Manchmal, wenn ich morgens aufwache und die Sonnenstrahlen mir im Gesicht kitzeln, weine ich und weiß nicht wieso. Da ist das Gefühl, dass ich etwas verloren habe. Und es hält an und begleitet mich wie ein Schatten, der sich über die Sonne legt. Ich weiß nicht, was es ist, was ich verloren habe, aber ich fühle mich, als wäre ich ständig auf der Suche.
Und manchmal, wenn ich morgens aufwache und die Regentropfen gegen mein Fenster prasseln, dann erinnere ich mich. Wie jeden Regentag gehe ich hinaus, lasse die Regentropfen mein Haar durchnässen und meine Kleidung. Es kümmert mich nicht. Ich gehe langsam, zwänge mich durch die Massen an Menschen, die sich unter ihren Regenschirmen verstecken und eilig durch die Pfützen hasten.
Mein Ziel ist immer das gleiche. Ein Park, der an Regentagen völlig verlassen da liegt. Ein Pavillon, der vor dem Wind und dem Regen Schutz bietet und den dennoch keiner aufsucht, wenn der Regen auf das Blätterdach prasselt und die Welt sich hinter einem Schleier versteckt, der sich aus den fallenden Tropfen bildet. An Sonnentagen ist es anders. An Sonnentagen ist es nie so still wie wenn der rauschende Regen den Boden durchweicht.
Es war an einem Regentag, an genau diesem Platz, als ich ihr das erste Mal begegnet bin. Anfangs sprachen wir kein Wort, aber ich spürte, dass sie sich genauso wie ich verloren in der realen Welt fühlte. Und dann, eines Tages, begannen wir uns gegenseitig von unseren Leben zu erzählen, von unseren Ängsten und Wünschen, von unseren Problemen und Träumen. Wir trafen uns an allen Tagen, in denen es regnete, ein ganzes Jahr lang. Doch an dem Tag genau ein Jahr, nachdem wir uns das erste Mal begegnet waren, kam sie nicht. Ich wartete bis in die Nacht hinein, doch von ihr fehlte jede Spur. Und auch an allen sonstigen Tagen kam sie nicht wieder.
Es gab so viele Dinge, die ich ihr gerne hatte erzählen wollen. Doch die Zeit verging und ich sah sie nie wieder. An manchen Tagen, wenn die Sonne die Welt in ein warmes Licht tauchte, das mich kalt im Inneren fühlen ließ, vergaß ich sie sogar. Ich vergaß ihren Duft, ihr weiches Haar, ihre leuchtenden Augen. Ich vergaß ihren Namen und ihr Lächeln.
Ich suchte nach ihr. Wann immer die verblassende Erinnerung an den Regentagen zurückkehrte, versuchte ich sie zu finden. Es dauerte lange, bis ich sie fand. Oder zumindest Informationen über sie. Denn sie war vor drei Jahren bei einem schrecklichen Unglück in einem kleinen Dorf, das von einem See verschluckt worden war, ums Leben gekommen. Es war unmöglich. War sie vielleicht nur ein Traum gewesen? Ein Traum, den ich bereits zu vergessen begann, wann immer die Sonne schien? Hatte ich ein Leben im Traum geführt ohne es zu wissen, ohne es zu merken? Ich verstand es alles nicht, ein Rätsel, das sich mir nicht erschließen wollte. Und am schlimmsten war, wie sehr ich sie vermisste. Wie sehr ich es vermisste, mit ihr zu reden.
Es ist die Nacht der fallenden Sterne, als ich zu unserem Pavillon zurückkehre. Tausende Sternschnuppen sausen über den Himmel, erhellen die Nacht mit ihrem glühenden Schweif. Ich wünsche mir nichts, weil ich weiß, dass mein Wunsch nicht in Erfüllung gehen wird. Ich hatte ein Leben in einem Traum gelebt, ein Traum, der wie eine Seifenblase zerplatzt ist.
Das Pavillon ist verlassen. Niemand hat sich in der dunklen Nacht hier hinausgewagt, denn auch heute prasselt der Regen auf mich nieder. Die Wolken verdecken die Sternschnuppen, doch zwischendurch sehe ich sie hinter den dunklen Schatten aufblitzen. Ich betrete unseren Ort und es fühlt sich an, als ob ich in eine andere Welt steige. Es ist, als wäre sie wieder bei mir, als stünde sie direkt neben mir. Ich kann sie fühlen, ihren Duft riechen, obwohl ich sie nicht sehen kann und nicht anfassen. „Es ist schön, nicht wahr?“, ertönt ihre Stimme in meinem Kopf.
Ich schaue hinauf in den Himmel, zu den dicken Regenwolken, den funkelnden Lichter dazwischen, und nicke. „Ja, das ist es.“
Ich frage mich nicht, ob sie wirklich ist oder ob sie nur ein Traumgespinst ist. Es ist bedeutungslos. Hier und heute, an diesem Ort, überschneiden sich unsere Zeiten. Ich kann sie nicht sehen, nicht berühren, aber ich kann mit ihr sprechen. Sie ist da und auch doch wieder nicht. In dem Dämmerlicht der Nacht steht sie neben mir, nach all meiner Suche, nach all meiner Sehnsucht, und ist doch unendlich weit von mir entfernt.
„Du musst aufhören, nach mir zu suchen, das weißt du, nicht wahr?“, erklingt ihre Stimme erneut.
„Warum? Warum bin ich dabei, dich zu vergessen?“
„Weil ich eigentlich gar nicht mehr wirklich existiere. Vielleicht habe ich das auch niemals, die Erinnerung an mich ist mit mir gestorben.“
„Warum kann ich dann mit dir reden?“
Ich warte lange auf eine Antwort. Erst als ich schon denke, dass sie mir nicht mehr antworten will oder gar wieder fort ist, vernehme ich ihre leise Stimme: „Dieser Ort ist seit den alten Zeiten ein heiliger Ort. An diesem Ort überqueren die Seelen den Fluss ins Jenseits. Nur die Toten weilen an diesem Ort.“
„Warum bin ich dann hier? Bin ich auch tot?“
„Nein, du bist nicht tot. Du hast den Fluss ins Jenseits überschritten, aber du bist lebendig und kannst zurückkehren. Aber eine Rückkehr ins Diesseits hat immer einen Preis. Du wirst das Wichtigste zurücklassen müssen, das, was dir am meisten bedeutet.“
„Und was wäre das?“
„Deine Erinnerung an mich.“
Ich schweige. Ebenso wie sie. „Und wenn ich das nicht will?“, frage ich schließlich.
„Dann wirst du zwischen den Welten treiben. So wie ich. Und du wirst mich trotzdem vergessen. Langsamer vielleicht. Aber die Erinnerungen an dein ganzes Leben werden dahinschwinden wie die Wellen im Meer.“
In diesem Moment endet der Regen und der Mond schiebt sich für einen Augenblick hinter den Wolken hervor. Ihre Silhouette scheint sich für eine Sekunde vor dem Licht abzuzeichnen, dann verblasst sie und verschwindet.
Als ich in dieser Nacht in die reale Welt zurückkehre, träume ich von ihr. Doch schon bald beginne ich zu vergessen, bis nicht einmal der Regen die ferne Erinnerung hervorzuholen vermag, außer dem Gefühl, etwas verloren zu haben, das nie zurückkommen wird.