„Du kannst auch wirklich gar nichts!“ Schon von weitem konnte ich die laute Stimme von Lelos hören.
„Musst du gerade sagen!“ Das war die Stimme von Jakas.
Breit grinsend trat ich auf den schmalen Pfad, der sich durch den Wald schlängelte und lehnte mich gegen einen Baumstamm, um das Geschehen zu beobachten. Amras stand mit verschränkten Armen vor seinen Brüdern und schüttelte verzweifelt den Kopf. Die Beiden waren sich nie grün und ständig am Streiten, während Amras als der älteste Bruder ständig zu vermitteln versuchte – meist ohne großen Erfolg.
„Könnt ihr beiden euch nicht einmal vertragen? Ihr solltet längst auf der Jagd sein und euch um das Abendessen zu kümmern!“, warf er ein.
Jakas, der Jüngste, starrte den mittleren Bruder Lelos an und knurrte: „Das wollten wir ja, bis Lelos behauptet hat, ich könnte nicht mit dem Bogen umgehen!“
„Kannst du auch nicht!“, meinte Lelos.
„Du aber auch nicht!“, konterte Jakas.
„Genug jetzt!“, unterbrach Amras die beiden Streithähne, „Ihr könnt euer Können mit dem Bogen auf der Jagd unter Beweis stellen! Und wenn ihr nicht bald losgeht, dann hat der Clan heute Abend nichts zu essen und das wird der Großen Schamanin nicht gefallen.“
Lelos und Jakas starrten sich weiter wütend an, dann nahmen sie jedoch beide ihre Bögen und den Köcher mit Pfeilen und stapften in den Wald, um auf die Jagd zu gehen. Ich wartete, bis die Beiden verschwunden waren, bevor ich einige Schritte auf Amras zuging. Er bemerkte mich nicht, weil er seinen Brüdern hinterherschaute. Seufzend schüttelte er erneut den Kopf.
„Ärgern dich deine beiden Brüder wieder?“, fragte ich.
Ein wenig erschrocken fuhr er herum, lächelte mich dabei jedoch an. „Wenn ich dich sehe, löst sich jeder Ärger in Luft auf.“
Ich verdrehte lächelnd die Augen. „Du bist und bleibst ein hoffnungsloser Schleimer!“ Ich versuchte ihm, gegen die Schulter zu boxen, doch er fing meine Hand mühelos ab.
„Warum musst du mich immer gleich schlagen, wenn ich dir ein Kompliment mache?“ Er zog mich ein Stück zu sich heran, sodass er seine Arme um mich schlingen konnte und seine Stirn an meine legen.
„Ich versuche immer dich zu schlagen“, stellte ich richtig, „Bisher hat es nur beim ersten Mal funktioniert, als wir noch Kinder waren.“
„Wenn du weiter so frech bist, deinem Clan-Anführer zu widersprechen, dann werde ich dich bestrafen müssen!“, drohte Amras, „Ich fürchte, ich werde mir einen Kuss stehlen müssen, um dein Mundwerk zum Schweigen zu bringen!“
„Baldiger Clan-Anführer“, korrigierte ich dreist, „Und ich hoffe, das war kein leeres Versprechen.“
Er lachte und dann tat er endlich, was ich mir gewünscht hatte, und küsste mich. Und in den Kuss mischte sich Bedauern, weil unsere Küsse nur in den Schatten möglich waren. Er löste den Kuss wieder. „Wer hätte damals, als wir Kinder waren, geahnt, dass es einmal so kommen würde?“
„Ich glaube, dein Vater. Er hat immer so Andeutungen gemacht.“ Ich kicherte, bevor mir ein Seufzer entfuhr, als ich an unsere Kindheit zurückdachte. „Irgendwie kam mir das Leben einfacher vor damals.“
Er strich mir eine Strähne hinter das Ohr. „Mir auch“, murmelte er, „Damals war ich noch nicht der baldige Clan-Anführer. Damals kümmerte es niemanden, wenn wir miteinander gespielt haben.“
„Es ist vielleicht nicht so auffällig gewesen, aber die Blicke waren auch damals schon da. Ich werde niemals zu eurem Clan gehören und du weißt es. Wenn du erst einmal der Anführer bist, dürfen wir uns nicht mehr sehen. Du musst eine Frau aus dem Clan finden, die dir zur Seite stehen wird.“ Es war nicht das erste Mal, dass ich unsere Zukunft ansprach. Wir beide wussten, dass es für uns keine gemeinsame Zukunft gab. Aber auch die Zeit half nicht, dass es mir leichter fiel, dass ich ihm bald Lebewohl sagen müsste. Der Schmerz darüber würde niemals vergehen, das wusste ich so sicher wie ich die Jahreszeiten oder den Lauf des Mondes kannte.
