„Bedienung!“ Der laute Ruf mit diesem arroganten Tonfall übertönte das Stimmengewirr im Saal weithin. Unwillkürlich schoss Josies Blick zum Urheber des Rufes, der am Tisch der VIPs saß. Sie hatte keine Ahnung, wer er war, aber sicherlich war er sehr wichtig – zumindest hielt er sich offenkundig dafür. Und sein Blick lag genau auf ihr. „Na, wird es bald?“, herrschte er sie an. Was zum Teufel wollte der Mann von ihr? Nach einem kurzen Zögern trat sie näher an den Tisch heran. „Na endlich“, gab der Fremde genervt von sich. „Bring uns den besten Champagner des Hauses!“
„Entschuldigung, aber ich bin keine-“ Kellnerin, wollte sie sagen, doch der Mann ließ sie den Satz nicht einmal beenden. „Es interessiert mich nicht, für was Sie sich halten. Bringen Sie uns den Champagner, wird es bald?“
Augenverdrehend wandte sie sich ab, um sich auf den Weg in die Küche zu machen und ihm die gewünschte Flasche Champagner zu bringen. Mit solchen Leuten konnte man einfach nicht diskutieren. Ihr würde schon etwas einfallen, um den Kerl von seinem hohen Ross zu schubsen. Und sie wollte keine andere Kellnerin auf ihn loslassen. Dass er sie verwechselt hatte, konnte sie ihm nicht mal übelnehmen, immerhin trug sie zwar kein Kellner-Kostüm, aber das dunkle Kleid konnte auf den ersten Blick als eines durchgehen. Und da sie wie die Kellner eine Maske trug, war die Verwechslung naheliegend. Aber die Maske war nun einmal ihr Markenzeichen und nur deswegen trugen die Kellner auf dieser Veranstaltung ebenfalls welche. Immerhin war das ihre Feier, wenn man es so sehen wollte. Es war ein Benefizkonzert, zu der die Reichsten und Mächtigsten des Landes eingeladen worden waren, um für Kinder in Not zu sammeln. Sie hielt nicht viel von der ‚Elite‘ – worin der Mann sie einmal mehr bestärkt hatte – und mischte sich lieber unter das einfache Volk, aber ihr Partner glaubte, dass die Reichen mehr leisten könnten, obwohl sie der Meinung war, dass man nur umso geiziger wurde, je reicher man war.
„Oh, Miss, ähm, Lightning?“, stammelte der Oberkellner, als sie in der Küche ankam.
Freundlich lächelte sie ihn an. „Einfach Josie“, korrigierte sie ihn. Lightning war der Name ihrer Band, die in den letzten Jahren zu einer der erfolgreichsten internationalen Bands geworden war. Trotzdem hatte sie sich bemüht, den Ruhm nicht zu Kopf steigen zu lassen und bodenständig zu bleiben. Es half, dass sie ihre Privatsphäre radikal schützte und nur mit Maske in der Öffentlichkeit auftrat, sodass sie sich ohne Aufmerksamkeit an normalen Tagen ohne Verkleidung als normaler Mensch durch die Öffentlichkeit bewegen konnte. Man kannte sie nur unter ihrem Spitznamen ‚Josie‘, der kaum zu ihrer Person zurückverfolgbar war. Sie rückte mit ihrem Anliegen raus: „Der eine Herr vom VIP-Tisch will den besten Champagner.“ Sie konnte nicht verhindern, dass sie das Herr reichlich spöttisch aussprach.
Der Oberkellner verdrehte die Augen. Offenbar wusste er genau, wen sie meinte. „Mr. Langdon.“
Der Name kam Josie bekannt vor. Wenn sie sich nicht irrte, handelte es sich um den CEO eines Unternehmens, das mit IT Milliarden verdient hatte. Der Name des Unternehmens wollte ihr nicht einfallen, aber das war auch nicht wichtig. In ein paar Stunden würde der Idiot ihr Leben wieder verlassen und hätte hoffentlich eine ordentliche Summe für ihr Anliegen dagelassen. Das war alles, worauf es ankam. Nächstes Jahr würde sie darauf bestehen, dass sie kein Exklusiv-Konzert gaben, sondern für alle offen singen würden, damit jeder seinen Teil beisteuern konnte statt diese reichen Idioten anzubetteln, die sich dadurch nur noch mehr wie der Mittelpunkt der Welt fühlten.
