Das Shèn (chin. 蜃, auch chén oder ch'en, jap. shin, dt. Große Muschel), ist ein drachenartiges oder schlangenartiges, Form verwandelndes Seeungeheuer der chinesischen Mythologie. Es ist in der Lage, Illusionen zu erzeugen.
Etymologie
Historisch bezeichnet das Wort 蜃 jede Art von Muschel. Jedoch werden bereits im Shuowen jiezi, (chinesisch 說文解字 / 说文解字, Pinyin Shuōwén Jiězì – "Erklärung einfacher und Analyse zusammengesetzter Schriftzeichen“) das erste Zeichenlexikon der chinesischen Schrift aus dem Jahr 121, drei gestaltwandelnde Meeresbewohner unter dem Begriff gé (chin. 蛤) zusammengefasst, welcher als "Kategorie von shén" bezeichnet wird:
- que (chin. 雀, dt. Spatz) verwandelt sich nach 1000 Jahren im Meer in gé (chin. 蛤) or muli (chin. 牡厲, dt. Auster)
- yān (chin. 燕, dt. Schwalbe) verwandelt sich nach 100 Jahren im Meer in hǎigé (chin. 海蛤, dt. See-Muschel)
- fulei (chin. 復絫) or fuyi (chin. 服翼, dt. Fledermaus) verwandelt sich in hohem Alter in kuígé (chin. 魁蛤, bezeichnet heute die Muschelart Scapharca broughtonii)
Derartige Verwandlungen sind typisch für die chinesische Folklore, insbesondere Drachen. Weniger spezifisch sind die Erwähnungen im Eyra (3. Jahrhundert v. Chr.) das Shèn ebenfalls als Große Schalentiere bezeichnet.
Merkmale
Das Shèn wird als eine Art Krokodil in Form einer riesigen Schlange beschrieben, was einen langgezogenen Körperbau mit vier Beinen ohne Flügel bedeutet.
Es trägt Hörner auf dem Haupt und eine rote Mähne. Ab der Rückenmitte sind die Schuppen in umgekehrter Richtung angeordnet. Shèn stoßen Dampfwolken in riesigen Ringen aus. Der Rumpf ist von einem Panzer bedeckt, ähnlich einer Muschel oder der einer Schildkröte.
Shèn sind in der Lage, Illusionen zu erzeugen. Diese werden zunächst als eine perlenartige Blase abgeben. Für gewöhnlich bleiben diese Blasenperlen am Meeresgrund, bei aufgewühlter See, oder ähnlichen Umständen, steigen diese Blasenperlen zur Meeresoberfläche auf. Passieren sie die Wasseroberfläche, entfalten sie sich Fata Morgana. Diese Trugbilder nehmen meist die Gestalt von mehrstöckigen Gebäuden an, welche als "Muschelburg" oder hohes "Haus der Muschelmonster" bezeichnet werden, was im Chinesischen mit dem Begriff shènlóu 蜃樓 ausgedrückt wird. Auf Japanisch und Koreanisch heißen solche Trugbilder shinkirō / singiru 蜃気楼 und lassen sich als Abstammend von shènlóu belegen. So bedeutet shinkirō shin (Muschel), ki (Atem) und rō (Turm). Es zeigt aber auch, das die Shèn in der japanischen Folklore eher als Muscheln, anstatt drachenartiger Seeungeheuer, betrachtet werden.
Vorkommen
Shèn besiedeln das Gelbe Meer, wo sie in Unterwassergrotten hausen. Gelegentlich zieht das Wesen aber auch in Flüsse ein und scheint somit zumindest Brackwassertolerant. Insbesondere, wenn es regnet, steigen die Kreaturen aus den Untiefen herauf.
Lebensweise
Ernährung
Shèn bevorzugen, wie Lóngdrachen, Schwalben als Nahrung. Sie fressen aber auch Menschen, wenn diese nach Schwalben duften.
