„Kann ich mich zu dir setzen?“ Aus meinen Gedanken gerissen schaute ich auf – direkt in strahlend blaue Augen in einem hübschen Gesicht, auf dem ein schüchternes Lächeln lag. Es war dieses Lächeln, das mich mit einem „Sicher“ antworten ließ.
Ich rückte meine Sachen, die ich auf dem Tisch in der Kantine, an dem ich für gewöhnlich alleine saß, verteilt hatte, zusammen und machte ihm Platz, bevor ich ihm ein aufmunterndes Lächeln schenkte.
„Danke“, meinte er und setzte sich. Er stellte sein Tablett ab und hielt mir dann seine Hand hin. „Ich bin übrigens Jackson, aber die meisten nennen mich einfach Jack.“
Ich ergriff seine Hand und schüttelte sie. „Charlotte, aber die meisten nennen mich Charlie.“
„Es freut mich, dich kennenzulernen, Charlie.“
„Ganz meinerseits, Jack. Du bist der neue Assistenzarzt in der Chirurgie, nicht wahr?“, erkundigte ich mich neugierig, um das Gespräch am Laufen zu halten.
„Stimmt.“ Er verzog keine Miene, aber er wirkte nicht allzu begeistert. „Du hast wohl schon von mir gehört.“
„Ja, die anderen Assistenzärzte haben über dich geredet.“
Er seufzte. „Lass mich raten: Sie haben mich ‚den Schönling‘ genannt.“
Ich schwieg. Es war ohnehin bereits mehr eine Feststellung als eine Frage gewesen. Natürlich hatte er das längst mitbekommen. Zumal die Assistenzärzte nicht gerade für ihre Zurückhaltung bekannt waren. In ihrer Arroganz hatten sie es ihm sicher bereits an den Kopf geworfen.
Er seufzte erneut. „Es kann echt frustrierend sein, wenn alle einen nur für gutaussehend halten, aber denken, man hätte nichts im Kopf. Selbst meine Familie!“
„Ist das der Grund, warum du nicht bei den anderen Assistenzärzten sitzt, sondern dich zu mir gesetzt hast? Für gewöhnlich halten die Assistenzärzte sorgsam Abstand von den Krankenschwestern, damit keiner auf den Gedanken kommen könnte, dass sie nicht uns Pflegern meilenweit überlegen sind?“, fragte ich ihn auf den Kopf zu.
„Das, und weil du so ein sympathisches Lächeln hattest.“ Er zwinkerte mir zu.
Ich schüttelte den Kopf, konnte mir aber ein Lächeln nicht verkneifen.
Das war der Beginn unserer Freundschaft.
„Charlie!“
„Ja?“ Fragend schaute ich auf und begegnete Jacks Blick. Seine Augen entfachten ein Kribbeln in meinem Bauch, das ich bewusst ignorierte. „Was gibt es? Du siehst gestresst aus“, bemerkte ich, was der Wahrheit entsprach. Er hatte kein charmantes Lächeln wie sonst aufgesetzt, sondern wirkte gehetzt.
„Ich brauche deine Hilfe.“ Er griff nach meiner Hand und zog mich mit sich.
„Erfahre ich vielleicht auch, worum es geht? Und ich kann sehr wohl selbst gehen.“
„Gefällt es dir nicht, wenn deine Hand halte?“ Ein kurzes Lächeln flackerte über sein Gesicht, als er mir einen Blick über die Schulter zuwarf.
Ich verdrehte die Augen über seine kleine Flirterei. So war er eben, das hatte nichts zu bedeuten. „Würdest du mir jetzt sagen, worum es geht?“
„Das wirst du gleich sehen.“ Sein Gesicht verschloss sich wieder. Was auch immer er von mir wollte, es schien ihn sehr zu beschäftigen.
Wir erreichten ein Krankenzimmer, in dem ein älterer Herr auf dem Bett lag, der genervt in die Runde schaute. Er hatte einen strengen Zug um den Mund, der mir gleich verriet, dass der Mann dominant war. Er wusste sicher, was er wollte und wie er es bekam. „Wer ist das?“, fragte ich.
„Das ist Richard Stoke“, erklärte Jackson. Sein Blick war auf Mr. Stoke gerichtet. Natürlich kannte ich den Namen. Er war eine Legende der Medizin. Ein brillanter Chirurg – mit einem riesigen Gott-Komplex, der sicherlich nicht wenig dadurch befördert wurde, dass die meisten Mediziner ihn regelrecht verehrten.
„Was hat er? Warum ist er hier?“, wollte ich wissen.
