Das raue Seil scheuerte. Wie bedeutsam ihm diese Tatsache erschien, obwohl sie eigentlich so völlig unbedeutend war, angesichts des Umstands, dass ihm nur noch wenige Minuten blieben. Wenige Minuten in dieser Welt.
Sein Blick glitt umher, sah die Umgebung, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Alles um ihn herum war eine Lüge. Bedeutungslos. Das Reich der Elfen war ein märchenhafter Ort, der mit unglaublicher Perfektion den unwissenden Betrachter nur allzu gerne in die Irre führte und darüber hinwegtäuschte, wie gefährlich es hier war. Nicht nur die Pflanzen und die Tiere hatten oft verborgene Kräfte, auch die Elfen selbst verbargen ihre Grausamkeit und Gnadenlosigkeit so gut vor dem unwissenden Auge. Schönheit hatte schon oft über so manche schwarze Seele hinwegzutäuschen vermocht.
Er wandte den Kopf, sodass er sie sehen konnte. Ihr langes, goldenes Haar wehte sanft in der Brise, als wollte der Wind noch ein letztes Mal mit ihr spielen. Sie war die schönste Frau, die er jemals gesehen hatte – innen und außen. Seine Nilah.
Sie stand aufrecht und tapfer, aber er konnte das Zittern sehen. Ihre Angst war für ihn beinahe greifbar, aber das mochte auch an der Verbindung zwischen ihnen liegen. Ihre wunderschönen Augen hatte sie geschlossen, war in sich versunken für einen letzten Moment des Friedens. Er wollte sie noch ein letztes Mal sehen. Er wollte ihr in die Augen sehen und den Anblick für immer bewahren. Es sollte das letzte Bild auf dieser Welt sein, ein Bild, das er im Herzen bewahren wollte, selbst über den Tod hinaus.
„Nilah“, flüsterte er sanft und der Wind trug seine Worte mit sich fort. Vielleicht würden sie für immer im Wind auf der Reise sein, vielleicht würde der Wind sie für immer mit sich tragen. Seine Stimme, ihr Name würden irgendwo weiter existieren, selbst wenn sie selbst längst vergessen waren.
Sie hatte ihn gehört und schlug ihre Augen auf. Tränen schimmerten in den violetten Augen, die ihn an den Flieder erinnerten, unter dem sie im Sommer immer gelegen hatten. Er wünschte, er könnte ihr den Schmerz nehmen, die Angst, die Trauer. Doch sein Herz war selbst so erfüllt davon, dass er nichts zu tun vermochte, um ihren Kummer zu erleichtern. Ihr Gesicht begann vor seinen Augen zu verschwimmen, als sich seine eigenen mit Tränen füllten, aber er blinzelte sie weg. Er wollte sie ansehen. Für den Rest seiner Lebenszeit wollte er sie nicht mehr aus den Augen lassen.
Er öffnete seinen Geist und griff sanft nach ihrem, der sich ihm sofort öffnete und willkommen hieß. Zärtlich liebkosten ihre Geister einander und verbanden sich zu einem. Er wusste nicht, welcher Schmerz, welcher Kummer aus seiner eigenen Seele stammte und welcher der ihre war. Sie waren eins in ihrem Leid.
„Es tut mir leid“, sprach er und wusste nicht, ob seine Stimme erklungen war oder ob er nur im Geiste zu ihr gesprochen hatte. Nur noch sie existierten. Die Stricke, die ganze Welt verlor an Bedeutung, als er seine Wahrnehmung nur auf ihre Präsenz konzentrierte. Auf ihre Seele, die ihn nie loslassen würde. Der Grund, warum sie heute überhaupt hier waren, in dieser Situation.
