Als sie an diesem Morgen aufgestanden war, hatte sie das Gefühl gehabt, dass sie an diesem Tag sterben würde. Ihre Freundin hatte sie trotz ihres Widerstrebens aus dem Bett geworfen und sie war zur Arbeit gegangen, hatte sich eingeredet, dass ihr Gefühl blödsinnig sei. Und nun stand sie hier. In der Hand eine scharfe Bombe, den Tod in der Hand, denn eine kleine Bewegung könnte ihr Ende bedeuten. Dabei hatte sie nur ihren Job machen und Menschen retten wollen.
„Es wird alles gut werden“, versprach der Bombenspezialist der Polizei, den man geschickt hatte, um die Bombe zu untersuchen und zu entschärfen, während der Rest seines Teams das Gebäude evakuierte. Er sah mit dem Schutzanzug und dem Helm aus wie ein Michelinmännchen und beinahe hätte sie gelacht, wenn ihre Hand nicht schon genug zittern würde. Sie fragte sich, ob ihn das wirklich schützen würde, wenn die Bombe jetzt explodieren würde. Dass sie keine Chance hatte, wusste sie selbst.
Der Mann nahm den Helm ab. Sie wusste nicht, ob er es tat, weil er so besser sehen konnte oder weniger angsteinflößend auf sie wirken wollte. Sicherlich war es gegen die Vorschriften, aber sie war dankbar dafür. So konnte sie ihm besser in die Augen sehen, sie konnte sehen, dass auch er sich sorgte, aber dass er zuversichtlich war. „Mein Name ist Charlie Jacobs. Und Ihrer?“ Er versuchte anscheinend Konversation zu betreiben, um sie zu beruhigen. Und irgendwie funktionierte es. Sie fühlte sich schon sicherer, weil er hier war. Er würde sie bestimmt retten.
„Jayme. Jayme Beckett.“
„Würden Sie lachen, wenn ich jetzt einen James-Bond-Witz mache?“
Sie konnte sich gerade noch ein zittriges Lachen verkneifen. „Vermutlich.“
„Na gut, dann lasse ich das lieber.“ Er zwinkerte ihr kurz zu, bevor er mit der Untersuchung der Bombe fortfuhr.
„Haben Sie das schon oft gemacht?“, fragte sie das Erste, was ihr in den Kopf kam. Sie wollte nicht, dass er aufhörte zu reden und sie in ihrer Angst versank, aber sie hätte wohl ein deutlich besseres Thema finden können. Sie nickte auf die Bombe, als er sie fragend anschaute. Er hatte schöne Augen… In einer anderen Situation hätte sie ihn vielleicht auf einen Kaffee eingeladen, ein wenig mit ihm geflirtet.
„Oft genug“, antwortete er, was sie nicht unbedingt beruhigte, aber es war zumindest eine ehrliche Antwort.
„Schützt der Anzug wirklich?“
„Wenn ich so dicht bei der Bombe stehe, eher nicht.“
„Werden Sie also gehen, wenn die Zeit abläuft und Sie die Bombe bis dahin nicht entschärft haben?“
Er warf ihr einen prüfenden Blick zu. „Nein.“
„Warum nicht? Warum wollen Sie auch noch Ihr Leben aufs Spiel setzen?“
„Ich lasse niemandem im Stich“, entgegnete er energisch. Für ihn schien es da keine Widerrede zu geben. Und so egoistisch ihr der Gedanke auch vorkam, sie war froh, wenn er hierblieb. Sie hatte furchtbare Angst und wollte niemanden zu ihrem Schicksal verurteilen, aber sie hatte Angst, alleine zu sterben.
„Wie das wohl ist? Wenn man in einem Augenblick da ist und im nächsten… einfach nicht mehr?“, sinnierte sie, wobei sie mehr zu sich selbst sprach als zu ihm.
„Sie sollten nicht darüber nachdenken. Es wird alles gut werden“, ermahnte er sie konzentriert.
„Entschuldigung, aber ich kann nicht anders. Sie sehen dem Tod täglich ins Auge. Haben Sie da nicht manchmal das Gefühl, dass dies Ihr letzter Tag sein könnte?“
„Das Gefühl habe ich oft, aber bisher hat es sich nie bewahrheitet, also wird es auch heute nicht der Fall sein.“
„Haben Sie sich denn nie darüber Gedanken gemacht, wie Sie Ihren letzten Tag verbringen wollen?“
Er zögerte. „Manchmal.“
„Ich schätze mal, durch eine Bombe sterben, die eine Frau in der Hand hält, zählt nicht dazu, oder?“
Er schmunzelte. „Nicht unbedingt, obwohl es auch schlimmer ginge. Vor allem wenn es so eine hübsche Frau ist.“ Charlie zwinkerte ihr zu.
„Flirten Sie immer mit Frauen, die eine Bombe in der Hand halten?“
„Nein, für gewöhnlich nicht.“ Er grinste. „Aber wenn es Ihnen recht ist, würde ich Sie gerne nach einem Date fragen, wenn wir hier fertig sind.“
Er wirkte so überzeugt, dass diese Sache ein gutes Ende nehmen würde. Allmählich begann sie ebenfalls dran zu glauben. „Na, dann werde ich mit einer Antwort auch warten, bis wir hier fertig sind. Lange dauert es ja nicht mehr…“, murmelte sie, als ihr Blick auf den Timer fiel, der nur noch eine Minute anzeigte. Die Zeit war ihr wie Sand durch die Finger geronnen. Wie seltsam, dass ihr vielleicht nur noch genau eine Minute auf Erden bleiben würde. „Wie sieht es aus?“
Ein Schweißtropfen lief über seine Stirn und er kniff angestrengt die Augen zusammen. „Ich habe zwei Drähte isoliert. Wenn ich den einen durchschneide, ist die Bombe entschärft, wenn ich den anderen durchschneide, geht sie hoch. Leider lässt sich nicht feststellen, welcher Draht der Richtige ist, da ich das Gehäuse ausbauen müsste und dafür bleibt keine Zeit mehr.“
40 Sekunden.
„Das heißt, wir haben eine 50-50-Chance?“
Er nickte und starrte auf die beiden Drähte, als hoffte er, sie würden ihm ihr Geheimnis verraten.
30 Sekunden.
Charlie schien sich für einen Draht entschieden zu haben, denn er setzte die Schere an.
„Ist es vermessen, wenn ich mir einen letzten Kuss wünsche?“, sprach sie, bevor sie darüber nachdenken konnte. Sie war nervös, sie hatte Angst. Und sie wollte alles um sich vergessen.
„Ja, ist es.“ Er grinste.
20 Sekunden.
Charlie beugte sich zu ihr hinab und ehe sie sich versah, lagen seine Lippen auf ihren. Ein kurzer, süßer Kuss, dann löste er sich wieder von ihr.
10 Sekunden.
Er durchtrennte den Draht.
Die Welt stand für einen Augenblick still. Und dann verschwand sie in einer Wand aus Feuer und Asche und war nicht mehr.