Jackson wandte sich mir zu und ein sanftes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. „Ich wusste, dass du so reagieren würdest.“
„Was meinst du?“
„Dass es dich nicht interessieren würde, wer er ist, sondern nur, was er hat.“
„Hast du mich deshalb hergeholt?“
„Ich habe dich hergeholt, damit du ihn kennenlernst.“
„Warum sollte ich einen brillanten Idioten, der sich für Gott hält, kennenlernen wollen?“
„Weil er mein Großvater ist.“
„Oh, scheiße“, stieß ich hervor. Ich vergrub das Gesicht in meinen Händen. „Das ist peinlich. Es tut mir so leid, ich wollte nicht deinen Großvater schlecht machen.“
Jackson griff nach meinen Händen und zog sie von meinem Gesicht weg. Er lachte leise. „Er ist ein brillanter Idiot, der sich für Gott hält. Das hast du sehr schön auf den Punkt gebracht. Hör mal, ich möchte dich bitten, dich um ihn zu kümmern. Der Arzt sollte bald kommen, aber er muss an die Kontrollgeräte angeschlossen werden und du kennst das ja… Wenn die anderen erfahren, dass Richard Stoke mein Großvater ist, dann werden sie die ganze Zeit um mich herumscharwenzeln, damit ich ihn ihnen vorstelle. Bei dir weiß ich, dass es dir egal ist.“
„War das ein verstecktes Kompliment?“
„Immer doch.“
Ich seufzte. Ärzte waren die schlimmsten Patienten, aber wenn Jackson wollte, dass ich mich um ihn kümmerte, dann würde ich es machen. „Natürlich kümmere ich mich um ihn.“
„Danke. Dafür hast du was gut bei mir!“ Er drückte mir einen kurzen Kuss auf die Wange, bevor er verschwand. Während meine Wangen sicher tomatenrot glühte, dachte ich daran, dass mir dieser Kuss mehr als Belohnung genug war. Auch wenn ich eigentlich so viel mehr wollte als diese Freundschaft zu Jackson, war ich unendlich froh, wenigstens sie zu besitzen.
Ich nahm das Krankenblatt aus der Halterung vor der Tür und betrat das Krankenzimmer. Während ich das Blatt studierte, um zu erfahren, welche Kontrollen vorgesehen waren, begrüßte ich Jacksons Großvater mit einem freundlichen Lächeln. „Guten Tag, Mr. Stoke. Ich werde mich jetzt um Sie kümmern, bis der Arzt kommt.“
„Hören Sie, Schätzchen, Sie sind sicher kompetent und so, aber ich bin selber…“
„Arzt“, fiel ich ihm ins Wort, „Das ist mir bewusst. Aber in diesem Fall sind Sie der Patient und ich bin in der Tat sehr kompetent und möchte Sie höflich bitten, meine Kompetenz nicht in Frage zu stellen. Ich kann mir vorstellen, dass Sie sich lieber an einem anderen Ort aufhalten wollen, aber Sie sind nun hier und ich bin Ihnen als Krankenschwester zugeteilt, also was halten Sie davon, wenn wir es uns beiden gegenseitig nicht unnötig schwer machen?“, schlug ich vor, um gleich die Fronten zu klären.
Einen Moment starrte er mich verblüfft an, dann grinste er breit. „Sie gefallen mir, Schätzchen.“
Als Jackson eine Stunde später zurückkehrte, war ich mit meiner Arbeit fertig. Mr. Stoke hatte sich vorbildlich verhalten, sodass die Arbeit flott vorangegangen war. Danach hatte Mr. Stoke mich ausgefragt, seit wann ich Krankenschwester war, warum ich mich dafür entschieden hatte und solche Dinge. Er hatte auch ein bisschen aus seiner Zeit als aktiver Arzt erzählt. „Ihr scheint euch ja gut zu verstehen“, bemerkte Jackson, an dessen Tonfall ich hörte, wie erstaunt er darüber war.
„Jackson! Wo hast du solange gesteckt?“
„Ich musste arbeiten, Großvater!“
„Das könntest du auch in meinem alten Krankenhaus tun!“, erwiderte Mr. Stoke und wandte sich mir zu: „Wissen Sie, Schätzchen, ich hatte meinem Enkel einen Platz am besten Krankenhaus des Landes besorgt, aber stattdessen entschied er sich, hierher zu gehen. Halten Sie das nicht auch für eine dämliche Entscheidung?“
Ich warf einen Blick auf Jackson, der mit seinem Kiefer mahlte. Er war wütend. Ich konnte es verstehen. Er ergriff das Wort, bevor ich etwas sagen konnte: „Es ist meine Entscheidung gewesen, Großvater, akzeptiere sie endlich!“ Und mit diesen Worten stürmte er hinaus.
