In seinem letzten Moment musste er an Marlie denken. Marlie, die seine beste Freundin war, seit sie als Kinder zusammen Sandkuchen gebacken hatten. Wobei eher sie die Kuchen gebacken und er sie immer geärgert und sich hineingesetzt hatte, wofür sie ihn immer mit Schlamm beworfen hatte. Ja, ihre Freundschaft war nie leicht gewesen, sie hatten sich immer gestritten, aber sie waren dennoch immer füreinander da gewesen und darauf war es angekommen.
Er erinnerte sich daran, wie sie wochenlang nicht mit ihm gesprochen hatte, als er ihr eröffnet hatte, dass er als Hubschrauberpilot zur Küstenwache gehen würde. Sie hatte es für zu gefährlich gehalten und hatte versucht, es ihm auszureden. Aber er hatte nicht auf sie gehört und störrisch wie sie war hatte sie sich geweigert, auch nur ein Wort mit ihm zu reden. Als er es nicht mehr ausgehalten hatte, nicht mit ihr zu reden, war er über seinen Schatten gesprungen und hatte sie zu sich an die Küste eingeladen, wo er seine Ausbildung machte. Ihre Antwort war nur sehr einsilbig gewesen, aber sie war gekommen. Doch auch als er ihr alles gezeigt, hatte sie eisern geschwiegen. Und dann hatte sie seinen Kollegen kennengelernt, einen perfekten Schönling, der mit jeder hübschen Frau flirtete und sie innerhalb von Minuten rumkriegte. Natürlich machte er auch vor Marlie nicht halt und Jaron erinnerte sich, wie ihm das Herz schwer geworden war. Doch Marlie hatte sich nicht von seinem Charme becircen lassen. Sie hatte das Gesicht verzogen und seinem Kollegen einen dummen Spruch reingewürgt, wie sie es seitdem immer getan hatte. Er hätte sie in diesem Moment echt küssen können. Obwohl sie immer noch sauer auf ihn war, stand sie auf seiner Seite. An seiner Seite. So wie es seit jeher gewesen war und immer sein würde.
Er wusste nicht, warum er sich ausgerechnet jetzt darin erinnerte. Jetzt, wo er völlig alleine mitten in der Weite des riesigen Ozeans trieb.
Er hatte es Marlie einmal erklärt, warum er zur Küstenwache gegangen war. Er liebte das Fliegen und er liebte die Gefahr und das Abenteuer. Er liebte es, hinaus in den Sturm zu fliegen, wenn der Rest der Welt die Augen verschloss und sich in den sicheren Häusern verkroch.
Es gefiel ihm, ein Held zu sein. Das hatte sie ihm vorgeworfen. Und dann hatte sie gelächelt und ihm in die Seite gestupst, wie sie es immer tat, wenn sie ihm nicht länger böse sein konnte.
Es gefiel ihm, dass er hinausflog, um Leben zu retten, obwohl er nie wissen konnte, ob er zurückkehren würde, obwohl eine Rückkehr stets ungewiss war. Er hatte immer über die Gefahr Bescheid gewusst, hatte immer gewusst, dass er sterben könnte und doch war es anders, als die Realität ihn so plötzlich einholte, als es so plötzlich real wurde, dass er sein Leben heute verlieren würde. Es waren zwei völlig unterschiedliche Gefühle, das Wissen zu haben und es zu erleben. Er bereute, dass er nicht mehr mit Marlie gesprochen hatte, bevor er geflogen war. Er hatte ihr gesagt, er würde sich morgen melden. Ohne zu ahnen, dass es kein Morgen mehr geben würde. Es sei wichtig, hatte sie gesagt. Es würde nicht davonlaufen, hatte er geantwortet. Nun würde er nie erfahren, was sie ihm so Dringendes hatte sagen wollen.
Vielleicht dachte er deshalb an sie, weil ihn das schlechte Gewissen verfolgte.
Aber es war gut so. Er wollte an Marlie denken, wenn er starb. Er wollte sich an die guten Stunden mit ihr erinnern, die schönen Erinnerungen bewahren, wenn er seinen letzten Atemzug tat und im Meer versank, wenn es ihn bis in alle Ewigkeit verschluckte.
Sein Kollege hatte ihm einmal gesagt, dass er sich wünschte, er hätte eine Freundin wie Marlie. Jaron war verwirrt über seine Worte gewesen. Er hatte sich immer gewünscht, wie sein Kollege zu sein. Er wurde von den Frauen bewundert, von den Männern beneidet. Er war perfekt in jeder Hinsicht und lebte das perfekte Leben und doch schien er ihn um das zu beneiden, was Jaron hatte. Jaron hatte immer gedacht, neben ihm würde er verblassen. Als er ihm davon erzählt hatte, hatte sein Kollege gelacht. Er hatte gesagt, dass er sich nur eine Person wünschte, die ihn über alle anderen stellte, eine Person, für die er die Welt bedeuten würde – genauso wie es bei Marlie und ihm wäre. Bei Marlie war es nicht Jaron gewesen, der neben seinem Kollegen verblasst sei, sondern genau umgekehrt.
Es war seltsam, dass er erst in diesem Moment die Worte seines Kollegen richtig zu verstehen begann. Marlie war seine beste Freundin – und noch so viel mehr. Sie war sein Leben. Und er war ihres. Hunderte Male hatte er sich gefragt, was das Glitzern in ihren Augen bedeutete, wenn sie ihn ansah. Vielleicht hatte es bedeutet, dass er ebenfalls ihre Welt war. Vielleicht war sie deshalb so wütend über seinen gefährlichen Job gewesen. Vielleicht hatte sie einfach Angst gehabt, ihn zu verlieren. Er bereute es, dass er ihr nie gesagt hatte, dass er sich niemals jemand anderen als sie an seiner Seite hätte vorstellen können.
Vielleicht endete ihre Geschichte, bevor sie wirklich begonnen hatte. Vielleicht war ihre Geschichte aber auch einfach die einer unglaublichen Freundschaft mit Höhen und Tiefen. Wie würde ihre Geschichte enden?
Er würde es nie erfahren.