Ich erinnere mich an den Tag unseres Kennenlernens. Wir waren noch in der Grundschule und ich war traurig, weil ich keine Freunde hatte. Und dann war er da. Er hat mir vorgesungen. Es war grauenvoll und schief, aber ab da hat er mir jeden Tag ein Lied geschenkt. Wir wurden beste Freunde, haben uns nachts mit Taschenlampen Signale gesendet und sind über die Dächer in das Zimmer des anderen eingestiegen. Wir haben uns nachts fortgeschlichen, um im Meer schwimmen zu gehen. Und nachdem er das Singen aufgegeben hatte, weil er dafür wirklich gar kein Talent besaß, hinterließ er mir jeden Tag einen kleinen Zettel mit ein paar netten Worten an den unterschiedlichsten Stellen. Er war immer mein Held.
Ich erinnere mich an unsere Spitznamen. Er war Caramel und ich war Cookie, weil er Karamell liebte und ich süchtig nach Keksen war. Es waren unsere Namen und niemand sonst durfte sie verwenden.
Ich erinnere mich, wie unterschiedlich wir waren. Er war ein charmanter Chaot, er war spontan und immer auf der Suche nach einem Abenteuer. Ich habe ihn immer dafür bewundert, dass er der war, der er ist und dass es ihm egal war, was die anderen von ihm halten. Ich war die Kontrollsüchtige, die sich immer Gedanken machte, was andere von mir denken könnten und immer auf Nummer Sicher ging und niemals etwas spontan tat – außer mit ihm, weil es seine Lieblingsbeschäftigung war, mich zu provozieren, weil man ihn nicht aufhalten konnte, wenn er etwas wollte und weil er mich dazu brachte, aus mir herauszugehen. Er war der beliebte Junge, der Schwarm aller Mädchen, weil er nicht nur Sportler und gutaussehend war, sondern auch ein gutes Herz besaß und sich für die Schwächeren einsetzte. Er war mein Held, weil er mich niemals aufgab, auch wenn ich das schüchterne Mauerblümchen war, das einfach nicht in seine Welt passte. Wir waren so grundverschieden und ergänzten uns gerade deswegen perfekt. Niemand sonst würde ihn aushalten, meinte er immer, weil er sehr anstrengend sein konnte.
Ich erinnere mich, wie sich unsere Beziehung schließlich änderte. Aus Freundschaft wurden tiefere Gefühle. Ich erinnere mich an die Nacht unter den Sternen, als wir den Sternschnuppen zuschauten, die vom Himmel fielen. Ich sagte ihm, dass er sich etwas wünschen sollte und er meinte, dass sich sein Wunsch bereits vor Jahren erfüllt hatte, als ich geboren worden war. Und dann küsste er mich. Er sagte mir, dass er für immer mit mir zusammen sein wollte, weil es für ihn keinen Himmel ohne Sterne geben konnte.
Ich erinnere mich, wie wir gestritten haben, als es auf den Abschluss zuging. Ich hatte das Thema unserer Zukunft angesprochen. Er hatte sich geweigert, mit mir darüber zu reden. Tagelang waren wir uns aus dem Weg gegangen und ich hatte eine solche Angst gehabt, dass er mich verlassen würde, dass ich kaum essen konnte. Wir vertrugen uns erst wieder, als er mir sagte, dass er die Diskussion für absolut lächerlich hielt, weil es für ihn keine Zukunft ohne mich gab.
Und ich erinnere mich, wie er mich verlassen hatte, um bei einem Profi-Verein unter Vertrag genommen zu werden.
An all das erinnerte ich mich, als er nach neun Jahren plötzlich wieder vor mir stand.
Ich hatte gedacht, dass er weit fort von hier war. Von dem Ort, an dem wir aufgewachsen waren. Die Insel, die unser Zuhause gewesen war. Hin und wieder hatte ich Neuigkeiten von ihm gehört. Er war erfolgreich geworden, die Frauen umschwärmten ihn und er verdiente Unmengen an Geld. Er hatte alles, was er je wollte. Und ich – ich hatte alles verloren.
Ich war zurück zu meiner Großmutter gegangen, um ihr in ihrem Café zu helfen, auch wenn sie es lieber sehen würde, wenn ich wieder als Ärztin arbeitete. Aber wie sollte ich jemals wieder ein Krankenhaus betreten, nachdem ich dort Abschied von meiner Tochter nehmen musste? Ein wunderschönes Mädchen mit den gleichen blauen Augen, mit denen er mich jetzt musterte.