„Entschuldigen Sie mich“, murmelte ich an Mr. Stoke gewandt, bevor ich Jackson hinterhereilte. Ich musste rennen, um seine schnellen Schritte einzuholen. „Jackson, warte!“
Er blieb stehen und raufte sich das kurze blonde Haar. „Er kann einfach nicht aufhören, sich in mein Leben einzumischen!“
„Er meint es nur gut, er ist dein Großvater.“
„Du kennst ihn doch gar nicht. Oder habe ich was verpasst, Schätzchen?“, sprach er abfällig.
„Jackson, du hast mich gebeten, mich um deinen Großvater zu kümmern!“, erinnerte ich ihn.
„Das hätte ich nicht getan, wenn ich gewusst hätte, dass du dich so an ihn ranwanzt!“, warf er mir vor.
Ich zuckte zurück, als hätte er mich geschlagen. „So denkst du also von mir? Ich habe versucht, dir zu helfen und ich war nett zu deinem Großvater, weil es mein Job ist und wenn das ein Problem für dich ist, dann kannst du mich mal!“ Mit diesen Worten drehte ich mich um und ging davon.
„Ah, Sie sind ja wieder da!“, begrüßte mich Mr. Stoke, als ich einige Stunden wieder in sein Krankenzimmer kam, um seine Werte zu überprüfen.
Ich lächelte ihn freundlich an, obwohl mir eigentlich nicht danach zumute war. Der Streit mit Jackson war mir auf den Magen geschlagen. „Wie geht es Ihnen, Mr. Stoke?“
„Ganz gut. Die Ärzte hier verstehen etwas von ihrer Arbeit“, gab er eher widerwillig zu.
„Ja, das hier ist wirklich ein sehr gutes Krankenhaus“, betonte ich, „Darf ich Sie etwas fragen?“
„Natürlich, Schätzchen, immer raus damit!“
„Wieso sind Sie Arzt geworden?“
Er zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, ich schätze, ich wollte Menschen helfen. Meine Eltern wollten damals, dass ich bei ihnen auf der Farm bleibe, aber ich bin einfach weggegangen, um Medizin zu studieren.“
„Sind Ihre Eltern stolz auf sie gewesen?“
„Als ich schließlich Arzt war, haben sie eingesehen, dass es wohl das Richtige ist.“
„Und warum wollen Sie Ihrem Enkel dann das Recht auf seine freie Entscheidung verwehren? Er will nicht in Ihrem Schatten stehen, sondern sich einen eigenen Ruf aufbauen, basierend auf seinen Leistungen. Kennen Sie das Gefühl denn nicht, sich beweisen zu wollen?“
Er schwieg eine ganze Weile. „Sie mögen meinen Enkel, nicht wahr?“
„Natürlich, wir sind Freunde“, betonte ich und hoffte, dass man mir die Röte nicht ansah. Was vermutlich zwecklos war.
Mr. Stoke grinste. „Das meinte ich nicht, Schätzchen. Sie sind in ihn verliebt und sorgen sich um ihn, das verstehe ich. Aber ich kann Ihr Argument nachvollziehen.“
„Dann sollten Sie mit Ihrem Enkel darüber reden“, schlug ich vor und überging seine Unterstellung. Es war die Wahrheit und so gerne ich es auch leugnen wollte, wusste ich, dass ich eine grauenhafte Lügnerin war.
Ein paar Tage später war Mr. Stoke entlassen worden. Jackson und ich hatten seitdem immer noch kein Wort miteinander gewechselt. Ich wartete darauf, dass er sich bei mir entschuldigte. Ich hatte nichts falsch gemacht und hatte nur helfen wollen und wenn das ein Problem für ihn war, dann konnte er mir wirklich gestohlen bleiben.
„Du hast schon wieder gewonnen!“, beschwerte ich mich gespielt.
Das kleine Mädchen mit den zwei blonden Zöpfen, das auf den Namen Katie hörte, kicherte fröhlich. „Du spielst eben so schlecht!“
„Na warte, ich fordere Revanche!“
„Na schön!“ Gönnerhaft überreichte sie mir den Stapel Karten, damit ich sie mischen konnte. „Charlie? Was ist, wenn meine Mama nicht wieder aufwacht?“ Tränen glitzerten in Katies Augen. Ich wusste, dass sie sich große Sorgen um ihre Mutter machte, die vor einigen Stunden mit einem Herzanfall eingeliefert worden war. Sie war noch im OP und ich kümmerte mich in der Zeit um Katie, versuchte sie abzulenken.