Amras musterte mich schweigend. Ich versank in seinen dunklen Augen, während der Wind mit seinen langen, schwarzen Haaren spielte. Ich versuchte mir den Anblick und vor allem den Ausdruck in seinen Augen, diesen Ausdruck voller Liebe, einzuprägen, denn ich wusste, dass mir nicht mehr bleiben würde. Und er wusste es auch. Bisher hatte er mir immer widersprochen, wenn ich davon angefangen hatte, hatte gesagt, dass alles gut werden würde, aber wir beide wussten, dass es keine Möglichkeit für uns gab. Und die Zeit rannte uns davon. In zwei Tagen war die Zeremonie, in der der Rat ihn zum Nachfolger seines Vaters wählen würde. Seine Wahl war bereits entschieden, da es keinen anderen Kandidaten gab. Außerdem war Amras fähig, seinen Clan zu leiten, und sehr beliebt – vor allem bei den Frauen. Unter ihnen würde er sich seine Gemahlin erwählen und ich wusste, dass es mir das Herz brechen würde. Deshalb würde ich ihn verlassen. Ich hatte es ihm nicht gesagt, aber ich würde meinen eigenen Weg gehen und von hier fortziehen, wenn er die Zeremonie überstanden hatte. Es wäre das Beste. Ich liebte ihn mehr als alles andere auf dieser Welt und nicht mit ihm zusammen zu sein, riss mir das Herz in tausend Stücke und nahm mir die Luft zum Atmen. Ich musste gehen, bevor es mich endgültig zerstören würde, nicht die Frau an seiner Seite sein zu können.
„Du bist ein Teil des Clans“, stellte er klar. Er umfasste mit seinen Händen meine Wangen und schaute mich eindringlich an.
„Das bin ich nicht. Ich bin ein Wolf, ihr seid die Jäger der Lüfte.“
„Was zählt es schon? Du besitzt ein großes Einfühlungsvermögen, genau das, was ich brauche, um den Clan zu führen.“
„Du weißt, dass es nicht geht. Der Rat würde es niemals akzeptieren.“ Seit ich als Kind zu Amras’ Clan gekommen war und das erste Mal die Blicke gespürt hatte, wusste ich, dass ich anders war. Ich gehörte zu einem anderen Clan, einem feindlichen Clan, der vor Jahren vernichtet worden war. Ich erinnerte mich kaum noch an meinen richtigen Clan, mein Zuhause war immer bei Amras gewesen, seit ich ihn kennengelernt hatte vor all den Jahren. Sein Vater hatte mich aufgenommen, obwohl ich der Feind war und er hatte mich aufgezogen. Ich hatte ihm so viel zu verdanken, er hatte mir ein Zuhause geschenkt, als ich völlig alleine gewesen war. Für ihn war ich ebenso ein Teil des Clans gewesen wie für Amras, aber das änderte nichts an den abschätzigen und verurteilenden Blicken der anderen, die mich niemals als Clan-Mitglied akzeptieren würden.
„Du bist ein Teil meines Clans!“
Ich sagte nichts. Es würde ohnehin nichts an seiner Meinung ändern.
„Wir könnten zusammen fortgehen.“
„Du bist ein Adler, du bist der Anführer! Du kannst deinen Clan nicht im Stich lassen.“
„Ich beschütze meinen Clan und für mich gehörst du genauso dazu wie all die anderen. Ninive, ich kann ohne dich nicht leben!“
„Du wirst es lernen.“
Er musterte mich schweigend. „Du hast vor, mich zu verlassen.“
Ich befreite mich aus seinem Griff und wandte mich ab, um einige Schritte Abstand zwischen uns zu bringen. Ich konnte es nicht über mich bringen, ihn anzusehen, deshalb sprach ich mit dem Rücken zu ihm: „Es ist das Beste für uns.“
„Wie kann es das Beste sein, wenn wir beide dadurch unglücklich werden? Wie kannst du von dir selbst und von mir verlangen, dich aufzugeben, wenn wir doch füreinander bestimmt sind?“
„Wie kannst du glauben, dass wir füreinander bestimmt sind, wenn die ganze Welt gegen uns ist? Wenn uns nur Steine im Weg liegen?“
Er schwieg eine Weile, sodass ich mich zu ihm herumdrehte. Er sah nachdenklich aus. „Es gäbe kein Problem, wenn du ein vollwertiges Clan-Mitglied bist“, sprach er schließlich.
„Aber genau das bin ich nicht!“
„Mit der Zustimmung des Rates der Ältesten könntest du es sein.“
„Sie werden aber niemals zustimmen!“
„Wir haben es nie versucht!“
„Du bist völlig verrückt geworden!“
Er erwiderte nichts, packte lediglich meine Hand. „Komm mit!“ Er zog mich mit sich den Weg ins Dorf.
„Was hast du vor?“
„Ich werde den Ältestenrat darum bitten, dich als Mitglied des Clans anzunehmen und als meine Braut zu akzeptieren.“
„Nein, das kannst du nicht machen!“
„Ich kann und ich werde! Es sei denn, du willst nicht meine Frau werden.“
„Natürlich will ich das, Amras, aber es geht nun mal nicht!“
„Wenn wir es wollen, wird es gehen! Ich bin bereit, meinen Clan zu führen, aber ich bin nicht bereit, es ohne dich an meiner Seite zu tun.“
Er konnte es. Und er tat es. [Ich weiß nicht, wie genau er den Ältestenrat überzeugen konnte, aber sie billigten meine Aufnahme in den Clan und beschlossen die Hochzeit für den Tag nach der Zeremonie, womit ich in drei Tagen tatsächlich die Frau an Amras‘ Seite werden sollte.
Amras hatte für mich alle Clan-Regeln gebrochen, nur weil er mich als Teil seines eigenen Clans sah. Weil man manchmal die Regeln brechen musste, um glücklich zu werden.]