Von hoch oben wirkt die Welt beinahe friedlich. Und so wunderschön. Von hier oben sieht man nur die Schönheit, die von Menschen geschaffen worden ist. Die schlechten Dinge sind unsichtbar. Für einen kurzen Moment vergesse ich alle bedrückenden Gedanken, während ich hoch über der Stadt zu schweben scheine und nur die goldenen Lichter zu sehen sind. Für einen Moment scheint die Welt für mich in Ordnung zu sein, hier oben gibt es kein Leid, keine Krankheit und keinen Tod.
Das Quietschen der Tür, die hinauf zum Dach der Klinik führt, holt mich aus meinen Gedanken und bringt abrupt die reale Welt zurück. Ich bin zurück in der Wirklichkeit meines Lebens, der Hoffnungslosigkeit und des Schmerzes. Ich drehe mich nicht um, denn ich weiß, dass es er ist. Er, dem ich zum ersten Mal hier oben begegnet bin. Er, der mich ganz ohne Worte versteht. Er, den ich seither jede Nacht hier oben treffe. Wir sitzen jede Nacht einfach nur schweigend da und schauen über die nächtliche Stadt. Wir haben noch nie ein Wort gewechselt, ich kenne weder seinen Namen noch die Krankheit, die ihn hierhergeführt hat, aber das ist auch nicht wichtig. Er ist da und wir sind nicht alleine. Wir sehen die Dinge auf die gleiche Art und Weise. Weil wir beide krank sind und nicht mehr lange zu leben haben.
Manchmal bilde ich mir ein, spüren zu können, wie der Krebs sich schleichend in meinem Körper ausbreitet. Wie er in meine Zellen dringt, sie einnimmt und zerstört, während mein Körper immer schwächer wird. Ich meine spüren zu können, wie er mein Gehirn befällt, sich in mein Bewusstsein frisst, bis nichts mehr davon übrigbleibt, bis ich vergesse, wer ich bin und alles Menschliche verloren ist. Der Krebs ist ein Gegner, den ich nicht besiegen kann. Ein Gegner, dem ich hilflos ausgeliefert bin. Nichts davon sage ich laut und dennoch habe ich das Gefühl, dass er es versteht. Dass er genau weiß, wie ich mich fühle, weil er selbst tief in einem Strudel aus Verzweiflung und Angst versinkt. Und während ich begreife, dass ich nicht alleine damit bin, breitet sich eine stille Ruhe in mir aus.
Heute ist etwas anders als sonst. Eine stille Spannung liegt in der Luft, die wir beide spüren. Er ist der Erste, der unser Schweigen bricht: „Der Arzt sagt, dass ich das Ende der Woche nicht mehr erleben werde.“ Seine Stimme ist dunkel und rau, gefärbt von den Emotionen, die er nicht zu verstecken versucht. Nicht vor mir. Es ist Trauer und Hoffnungslosigkeit, Angst, die seine Stimme färbt.
„Hast du Angst?“, frage ich.
„Angst vor dem Tod?“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht, ich glaube nicht. Ich weiß nicht, was danach kommt und bin mir nicht sicher, ob ich es überhaupt bewusst erleben werde oder ob ich einfach… aufhöre zu existieren. Ich glaube, mir macht das Sterben mehr Angst. Was meinst du? Wie ist es wohl zu sterben?“
„Ich hoffe, es ist wie einschlafen. Ohne Schmerzen.“
Ich spüre, wie er mir den Blick zuwendet und ich wende ihm ebenfalls meinen Kopf zu. Es ist das erste Mal, dass wir uns so tief in die Augen sehen. Er lässt mich in seine Seele schauen und ich ihn in meine. „Bereust du etwas nicht getan zu haben?“, will er wissen.
Ich denke nach. „Es gibt viele Dinge, die ich noch gerne getan oder erlebt hätte. Letzte Wünsche, die ich mir noch gerne erfüllt hätte. Aber es gibt für mich keine Gelegenheit, sie mir zu erfüllen, also versuche ich nicht daran zu denken, etwas zu bereuen. Ich habe mein Leben gelebt, wie es möglich war. Mehr konnte ich nicht tun.“
„Was würdest du tun, wenn du noch Zeit hättest? Wenn du noch ein ganzes Leben hättest?“
„Was würdest du tun?“, kontere ich.
Er richtet den Blick gedankenverloren auf die Stadt, die sich unter unseren Füßen erstreckt, bis sie sich in weiter Ferne verliert, wo die Berge wie ein dunkler Schatten in der Nacht aufragen. „Ich wäre gern um die Welt gereist“, meint er, „Ich hätte gerne herausgefunden, wer ich bin und wer ich hätte werden können.“
„Ich hätte gerne erfahren, wie es ist, jemanden zu lieben. Wie es ist, Kinder zu haben. Ich hätte gerne gewusst, dass etwas von mir bleiben wird.“
„Warum glaubst du, dass nichts von dir bleiben wird? Wir werden in den Herzen unserer Familie, unseren Freunden, weiterleben. Wir werden ein Gedanke, ein Gefühl sein. Wir werden unsichtbar sein, aber wir werden nicht einfach verschwinden.“
Erneut senkt sich Schweigen über uns wie die schützenden Schwingen eines Engels. Ein Gedanke kommt mir in den Kopf und lässt mich nicht mehr los, sodass ich ihn schließlich ausspreche: „Was glaubst du, wie ist es, mit jemandem zusammen zu sterben? Verbindet es einen?“
Ein Blick in seine Augen und ich weiß, dass er das gleiche denkt wie ich. Er steht auf, wobei man ihm ansehen kann, welche Schmerzen und welche Mühe ihm die Bewegungen machen. Er hält mir eine Hand hin, die ich ohne Zögern ergreife. Ich lasse mir von ihm auf die Füße helfen und ignoriere das Schwindelgefühl, die ganze Welt dreht sich, doch ich konzentrierte mich nur auf den sanften Blick aus seinen Augen, die mir das Gefühl geben, dass meine Welt doch nicht auf wackeligen Füßen steht, wenn ich sie nur seinen Händen anvertraue.
Wir brauchen keine Worte, als wir uns fest bei den Händen halten. Zusammen fliegen wir. In den Himmel oder auf die Erde – was macht es für einen Unterschied? Wir sind zusammen – in unserem letzten Moment, hoch über der Stadt mit ihren Lichtern, die in dieser Nacht nur für uns zu leuchten scheinen. Ein letztes Mal.
Zwei Engel sind gefallen.