Der Oberkellner holte die gewünschte Flasche Champagner und reichte sie einer der Kellnerinnen, doch Josie hielt ihn auf. „Ich mache das schon.“
„Sind Sie sicher?“
„Natürlich. Mr. Langdon hat mich gebeten, die Flasche zu besorgen und genau das werde ich auch tun.“
Der Oberkellner wirkte nicht begeistert – vermutlich sorgte er sich, dass sie etwas anstellen könnte -, protestierte jedoch nicht. Und so kehrte sie mit dem Champagner in einem Eiskübel zurück. Als sie bei dem Idioten ankam, warf dieser gerade einen Blick auf die Uhr. „Der Auftritt dürfte bald beginnen. Wollte diese Sängerin nicht vorher hierherkommen? Sie ist viel zu spät!“
Von Wollen konnte keine Rede sein. Einer der Kellner hatte ihr ausgerichtet, als sie hinter der Bühne alle Vorbereitungen getroffen hatten, dass jemand sie gerne persönlich kennenlernen würde, bevor der Auftritt begann. Es hatte mehr wie ein Befehl statt wie eine Bitte geklungen und sie hatte keine besondere Lust gehabt, dem nachzukommen, aber ihr Partner hatte sie beschworen, dass es vielleicht die Spenden erhöhen würde, also hatte sie sich widerwillig auf den Weg gemacht – nur um zur Kellnerin degradiert zu werden.
„Vielleicht hat Ihre unglaublich charmante Art sie abgeschreckt“, sagte Josie, wobei der Satz vor Ironie nur so troff. Sie stellte den Eiskübel neben Mr. Langdon auf den Tisch – ein bisschen zu heftig offenbar, denn einer der Eiswürfel hopste heraus und landete auf Langdons Hose, der sofort aufsprang. „Können Sie nicht aufpassen?“, zischte er und starrte sie wütend an.
Josie verdrehte die Augen. „Es ist nur gefrorenes Wasser. Stellen Sie sich nicht so an.“
„Sie wagen es, mich zu kritisieren?“ Seine Stimme war gefährlich ruhig, aber Josie hatte sich noch nie leicht einschüchtern lassen. Von klein auf hatte sie sich durchgeboxt, hatte die Drogensucht ihrer Mutter mit angesehen, hatte die Schläge ihres Stiefvaters ertragen, hatte auf der Straße gelebt und mit Hunger gekämpft. Und sie war auch nicht ein Star geworden, weil sie bei der ersten Schwierigkeit aufgab. Nein, sie hatte immer gekämpft. Und ein Kerl, der sich für den Mittelpunkt der Welt hielt, schüchterte sie nicht ein. „Für wen halten Sie sich?“, zischte er.
„Wer ich bin oder für wen ich mich halte, spielt keine Rolle. Sie halten sich ganz offenkundig für etwas Besseres und Menschen wie Sie, die mit anderen auf diese Weise umspringen, sind hier nicht willkommen.“ Sie gab zwei Männern von der Security einen Wink und gab ihnen die Anweisung: „Begleiten Sie Mr. Langdon bitte nach draußen. Er wurde soeben ausgeladen.“
„Wie können Sie es wagen?“
„Das ist ganz allein Ihr Verdienst. Das hier ist meine Veranstaltung und hätten Sie mir die Möglichkeit gegeben, mich vorzustellen, wüssten Sie das auch. Stattdessen haben Sie mir einen Einblick in Ihr Verhalten gegenüber dem Personal gegeben, sodass wir auf Ihre Gesellschaft verzichten können. Sie sollten die Zeit nutzen, um an Ihrer Höflichkeit zu arbeiten. Wenn Sie mich dann entschuldigen: Wie Sie bereits feststellten, ist es wohl bald Zeit für meinen Auftritt!“
Ohne Mr. Langdon eines weiteren Blickes zu würdigen, schritt sie zur Bühne – begleitet vom Applaus des Personals.