„Es war einmal vor langer Zeit…“
„Wie lange ist lange?“, unterbricht mich meine Tochter und schaut mich aus ihren haselnussbraunen Augen an.
„So beginnen alle Märchen, das sagt man einfach so.“ Lächelnd streichele ich durch ihr dunkles Haar, ziehe sie enger an mich und rieche ihren Duft nach den ersten Sonnenstrahlen eines Sommers. „Also, es war einmal vor langer Zeit…“
„Aber wie lange ist lange?“, will sie erneut wissen.
Ich lache leise. „Willst du nun die Geschichte hören oder nicht?“
Sie zieht einen Schmollmund, womit sie ihrem Vater noch ähnlicher sieht als ohnehin schon. Sie ist ihm wie aus dem Gesicht geschnitten.
„Also“, beginne ich erneut, „Es war einmal ein Ritter.“
„Trug er auch eine Rüstung wie Daddy?“
„Ja, er trug genau die gleiche Rüstung: eine dunkelblaue Uniform, die ihm wirklich sehr gut stand.“
Meine Tochter kichert. „Fand die Prinzessin das auch?“
„Die Prinzessin?“
„Jede Geschichte hat eine Prinzessin!“, betonte meine Tochter selbstsicher.
„In dieser Geschichte gibt es keine Prinzessin“, erkläre ich ihr und sie zieht wieder einen Schmollmund. „In dieser Geschichte ist die Prinzessin eine Rittersfrau, die zusammen mit dem Ritter Seite an Seite gegen böse Mächte und Drachen gekämpft hat. Sie haben jede Gefahr überstanden, jeden Kampf gewonnen und dann wurden sie in einer eingestürzten Höhle eingeschlossen. Er wurde am Arm verletzt und sie verletzte sich das Bein und hatte eine Wunde am Kopf. Der Ritter wusste, dass er sie wachhalten musste und hielt ihre Hand. Er erzählte ihr viele Geschichten – zum Beispiel, wie er als Kind einmal das Pferd seines Vaters angemalt hatte.“ Ich muss grinsen, als meine Tochter kichert. Sie hat so ein entzückendes Lachen. „Er blieb bei ihr, obwohl er hätte gehen können und machte ihr Mut, nicht aufzugeben.“
„Das ist ja wohl richtig!“, stellt meine Tochter klar, „Ein Ritter würde niemals weggehen!“
Ich lächele. „Da hast du wohl Recht. Denn er ging auch nicht fort, als sie gerettet wurden. Er wachte an ihrer Seite, während sie im Krankenhaus lag. Viele Tage blieb er an ihrem Bett sitzen und wachte über sie. Doch als sie schließlich aufwachte, war er gerade für kleine Ritter. Was ihn natürlich sehr geärgert hat. Aber weil die Rittersfrau ihn gerne mochte, stellte sie sich schlafend, als er wiederkam. Natürlich wusste er es, aber er war dankbar, dass sie es versucht hatte. Er schenkte ihr einen großen Teddy, damit sie jemanden zum Kuscheln hatte, wenn er nicht da war.“
„So einen wie der oben auf dem Dachboden?“
„Hast du dich etwa auf den Dachboden geschlichen?“ Streng schaue ich sie an. Sie weiß genau, dass sie dort nicht hinsoll.
Sie hat wenigstens den Anstand, zerknirscht drein zu schauen. „Ich war bloß neugierig.“
„Die Treppe ist gefährlich, du sollst da doch nicht alleine hoch. Versprich mir, dass du es nicht wieder tun wirst.“
„Ich verspreche es“, murmelt sie.
Ich küsse sie auf den Scheitel. „Danke“, flüstere ich. Was sollte ich nur ohne sie tun? Wenn ich sie auch verlieren würde… „Und ja, es war genauso ein Teddy wie der auf dem Dachboden. Dieser Moment war der Anfang einer großartigen Liebe, auch wenn die beiden noch eine ganze Zeit brauchten, um es sich einzugestehen. Beide haben sich noch einige Male gegenseitig das Leben gerettet. Und auch wenn sie sich gestritten hatten, waren sie immer füreinander da. Und einmal setzte er sein Leben aufs Spiel, um sie zu beschützen, obwohl er ihr versprochen hatte, sie niemals zu verlassen, weil sie ohne ihn nicht leben konnte, ohne ihn nicht leben wollte. Sie sagte ihm endlich, dass sie ihn liebte. Und er sie. Gemeinsam kämpften sie weiterhin gegen das Böse und wussten dabei immer, dass sie bedingungslos füreinander da waren.“
„Haben die Beiden geheiratet?“ Die Augen meiner Tochter glänzen neugierig, voller Faszination über die romantische Geschichte.
Ich lächele versonnen. „Ja, das haben sie. Vor all ihren Freunden und Familien haben sie sich ewige Liebe geschworen. Weil er sie immer zum Lachen bringen konnte und sie auch über seine absolut bescheuerten“ – sie kichert amüsiert – „Witze gelacht hat. Weil man manchmal einfach weiß, dass ein Mensch zu einem gehört. Und weil sie im Grunde bereits durch alle Hochzeitsversprechen gegangen waren: In guten wie in schlechten Zeiten.“
„Und dann lebten sie glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende und bekamen hundert Kinder!“, ruft sie euphorisch aus.
Ich lache. „Hundert Kinder?“
„Natürlich.“ Sie nickt ernst.
„Vielleicht bekamen sie auch nur eine zauberhafte und wunderschöne Tochter, die sie sehr liebhaben.“ Ich stupse ihr gegen die Nase und sie kichert.
Abend für Abend erzähle ich ihr die Geschichte von dem Ritter und seiner Rittersfrau im Kampf gegen Drachen und Ungeheuer. Weiß sie, dass es nicht bloß eine Geschichte ist? Da sind Dinge, die ich ihr nicht erzähle. In Märchen erleiden die Menschen Unglück, aber am Ende wird alles gut und sie leben glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende. Und vielleicht sogar noch darüber hinaus. Denn wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. In Märchen sterben Menschen nicht, sie werden nicht verletzt und überleben die härtesten Kämpfe.
„Zeit zum Schlafen“, bestimme ich und ohne Murren kriecht meine Tochter unter die Bettdecke.
Sie gähnt. „Mummy?“, fragt sie schläfrig. „Wie sieht der Ritter eigentlich aus?“
„Oh, er hat dunkelbraune Augen, dunkle Haare…“
„Also, so wie Daddy?“
„Ja. Wie Daddy.“ Ich schlucke den Kloß in meinem Hals hinunter und schaue ihr in die Augen. Sie sieht aus wie ihr Vater. An manchen Tagen empfinde ich es als Geschenk, an anderen Tagen ist der Schmerz überwältigend. In ihr wird er immer lebendig sein und das ist das größte Geschenk, das er mir machen konnte.
„War Daddy auch ein Ritter?“
„Der beste von allen“, betone ich.
Ihre Nase kräuselt sich. Das macht sie immer, wenn sie nachdenkt. Noch so eine Macke, die sie von ihrem Vater übernommen hat. „Du bist meine Heldin, Mummy. Aber jetzt möchte ich deine Heldin sein.“ Sie schlingt ihre Arme um mich und drückt sich fest an mich. „Sei nicht traurig, weil Daddy fortgehen musste. Wir werden ihn wiedersehen. So wie in den Märchen.“
Ich schlinge meine Arme um sie und drücke ihren schmalen Körper an mich, fühle ihre Wärme und rieche ihren Duft. Sie ist alles, was mir von ihm geblieben ist. Und es ist so viel mehr, als ich jemals erwartet habe.