei. Berta war bei ihr und wollte alles tun, um Tiffany zu unterstützen. Besonders in dieser schweren Zeit.
Bertas Mann kam von der Arbeit heim. "Liebling, hast du das im Dorf mitbekommen? Ist Tiffany da?" Er zog die Jacke aus, während er dies rief und fand beide am Tisch sitzen. Die Blicke der Frauen gaben ihn alle Antworten und Tiffany grüßte mit einem leisen Hallo. "Sie bleibt heute auch hier." erzählte Berta und ihr Gatte hatte damit keine Probleme. "Die Bewohner reden über nichts anderes." seufzte er und setzte sich zu den Frauen. "Ich hab's gesehen." hauchte Tiffany gebrochen und Bertas Mann sah zu ihr.
"Mein Beileid... Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll." murmelte er und bekam nur ein mildes Lächeln zurück. "Sie sollen ihn aber wohl schon beerdigt haben..." erwähnte er dann und Tiffany horchte auf. "Wie? Jetzt schon? Wo?" hakte sie verzweifelt nach. "Oh man, ich möchte das am liebsten gar nicht erzählen, aber es soll eine ziemlich unprofessionelle Beerdigung von Laien gewesen sein. Ich habe es nur gehört und will darauf nicht viel geben." erklärte er seufzend und wurde von seiner Frau angestupst. "Du weiß, wie ich dazu stehe." zischte sie und verachtete es, wenn Menschen etwas erzählten, was sie nur gehört haben. Er entschuldigte sich, aber Tiffany wollte unbedingt auf den Friedhof gehen und das Ehepaar begleitete sie.
Tiffany lief durch die vielen Wege des Friedhofes und kam an den unterschiedlichsten Gräbern vorbei. Sie hielt bei dem Familiengrab ihrer Eltern und las die Inschrift dieser. Ihr Blick fiel dabei auf eine kleine Steinplatte, die ihrer gestorbenen Schwester galt. Dabei erinnerte sie sich, dass ihr Vater damals viel Geld bezahlt und sich mit dem Arzt angelegt hat, seine zu früh gestorbene Tochter beerdigen zu dürfen. Der Arzt damals riet ihn, den kleinen toten Körper zu verbrennen oder auf den Misthaufen zu werfen, doch das konnten ihre Eltern nicht. Der Bestatter war der Einzige, der Thompsons Bitte damals verstand und berücksichtigte. Mit einer Träne im Auge lief sie weiter und kam zu einem aufwendigen Grab. Sie wurde auf die Grabsteine aufmerksam, auf denen die Namen von Viktorius Eltern standen und hoffte, dass sie ihn in der Nähe beerdigt hatten. Tiffany musste noch ein weites Stück bis zum Friedhofsende laufen, bis sie ein liebloses, frisches Grab fand. Das Holzkreuz mit der Namensinschrift verriet ihr, dass es Viktorius Grab war. "Nein..." Ihr wurde einmal mehr bewusst, dass ihr Freund tot ist. Ebenfalls war sie über diese Lieblosigkeit erschrocken und wollte es am liebsten hübsch herrichten. Das Ehepaar Sezenson hielt sich im Hintergrund.
Tiffany kniete sich hin und Tränen tropften auf die Erde. "Oh Viktorius... Ich wusste, eine Beziehung kann dich nicht retten, aber ich wünschte trotzdem, es hätte dich von deinem Freitod abgehalten. Ich wollte dir noch so gerne etwas sagen, was ich dir seit Wochen verschwiegen habe... Es tut mir so leid." Ihre Hände fuhren durch die Erde. "Ich bin schwanger... Du wärst Vater geworden..." brach es aus ihr heraus und bekam Schuldgefühle. "Hätte ich es dir nur früher gesagt, aber ich war zu feige."
Vorsichtig lief Berta zu Tiffany und kniete sich ebenfalls zu ihr. Sie hätte ihr gerne gesagt, dass es ihm nun besser ging oder er im Himmel sei, aber sie wusste es nicht, auch wenn sie sich Erlösung für seine Seele wünschte.
"Was haben sie aus seinem Grab gemacht? Er hätte genauso eine Beerdigung wie alle anderen verdient." schluchzte sie aufgebracht und war wütend, wie verachtend die Dorfbewohner mit seinem Körper umgegangen sind. Berta legte den Arm um Tiffany und half ihr beim aufstehen. Zu dritt begaben sie sich wieder zu Bertas Haus, um Ruhe zu finden.
Viktorius stand am Abgrund, den Strick um seinen Hals gebunden. Er konnte nicht mehr. Er wollte nicht mehr. Er sah keinen Sinn mehr im Leben und wollte alles hinter sich lassen. Nichts gab ihn mehr halt. Seinen Glauben hatte er schon lange abgelegt. Selbst Tiffany war für ihn kein Grund mehr am Leben zu bleiben. "Sie hat gesagt, wenn ich irgendwie Frieden finden kann, dann wird sie hinter mir stehen. Wenn mich das endlich von der Welt befreien kann..." Er beschloss die Augen, wünschte sich, dass es klappt und er gleich dem Tod begegnet. Viktorius trat einen Schritt vor, seine Füße hatten keinen Halt, sein Nacken knackte und er bekam keinen Sauerstoff mehr.
Der Sensenmann stand auf, als er den nahen Tod von Viktorius spürte, ergriff seine Akte und verschwand aus dem Raum.
Der Himmel war im auffuhr, als die Schicksalsengel merkten, dass sich das Schicksalsbuch von Viktorius änderte, es endete. Der Himmelsfürst befehligte sofort einen Engel zu Viktorius zu schicken.
Sowohl Gevatter Tod als auch der Engel befanden sich vor Viktorius und waren beide nicht über diesen besonderen Umstand erfreut. Die Sense des Todes wurde an Viktorius Körper angesetzt und der Tod fing mit dem Geleit an. "Viktorius von Eden, geboren am 26.9.714, gestorben am 6.5.743. Todesursache... Suizid."
Gevatter Tod hielt kurz inne. Diese Art von Todesfall hatte er noch nie geleitet. Er wusste auch, dass der Himmel ebenfalls in höchster Aufmerksamkeit versetzt war. In welches Reich sollte er die Seele geleiten. Der Tod und der Engel sahen sich an, bis der Sensenmann schließlich sagte: "Ihre Seele wird vorerst zum Himmelsfürst, zum jüngsten Gericht, geleitet werden."
Damit wurde seine Seele zum Himmelsfürst gebracht und Viktorius spürte, dass er irgendwie noch bei Bewusstsein war. Erst dachte er, sein Versuch zu sterben hätte nicht funktioniert, aber dann hörte er die vielen Stimmen. "Himmelsfürst? Es gibt ein Leben nach dem Tod?" dachte er und wusste nicht, wie er empfinden sollte. Auf einer Seite war er glücklich, dass sein Versuch geklappt hat, war aber auch bewältigt von dem, was nun geschah, er bekam jedoch auch Angst vor dem Unbekannten.