„Entschuldige dich nicht, Livian. Es ist nicht deine Schuld. Und wenn es unser Schicksal ist, für unsere Liebe zu sterben, dann bin ich bereit, es anzunehmen.“ Er spürte ihren Schmerz und wusste, dass es nicht die Ahnung der bevorstehenden Trennung war, sondern die Erinnerung an vergangene Zeit. Eine Zeit, in der er sie verlassen hatte. Er spürte ihr Verständnis. Sie hatte verstanden, warum er es getan hatte, doch es hatte ihr so weh getan, wie er geschworen hatte, sie niemals zu verletzen. Er hatte sie leiden sehen und hatte nichts tun können, hatte sein Versprechen, immer für sie da zu sein, nicht halten können, weil seine Liebe zu ihr stärker als alles andere gewesen war – und das hatte ihren Untergang besiegelt.
Die Elfenkönigin war eine wunderschöne, stolze Frau. Eine Frau, die immer bekam, was sie wollte und sie wollte ihn. Er hatte sie abgewiesen, zwei Mal, was bisher keiner gewagt hatte, aber sein Herz gehörte unwiderruflich und unwiederbringlich einer anderen Frau. Doch die Königin war eine grausame Frau und so hatte sie seine Nilah entführt und endlosen Schmerzen ausgesetzt. Livian hatte um ihr Leben gefleht, hatte der Königin alles angeboten, sogar sein eigenes Leben, wenn sie nur Nilah verschonte. Ohne Nilah war sein Leben nichts wert. Die Königin war bereit, Gnade walten zu lassen, sofern er sich ihr anschloss, ihr diente und sie liebte. Er konnte es nicht, aber für Nilah war er bereit gewesen, dieses Opfer zu bringen. Er verleugnete seine Liebe zu ihr und schloss seine wahren Gefühle tief in seinem Herzen ein, um sie damit zu schützen. Ihr Leben gegen sein Glück. Aber er zahlte damit auch den hohen Preis ihres Glücks und hatte ihr damit größeren Schmerz bereitet, als die Elfenkönigin jemals gekonnt hätte.
Sie wandte sich von ihm ab, was er ihr nicht verdenken konnte, und schloss sich den Feinden des Elfenreiches an. Seine mutige, kluge Nilah schaffte es, Verhandlungen in Gang zu setzen und den Krieg für eine Weile zum Ruhen zu bringen. Einem Krieg, in dem er an der Seite der Königin gekämpft und getötet hatte, eine Aufgabe, die ihn mit jedem Tag mehr zerstörte und dunkle Flecken auf seiner Seele hinterließ. Und seine Nilah war nicht da, um Licht in sein Leben zu bringen, sondern stand ihm auf der gegnerischen Seite gegenüber. Er hatte ihr das Herz gebrochen, aber auch sein eigenes in tausend Scherben gestürzt. Doch jedes Mal, wenn er sie sah, fühlte es sich wieder lebendig an. Der Schmerz erinnerte ihn daran, lebendig zu sein und drückte ihm zugleich so schwer auf die Brust, dass er manchmal glaubte, nicht mehr atmen zu können.
Es ist allen Kummer und alles Leid wert, das wir durchleben. Unsere Liebe wird alles überwinden. Du bist es wert, erklang ihre Stimme in seinem Kopf. Erinnerst du dich an den Anfang vom Ende? Er wusste auch ohne, dass sie ihm die Erinnerung zeigte, was sie meinte. Er brauchte nicht ihre fragmentarisch auf ihn einstürzenden Erinnerungen, die sich mit den seinen vermischten und zu einem Bild wurden.
Er war im Kampf verletzt worden und von seinen Feinden gefangen worden. Sie hatte ihn gerettet und ihn versorgt. Auch wenn sie ihm sagte, dass sie ihn nur am Leben hielt, weil sie seine Informationen brauchten, wusste er, dass sie ihn immer noch liebte. Dass sie ihn mehr liebte als alles andere auf der Welt und dass es ihr damit genauso ging wie ihm. Dass sie ihn schon immer geliebt hatte und dass sie ihn immer lieben würde. Und er wollte keinen weiteren Tag ohne sie leben.