Noch immer war das alles völlig unwirklich. Noch immer konnte ich nicht verstehen, dass meine Kleine fort war, dass ihr strahlendes Lächeln für immer erloschen war und all ihre Träume, Hoffnungen und Erwartungen im Wind verweht waren. Unser wunderbares Königreich war niedergebrannt und konnte nicht wiederaufgebaut werden. Ich wäre für sie gestorben, wie sollte ich es nur schaffen, ohne sie weiterzuleben? Was waren schon all die unvergesslichen Momente, nachdem ich die verloren hatte, mit der ich sie geteilt hatte? Es war, als würde mein ganzes Leben nur noch in Zeitlupe verlaufen, die Zeit rannte davon, während ich stehen geblieben war und an einen Punkt zurückwollte, an den ich nicht zurückkehren konnte.
Ich konnte nicht verstehen, wie er so plötzlich vor mir stehen konnte, wieso er hier war, wieso ich all den Schmerz, die Trauer und die Wut wieder spüren musste.
„Ich habe etwas für dich“, sagte er und hielt mir ein Geschenk hin.
„Ich hasse Geschenke.“
„Ich weiß. Nimm es trotzdem.“
Widerwillig ergriff ich das Geschenk, das sich nach einem Buch anfühlte. Ich hielt es in der Hand, ohne es zu öffnen. „Warum bist du hier?“, fragte ich ihn.
„Ich wollte dich sehen. Du hast mir gefehlt.“
„Du hast mich verlassen“, erinnerte ich ihn.
„Ich tat, was ich für richtig hielt. Ich wusste, dass du mir folgen würdest und ich wollte, dass du deine Träume lebst. Die einzige Möglichkeit war, mit dir Schluss zu machen.“
Ich schnaubte nur.
„Ich wollte dich niemals verletzen“, fuhr er fort.
„Und dennoch hast du es getan. Aber das ist viele Jahre her, es spielt keine Rolle mehr.“ Lüge.
„Hast du nie an mich gedacht? In all den Jahren?“
Doch. Wann immer ich unsere Tochter angesehen hatte. „Nein.“
„Nein?“
„Nein. Es hätte mich umgebracht.“ Ich konnte die Tränen nicht länger zurückhalten.
Er zog mich in seine Arme. „Ich liebe dich, Emily.“
„Das hat dich beim ersten Mal auch nicht davon abgehalten, mir wehzutun.“
„Ich habe immer an dich gedacht. Ich habe nie aufgehört zu bereuen, wie alles gekommen ist.“
„Das sagst du jetzt.“
„Öffne mein Geschenk.“ Er ließ mich los und schaute mich erwartungsvoll an.
Mit einem Seufzen öffnete ich das Geschenkpapier und hielt ein Fotoalbum in der Hand. Ich schlug es auf. Unzählige Fotos aus allen Stationen unseres Lebens waren darin. Und ein paar Bilder aus der Zeit unserer Trennung. „Ich habe immer an dich gedacht“, flüsterte er, „Ich liebe dich, seit du ein Mädchen mit Zahnlücke bist.“
Mit ihm fühlte ich mich wieder komplett, er begann das Loch zu heilen, dass sein Abschied und der Verlust unserer Tochter hineingerissen hatten. Doch ich hatte Angst, dass ich ihn erneut verlieren würde. Dass er wieder fortgehen würde.
Noch immer schien er meine Gedanken lesen zu können. „Ich werde nicht wieder gehen. Ich werde hierbleiben. Ich habe neun beschissene Jahre ohne dich gelebt. Ich ertrage diese Leere keinen Tag länger und will nie wieder einen einzigen Tag ohne dich sein. Ich bin nicht glücklich, nicht ohne dich. Und manchmal macht es mir Angst, dass es immer noch so ist.“
„Mir auch“, gab ich zu. Aber wenn ich in all den Jahren eines von ihm gelernt hatte, dann, dass man niemals seiner Angst nachgeben durfte. Man musste sich ihr stellen und sich das holen, was einen glücklich macht. Und er machte mich glücklich.
Doch da gab es etwas, das er nicht wusste. „Ich war schwanger, als du mich verlassen hast. Ich wollte es dir damals sagen, aber dann hast du mir gesagt, dass du mich verlässt.“
Er schwieg eine lange Zeit. „Was ist mit dem Baby passiert?“
„Sie ist gestorben. Vor ein paar Monaten.“ Ich hob den Blick und schaute in seine leuchtend blauen Augen, in denen Trauer und Schmerz lagen. Er trauerte um unsere verpasste Chance. Um die verlorenen Jahre. Und dass er seine Tochter niemals kennenlernen würde.
„Erzähl mir von ihr.“