Der Pfeil sauste rechts neben seinem Kopf vorbei und hinterließ eine kleine blutende Wunde an der Spitze seines Ohres, bevor er zitternd in der Rinde des Baumes hinter ihm stecken blieb. Ungläubig fasste er sich ans Ohr und betrachtete das leuchtend rote Blut auf seinen Fingerspitzen. „Der nächste Pfeil trifft dich zwischen die Augen!“, zischte sie und ihre Stimme hallte durch den dämmrigen Wald. Sie hatte es wirklich wieder getan. Und er war sich nicht sicher, ob er sie dafür erschießen oder küssen sollte. Denn genau so hatte es mit ihnen begonnen. Sie waren sich während einer Mission begegnet, bei der sie gezwungen gewesen waren, zusammen zu arbeiten - nachdem sie ihm mit einem Pfeil das linke Ohr verletzt hatte.
Er hatte es nicht glauben können. Er, der Meisterbogenschütze, der seit seiner Jugend allen überlegen gewesen war, war von ihr beinahe besiegt worden! Als sie ihm mit gespanntem Bogen und eingelegtem Pfeil entgegengetreten war, hatte er nur sinnloses und wirres Zeug stammeln können, weil er es einfach nicht begreifen konnte. Er hatte nicht gewusst, ob er entsetzt oder begeistert sein sollte und so war er irgendwie beides gewesen. „Das ist unmöglich! Noch niemals hat mich jemand mit einem Pfeil verletzt!“ Ungläubig hatte er sie angestarrt.
„Wenn du mich weiterhin so bescheuert anglotzt, kannst du diese Erfahrung gleich wiederholen!“, hatte sie gesagt.
„Gut, dann kann ich dir zeigen, wie man so einen Bogen richtig hält“, hatte er geantwortet, als er zu seiner Schlagfertigkeit zurückgefunden hatte.
Sie hatte ihn belustigt angegrinst, aber in ihren Augen hatte ihr Zorn gefunkelt. Vielleicht hatte er schon damals begonnen, sich zu ihr hingezogen zu fühlen. „Das wird wohl kaum möglich sein, wenn du damit beschäftigt bist, dein Gehirn von den Steinen zu kratzen“, hatte sie ihn angeknurrt.
Er hatte nicht anders können als zu lachen, wofür sie ihre Drohung beinahe wahrgemacht hatte. Von Anfang an hatten sie sich gestritten, bei jeder Entscheidung waren sie sich uneins gewesen und dennoch hatten sie beide schnell gelernt, dass sie aufeinander zählen konnten. Er wusste, dass auch sie die Funken gespürt hatte, die zwischen ihnen flogen.
Und dann hatte sie diese Worte gesagt. Er war gegangen, wütend, verletzt. Er hatte versucht, sie zu hassen und doch hatte er sie einfach nicht vergessen können, hatte nicht aufhören können, sie zu vermissen, obwohl er es so sehr gewollt hatte. Die Wunden des Herzens heilen am schwersten, hatte seine Großmutter einmal gesagt, als er noch ein kleiner Junge gewesen war. Er hatte gelacht, aber im Nachhinein hatte er ihr doch Recht geben müssen.
Er wischte das Blut achtlos an seiner Hose ab. „Wie ich sehe, hast du mich auch so sehr vermisst wie ich dich“, rief er.
„Wer behauptet, du hättest mir gefehlt?“, erklang ihre Stimme und er versuchte herauszufinden, wo sie sich verbarg. Viele Möglichkeiten gab es nicht, immerhin bot der schneebedeckte Wald ohne die Blätter nicht viele Verstecke und der Pfeil war nicht aus einer der Baumkronen gekommen, also musste sie sich hinter einem der Baumstämme verbergen.
Er lachte. Sein Lachen übertönte das Knirschen des Schnees unter seinen Füßen, als er sich in Bewegung setzte. „Es hat dir gefehlt, jemanden zu haben, mit dem es sich so gut streiten lässt, gib es ruhig zu.“
Sie schwieg. Er blieb stehen, solange es kein Geräusch außer dem leisen Rauschen des Windes gab, das seine Schritte verbergen könnte. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie wieder sprach. „Sie haben gesagt, du hättest dich als Späher gemeldet.“ Ihre Stimme klang ungewohnt leise und verletzlich. Sein Herz zog sich zusammen. „Eine sehr ehrenvolle Aufgabe“, spuckte sie verächtlich aus, „Was hast du dir dabei gedacht, so eine verdammt gefährliche Aufgabe zu übernehmen?“ Der Zorn, den er in ihrer Stimme hörte, klang schon eher nach ihr, auch wenn er spürte, dass sie auf diese Weise nur ihren Schmerz zu verbergen versuchte. Er wusste es so genau, weil er es all die Zeit nicht anders gemacht hatte. Wut und Hass waren so viel leichter und angenehmer zu empfinden als der Schmerz, der ihn jede wache Stunde verfolgt hatte.
„Irgendjemand musste es doch tun“, sprach er und wusste doch, dass es sie nur noch wütender machen würde.
Sie schnaubte. „Niemand wartete mehr auf deine Rückkehr. Sie hielten dich alle für tot.“
„Und du nicht? Oder warum bist du sonst hier?“
Sie antwortete nicht.
Er hingegen hatte sie endlich hinter einer dicken Eiche ausfindig machen können. Sie lehnte mit dem Rücken an dem Stamm, den Kopf in den Nacken gelegt, der Bogen hing nutzlos an ihrer Seite hinab. Mit wenigen Schritten war er bei ihr, stand direkt vor ihr und begegnete ihrem wütenden Blick. Sie wollte sich an ihm vorbeidrängen, doch er ließ es nicht zu, drängte sie gegen den Stamm und versperrte ihr jeden Fluchtweg mit seinem Körper. „Warum bist du hier?“, flüsterte er.
„Weil ich Hoffnung hatte.“ Sie schluckte, wich seinem Blick aus. „Sie sagten, dir wäre die Gefahr gleichgültig gewesen. So als… als hättest du nichts mehr zu verlieren.“
„Und wenn es so gewesen wäre?“
„Dann wäre es meine Schuld gewesen.“ Sie fixierte ihn erneut. „Und das konnte ich nicht zulassen.“
„Dann bist du hergekommen, weil du ein schlechtes Gewissen hattest?“ Seine Stimme war emotionslos, ließ nichts von dem Sturm in seinem Inneren erkennen. Waren es lediglich einige Schuldgefühle, die sie in seine Arme zurückgebracht hatten?
„Nein!“, stieß sie hervor. Ihr Stoß vor seine Brust traf ihn so überraschend, dass er einige Schritte zurücktaumelte. Sie schlug erneut nach ihm, doch dieses Mal konnte er ihre Hand abfangen. „Beim nächsten Mal, wenn du so etwas Bescheuertes machst…“ Sie brach ab.
Er zog sie ein wenig zu sich heran und umfasste auch ihre zweite Hand. Zur Sicherheit. Bei ihr konnte man nie wissen. Außerdem war ihr linker Haken mindestens so gut wie ihr rechter. „Was dann?“
„Dann solltest du daran denken, dass du sehr wohl etwas zu verlieren hast!“ Sie entwand sich seinem Griff – und küsste ihn.