Ich legte die Karten weg. Nach dem plötzlichen Stimmungsumschwung war mir nicht mehr nach Spielen zumute und Katie sicher auch nicht. Ich fasste ihre kleinen Hände und hielt sie sanft fest. „Es wird alles wieder gut werden, Katie“, beschwor ich sie.
„Aber was, wenn nicht alles wieder gut wird?“
In dem Moment trat Jackson hinter Katie in das Wartezimmer. Er war an der Operation beteiligt gewesen. Ein Blick, ein Kopfschütteln seinerseits sagte mir, dass Katies Mutter es nicht geschafft hatte.
Ich drückte Katies Hände. „Hör zu, Katie, auch wenn deine Mutter stirbt, wird alles wieder gut werden, okay? Eine Weile wirst du sie vermissen und es wird weh tun. Aber dann wirst du dich an die schönen Momente erinnern und der Schmerz wird weniger werden. Er wird nie ganz weg gehen, aber dein Daddy wird für dich da sein und auf dich aufpassen. Zusammen werdet ihr das alles überstehen, in Ordnung?“
Sie nickte unter Tränen und schlang dann ihre Arme um meinen Körper. Ich drückte sie und hielt sie im Arm, bis sie vor Erschöpfung eingeschlafen war.
Ich betrachtete das kleine Mädchen, das friedlich in dem viel zu großen Bett schlief und noch nicht ahnte, dass seine Mutter sie nie wieder in die Arme schließen würde. Blinzelnd verdrängte ich die Tränen. „Charlie?“ Eine Hand legte sich auf meine Schultern und ich fuhr herum. Es war Jackson, der mich ansah. „Ist alles in Ordnung bei dir?“
Ich nickte. „Ja, alles bestens.“ Ich räusperte mich, als ich hörte, wie brüchig meine Stimme klang.
„Du weinst.“ Sanft strich Jack mit seinem Daumen eine Träne von meiner Wange.
„Entschuldige. Es ist nur… Katie tut mir so leid.“ Ich wandte mich wieder dem Mädchen zu, das ich durch die gläsernen Fenster des Krankenzimmers beobachten konnte und wich so Jacksons Blick aus. Seine blauen Augen schienen mir bis auf die Seele zu dringen und ich fürchtete mich davor.
„Weil du es selbst erlebt hast, nicht wahr? Wen hast du verloren? Deine Mutter?“
Ich schwieg eine Weile, bevor ich die Worte herausbrachte. „Beide. Es war ein Autounfall.“
„Wie alt warst du?“
„Acht. Genauso alt wie Katie. Danach war nichts mehr wie vorher.“
„Wer hat sich um dich gekümmert?“
„Niemand. Ich hatte keine Familie, nur eine Schwester meines Vaters und sie wollte mich nicht. Ich wurde von einer Pflegefamilie zur anderen gereicht und war in vielen Heimen.“
„Das tut mir so leid.“
„Du kannst ja nichts dafür.“
Jackson sagte kein Wort mehr, er fasste mich lediglich am Arm, drehte mich zu sich herum und zog mich in seine Arme. Er hielt mich fest, als die Tränen kamen. Als ich um den Verlust meiner Eltern weinte, die mir auch nach all den Jahren immer noch schmerzlich fehlten.
Der Schuss hallte durch die leere Halle. Er konnte nur hilflos zusehen, wie sie getroffen zu Boden sank, wie sich das Blut unter ihr ausbreitete wie ein roter Teppich. „Nein!“ Sein Schrei hallte ebenfalls durch die Halle, als er gedankenlos auf sie zustürzte und sie in seine Arme zog. Seine Tränen tropften auf ihr Gesicht und ihre geschlossenen Augen, während er verzweifelt seine Hände auf ihre Wunde presste. Es war ihm egal, dass der Attentäter immer noch dort stand mit erhobener Waffe, die direkt auf ihn gerichtet war. Wenn sie starb, dann war sein Leben ohnehin nichts mehr wert. „Wie konnten Sie das tun?“ Verzweifelt schrie er den Mörder der Frau an, die er liebte. Und der er nie davon erzählt hatte. „Sie hat sich für sie eingesetzt! Sie hat ihnen ermöglicht, sich von ihrer Frau zu verabschieden!“
„Sie hat die Geräte ausgeschaltet, die meine Frau am Leben erhalten haben!“
„Ihre Frau hat es so gewollt!“
„Meine Frau wollte leben!“
„Aber nicht durch Maschinen! Sie war tot, sie wäre nie wieder aufgewacht! Und hätte sie gewollt, dass sie unschuldige Menschen erschießen? Eine der freundlichsten Krankenschwester, die sich für jeden Patienten Zeit nimmt und mit jedem mitleidet? Ihre Frau hat Charlie gerngehabt, hätte sie das wirklich gewollt?“
Die Waffe in der Hand des Mannes, der über den Schmerz des Verlustes seiner Frau verrückt geworden war, zitterte. „Nein. Das hätte sie nicht gewollt.“ Tränen strömten über sein Gesicht. „Sie hat gesagt, sie wäre wie die Tochter, die wir nie hatten.“
„Und darum haben Sie sie getötet?“ Die Tränen liefen haltlos über sein Gesicht, es war ihm egal, dass seine sorgsam gehütete Fassade in tausend Splitter zerbrochen war. Was war sein Leben ohne sie noch wert?
