Als ich ein Kind war, habe ich mir den Tag immer als wunderschöne Frau vorgestellt, mit goldenen Locken und Augen so blau wie der Himmel, für immer jung, strahlend wie die Sonne. Die Nacht dagegen war für mich ein Mann mit schwarzen Haaren, schwarzen Augen, die einen durchdringend mustern, verschlossen, unnahbar und voller Rätsel.
Ich lag falsch: Seine Augen waren silbern wie der Mond. Mit allem anderen lag ich bedauerlicherweise richtig.
Schon seit Anbeginn der Zeit erzählt man sich in meinem Volk die Legende, dass der Mond ein Mann ist, der junge Mädchen entführt, damit sie seine Einsamkeit teilen. Sie leben bei ihm – bis zu ihrem Tod. Dann sucht er sich ein neues Mädchen. Deshalb ist es jungen Mädchen verboten, in der Nacht hinauszugehen. Ich habe diese Geschichte immer für Humbug gehalten, die Mädchen nur davon abhalten sollte, in der Nacht hinauszugehen und immer schön brav zu sein. Und eines Nachts habe ich mich aus dem Haus geschlichen trotz aller Mahnungen und Verbote. Ich weiß nicht, wie viele Jahre seit dieser Nacht vergangen sind. Die Zeit vergeht anders im Reich des Mondes, es ist immer dunkel, immer herrscht finstere Nacht, da der Mondmann das Licht flieht wie Morgenfrost im ersten Licht des Tages. Es müssen viele Jahre vergangen sein seit jener Nacht, denn mein Haar ist mittlerweile grau geworden. Seit jener Nacht, in der der Mondmann mich zu sich holte.
Er hat in all den Jahren kaum ein Wort mit mir gesprochen, auch wenn er sich an den Stunden des Tages, in denen er keine Aufgabe hatte, oft in meiner Nähe aufhielt. Meistens schlief ich in der Zeit, weil er mir unheimlich war, aber ich wusste, dass er mich oft beim Schlafen beobachtete. Er selbst schlief nie.
Ich verstand, warum er sich alleine fühlte. In der Finsternis fühlte man sich noch verlassener als im hellen Licht des Tages. Die Angst konnte in der Dunkelheit überwältigend sein, auch wenn die Nacht seine Natur war. Offenbar reichte ihm meine Anwesenheit, um die Einsamkeit zu lindern.
Ich habe mich oft gefragt, was wohl aus meiner Familie geworden ist. Ob sie mich noch so sehr vermissen wie ich sie? Denn auch wenn er seine Einsamkeit stillen kann, fühle ich mich meist verloren. Manchmal erzählen mir die Sterne Geschichten, manchmal wiegt mich ihr Flüstern in den Schlaf. Doch oft schweigen sie und ich bin selbst nichts weiter als ein blinkender Punkt am fernen Horizont.