Fortpflanzung
Es heißt, wenn Schildkröten und Schlangen Nachwuchs zeugen würden, dann würden aus ihren Eiern Schildkröten schlüpfen. Wenn aber Schildkröten und Fasane Nachwuchs zeugen, dann schlüpfen aus den Eiern Shèn. Neben dieser Fortpflanzungsmethode entstehen Shèn vor allem, wenn Vögel (Spatzen, Schwalben, vornehmlich Fasane) in Kontakt mit Wasser geraten.
Kulturelle Bedeutung
Mythologie
In "Gosaiyuki" heißt es, dass die Gruppe von Hoshi Hanga während ihrer Reise in eine sehr geschäftige Stadt kam, aber die Stadt war eine Fata Morgana und die Gruppe fand sich im Bauch einer Shèn wieder.
Viele Legenden ergründen die geheimnisvollen Städten, die in den Trugbildern der Shèn erscheinen, das es sich eben nicht nur um Illusionen, sondern um eine Vision/Abbild von Ryūgū-jō, dem mythischen Palast von Ryūjin – dem Drachenkönig, der auf dem Meeresgrund lebt, handelt. Warum die Shèn eben diesen Palast als Vorbild für ihre Illusionen nutzen, ergründen die Legenden aber nicht.
Nutzung
In chinesischen Klassikern wird mehrfach berichtet, dass Shèn als Speise gesalzen wurde. Im Zuo Zhuan (spätes viertes Jahrhundert v. Chr.) wird das Shèn als ein "lackiertes Weinfass" bezeichnet, das für Opfergaben an Erdgeister verwendet wurde, was im Text Riten der Zhou (chinesisch 周禮, Pinyin zhōulǐ), ergänzt wird, da hier auch die Schale des Shèn zur Herstellung von Hacken verwendet wurde. Eine Verwendung als Gefäß belegt das Zhuangzi (Chinesisch: 莊子, historisch romanisiert: Chuang Tzŭ), Zeit der streitenden Reiche (476 - 221 v. Chr.). In den Riten der Zhou wird ebenfalls eine Verbindung der Shèn zu Bestattungen erwähnt, da Shèn auch große, muschelartige Felge bedeuten kann, kann ein shènchē (蜃車, "mit Karren oder Kutsche") auch als Leichenwagen gelesen werden. Ob die Felgen nun aber aus Shènschalen bestanden, ist spekulativ. Fest steht, dass für Mausoleen shèntàn (蜃炭), also Ausernkalk, als Mörtel genutzt wurde. Die Felgen könnten demnach auch muschelartig sein, weil an ihnen dieser Muschelstaub haftet. Da die Austern eine der Verwandlungen der Shèn sind, ist eine Verwendung als Mörtel ebenfalls denkbar.
Das Fett der Shèn wird zu Kerzen verarbeitet, deren duftender Rauch noch aus 100 Schritten Entfernung wahrnehmbar ist und in Schichten in die Luft aufsteigt
Wissenschaftliche Erklärungsversuche
Gelegentlich wird das Shèn als mythologische Variante der Großen Riesenmuschel (Tridacna gigas) angesehen.
Taxonomische Stellung
Die Shèn sind klar als reptiloide Mischwesen auszumachen und zählen daher zu den Drachen. Unter diesen wurden sie schon seit alters her in die nähere Verwandtschaft der Lóng und der Ryū gestellt. Auch wenn sie mit diesen nicht gleichgesetzt wurden, ausgenommen sprachlich im Fall des japanischen Tatsu, der als Synonym für die Shèn genutzt wurde, ehe sie ihren eigenen Namen erhalten hatten.
Eine nähere Verwandtschaft zu den Lóng, Ryū, Yong, Druk und Luu scheint damit bestätigt zu bestehen. Diese Taxonomie geht davon aus, dass die Shèn eine nahverwandte Schwestergruppe der "Lóng-Gruppe" darstellt, von denen sie sich unter anderem durch einen anderen Entwicklungszyklus (der teilweise ohne Larvenzyklus auskommt) und dem muschelartigen Panzer unterscheiden.
Nachweise
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