„Es tut mir leid“, murmelte der trauernde Mann. Bevor Jack etwas tun konnte, hatte dieser die Waffe an seine eigene Schläfe gedrückt und abgedrückt. Tot sank der Mann zu Boden, der seine große Liebe auf dem Gewissen hatte.
Jack wandte den Blick von ihm ab und prüfte Charlies Puls. Sie durfte nicht tot sein, sie durfte einfach nicht tot sein! Schwach schlug ihr Herz gegen seine Hand, er konnte den schwachen Hauch ihres Lebens in ihr spüren! „Schnell, ich brauche Hilfe!“, schrie er. Noch war es nicht zu spät!
„Du darfst da nicht mit rein!“ Eine andere Assistenzärztin hielt ihn zurück, als er Charlie in den OP folgen wollte.
„Sie ist meine Freundin!“
„Eben darum! Angehörige und Freunde, enge Freunde dürfen da nicht mit rein! Ich weiß, dass du sie liebst, jeder weiß es, aber gerade deshalb musst du draußen bleiben. Lass die Ärzte ihre Arbeit tun, ich werde dich auf dem Laufenden halten, versprochen.“ Sie schenkte ihm ein mitleidiges Lächeln, bevor sie in den OP-Saal verschwand.
Jackson rutschte an der Wand hinab zu Boden und vergrub das Gesicht in seinen Händen. Er spürte die Spuren der getrockneten Tränen auf seiner Wange. Jeder hatte um seine Gefühle für sie gewusst und doch hatte er es nie über sich gebracht, ihr davon zu erzählen. Er wusste nicht, was er tun würde, wenn sie nicht überleben sollte…
Er war eingeschlafen. Die OP war gut verlaufen, aber nun hing alles davon ab, ob sie wieder aufwachte. Die ganze Nacht hatte er an ihrem Bett gesessen und ihre Hand gehalten und dabei musste er wohl eingeschlafen sein, denn er wachte auf, als er eine sanfte Bewegung an seiner Hand spürte. Er brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass sie ihre Hand bewegte. Sofort war er hellwach. Jackson begegnete Charlies Blick, der noch ein wenig benommen wirkte. „Wo bin ich? Was ist passiert?“
„Du bist wach!“ Erleichtert atmete er auf und konnte nicht verhindern, dass erneut Tränen über seine Wangen liefen, auch wenn es dieses Mal Tränen der Erleichterung waren. Er sprang von seinem Stuhl auf und umfasste ihr Gesicht mit seinen Händen. Er wollte sicher sein, dass sie am Leben war, er wollte es fühlen.
„Jackson?“ Ihre Stimme klang schwach, aber sie war am Leben. Sie war am Leben.
„Ja, ich bin hier!“, flüsterte er, „Du wurdest angeschossen, aber sie konnten dich retten. Es tut mir leid, Charlie, es tut mir so leid. Ich habe dich im Stich gelassen“, sprudelte es aus ihm heraus, er konnte es nicht verhindern, zu lange hatten sich einfach zu viele Worte in ihm angestaut.
„Es ist in Ordnung“, meinte sie.
„Nein, es ist nicht in Ordnung. Du warst immer für mich da, und ich habe dich im Stich gelassen, als ich Anschluss an die anderen Assistenzärzte gefunden hatte. Ich habe dich links liegen gelassen und das tut mir unendlich leid. Ich schwöre dir, dass es nie wieder vorkommen wird. Du bist das Wichtigste in meinem Leben, Charlie, ohne dich kann ich nicht leben. Ich liebe dich.“
Jetzt weinte sie ebenfalls. „Oh, Jackson, du Idiot! Ich liebe dich auch.“
Ihrer beiden Tränen vermischten sich, als er sie küsste.