Sie ließ es ihn nicht erklären und auf seinen überfallartigen Kuss hin, verpasste sie ihm eine Ohrfeige, die sich gewaschen hatte. Doch als sie gehen wollte, hielt er sie fest. Weil er sie nicht wieder gehen lassen würde. Es war unwichtig, warum sie sich getrennt hatten. Wichtig war nur, dass sie wieder zusammen waren und einander in allen schweren Zeiten zur Seite standen. Mit ihr an seiner Seite fühlte es sich an, als könnte er endlich wieder atmen. Und ihr ging es genauso.
Es war unser zweiter Anfang und ich bereue ihn nicht. Auch wenn er uns an diesen Ort geführt hat, wir sind den Weg gemeinsam gegangen und darauf kommt es an.
Vielleicht hatte sie Recht. Sie hatten gekämpft. Seite an Seite. Für ihre Liebe. Für den Frieden. Aber sie hatten verloren. Die Königin verzieh nicht. Und ihrer beiden Tod würde sämtliche Bemühungen um den Frieden wieder um Jahre zurückwerfen. Unzählige Tote würden noch folgen in einem sinnlosen Krieg, dessen Ausgang noch völlig ungewiss war. Sie würden das Ende nicht mehr erleben. Sie würden nicht einmal mehr den nächsten Morgen erleben oder den Aufgang des Mondes in dieser Nacht.
Erinnerst du dich an den Tag unseres Kennenlernens?, fragte er sie und brauchte ihr Ja nicht. Keiner von beiden würde den Tag vergessen, an dem sie sich als kleine Kinder unter dem Weidenbaum auf der bunten Blumenwiese das erste Mal getroffen hatten. Er hatte ihr einen Blumenkranz geschenkt, damit sie ihm von ihren Keksen gab. Und er hatte ihr gesagt, dass er sie eines Tages zu seiner Prinzessin machen würde, obwohl er natürlich kein Prinz gewesen war – höchstens in dem kleinen Königreich ihrer Träume. Nilah war vom ersten Moment an die Königin seines Herzens gewesen. Ein Umstand, den die Elfenkönigin nicht akzeptieren konnte, aber sie würde es niemals ändern können. Sein Herz würde für immer Nilah gehören. Ich hatte es ernst gemeint, dich eines Tages heiraten zu wollen. Ich wünschte, wir hätten nicht so viel Zeit vergeudet und jeden Moment genutzt, jede Minute, die wir hatten, intensiv gespürt. Ich wünschte, wir hätten ein ganzes Leben, eine ganze Ewigkeit, aber unsere kleine Ewigkeit muss uns genügen. Ich liebe dich, Nilah. Und diese simplen Worte können gar nicht ausdrücken, wie tief meine Gefühle für dich wirklich gehen.
Ich liebe dich, Livian. Wir sehen uns in einer anderen Welt, einem anderen Leben und dann wird uns die Ewigkeit gehören.
Der Schmerz raubte ihm den Atem. Mit einem Mal waren ihre Gefühle, ihre Gedanken, ihre ganze Präsenz fort. Die Verbindung war abgebrochen.
Keine letzte Berührung, kein letzter Kuss war ihnen erlaubt gewesen. Nur eine geistige Umarmung, von der nun nichts mehr als absolute Leere in seinem Herzen und in seinem Kopf geblieben war. Sie war tot. Und er spürte, wie auch seine Lebenslichter zu erlöschen begannen. Er würde Nilah wiedersehen. Sie würden ihre Ewigkeit bekommen – in der einen oder der anderen Welt, was für einen Unterschied machte das schon?
„Ich werde dich zu meiner Prinzessin machen, wenn ich groß bin“, verkündete der dunkelhaarige Junge lautstark.
„Du bist doch gar kein Prinz!“
Er zuckte mit den Schultern. „Das ist doch egal. In meinem Leben wirst du die Prinzessin sein, ach was, du wirst meine Königin sein! Unsere Leben werden für die Ewigkeit verbunden sein – selbst über den Tod hinaus.“