Sonne und Mond – seit Anbeginn der Zeit in einem unendlichen Kampf verstrickt. Sie sind eins und doch getrennt.
Ich war noch klein, als ich der Sonne begegnete. Er sah aus wie ein junger Mann, auch wenn ich in seinen Augen die Jahrtausende lesen konnte, die bereits hinter ihm lagen. Er nahm mich bei sich auf und wir wurden Freunde. Er lehrte mich und ich leistete ihm Gesellschaft. Er wurde für mich wie ein großer Bruder. Ich glaube, er genoss es, einmal der große Bruder zu sein, da er sonst nur der kleine Bruder war. Denn die Dunkelheit war bereits vor dem Licht da. Die beiden Brüder sahen sich nicht oft, ihre Natur war einfach zu unterschiedlich. Die Sonne war hell und strahlend wie der Tag, der Mond düster und grimmig wie die Nacht. Nur manchmal begegneten sich die beiden Brüder und dann verdunkelte der Mond den Tag.
Ich weiß nicht mehr, was der Auslöser war, aber eines Tages begannen die Brüder einen furchtbaren Streit. Und ein Krieg begann, der die Grundfesten der Erde und allen Lebens bedrohte.
Ich versuchte, mit der Sonne zu reden. Ihn zu überzeugen, dass es nur ein Missverständnis sein konnte. Aber er war so gefangen in seinem Zorn, dass er mich verbrannte. Seit diesem Tag trug ich eine Narbe, ein Blitz, der mein Gesicht zerteilte.
Ich überlebte, weil mich ein junger Mann fand, der mich wieder gesund pflegte. Ich blieb auch danach bei ihm. Weil es keinen anderen Ort gab, wohin ich gehen konnte. Ich war ein Niemand, kannte meine Eltern nicht, und die einzige Familie, die ich noch hatte, hatte mich verraten.
Wir verliebten uns, während wir dabei zusehen mussten, wie die Welt zu zerfallen begann.
Und als ich an diesem Morgen erwachte, wusste ich, dass es das Ende sein würde. Ich wusste nicht, welches Ende es sein würde, aber ich war bereit, es anzunehmen. Das Leuchten des Kampfes der beiden göttlichen Brüder war weithin sichtbar.
Alles Leben, das noch existierte, wurde wie magisch angezogen und erreichte bald das endlose Meer, an dessen Ufer sich die Brüder einen tödlichen Kampf lieferten. Die Erde bebte und niemand vertraute mehr dem Boden unter seinen Füßen. Wie von einem magischen Bann bewegt, ging alles Leben ins Wasser. Die Tiere, die Menschen, selbst die Samen der Pflanzen suchten Schutz in den Tiefen des weiten Ozeans. Ich folgte ihnen, während ich wie gebannt dem letzten Kampf zuschaute. Ich bangte um das Leben meines Freundes, ich bangte um das Leben seines Bruders. Denn ich wusste, wenn einer der Beiden sterben würde, würde die Welt aus dem Gleichgewicht geraten und untergehen. Diesen Kampf konnten die Brüder nicht gewinnen, weil sie gegen den mächtigsten Feind kämpften: sich selbst.
Es ist der Moment, als der Mond erlischt.
Wie seltsam, dass ich erst im letzten Moment begreife, dass mein ganzes Leben sich nur auf diesen einen Punkt zubewegt hat. Ich spüre es in mir, ich spüre die Verbindung, die ich zu dem toten Bruder habe. Ich spüre, dass es nur noch eine Möglichkeit, eine letzte Chance, gibt.
Ich schreite durch das Wasser, fühle kaum den Widerstand. Ich spüre meine Liebe hinter mir, bis ich endlich bei der Hülle angekommen bin, die einst das Licht und die Seele des Mondes beherbergt hat. Sie steigt empor, hinauf in den Himmel und ich schaue ihm nach, während ich mich auf dem Rücken treiben lasse, den erloschenen Mond über mir, wie er mit toten Augen auf mich herunterblickt, er, der mich in diese Welt geholt hat. Damit ich ihm eines Tages meine Kraft schenken kann.
Es wird mein Tod sein, aber es ist unsere einzige Chance, diese Welt zu retten. Ich merke, wie meine Liebe begreift, was geschehen wird. Er versucht nicht, mich aufzuhalten. Er umfasst mich und lässt sich mit mir treiben. Wir schweben. Ein letzter Kuss, eine letzte Umarmung. Wir tauchen in das Wasser ein, während sich unser Atem im Wasser verbindet und an die Oberfläche steigt. Wir können in diesem Leben nicht zusammen sein, aber dafür werden wir ein anderes Leben haben.
Noch heute, wenn der Mond über den Himmel wacht, spürt er das neue Leben in sich, fühlt die beiden Liebenden und ihre immerwährende Verbindung.