Die letzte Nacht
„Hast du keine Angst?“, fragt er sie.
Sie schaut ihn nicht an, schaut nur weiter hinauf zu den Sternen. Der Himmel zeigt ein friedliches Bild, steht in einem krassen Gegensatz zu der Situation hier auf der Erde. Im Moment ist es ruhig, aber es ist eine angespannte Stille. Sie alle warten auf den ersten Schlag, von dem sie wissen, dass er kommen wird. Ein finaler Schlag, den keiner von ihnen überleben wird. Sie alle wissen, dass dies ihre letzte Nacht auf Erden ist. Für sie wird es kein Morgen geben. Er bewundert sie für ihre Ruhe und kann nicht verstehen, wie sie so leicht damit umgehen kann, dass sie alle in dieser Nacht sterben werden.
„Wir alle haben Angst zu sterben“, antwortet sie schließlich, „Es kommt darauf an, etwas zu finden, für dass es sich zu sterben lohnt.“ Sie wendet ihren Blick vom Sternenhimmel ab und schaut ihn direkt an. Ihr Blick ist fest und erfüllt ihn mit Ruhe. „Wenn wir siegen, wird unser Tod nicht vergebens gewesen sein.“
„Wenn wir siegen“, murmelt er.
Sie lächelt müde. Als hätte sie zu viel von dieser Welt gesehen. Vermutlich ist es so. Niemand weiß, woher sie kommt, was sie erlebt hat, aber es gibt Gerüchte, dass sie an den finstersten Orten dieser Welt war und die furchtbarsten Dinge gesehen hat, die Menschen einander antun können. Er wäre längst daran zerbrochen, aber ihre Stärke ist unerschütterlich. „Wir werden es nie erfahren“, sagt sie und wendet ihren Blick wieder dem Sternenhimmel zu. Eine Sternschnuppe saust über den Horizont. „Wünsch dir etwas“, schlägt sie vor und er wünscht sich ein Wunder.
„Hast du dir etwas gewünscht?“, fragt er sie.
Sie schüttelt den Kopf. „Ich glaube nicht an Wünsche.“
Er nickt und folgt ihrem Blick in den Himmel. „Wenn wir erfolgreich sind, werden wir Helden sein. Wir werden niemals vergessen werden“, murmelt er. Der Gedanke tröstet ihn. Er hat Angst, dass seine Existenz verschwindet, völlig bedeutungslos wird.
„Das spielt für mich keine Rolle“, erwidert sie, „Das war nie ein Leben, das ich führen wollte. Helden. All der Ruhm, all die Erwartungen.“
„Die Menschen würden dich endlich sehen“, sagt er. Er hat es gesehen. Die Menschen beachten sie nicht, sie ist nur eine Randfigur, völlig bedeutungslos, einfach nicht existent. Er weiß nicht, wie sie es erträgt. Aber wenn die Menschen die Wahrheit wüssten, würden sie sie verehren.
„Warum?“, fragt sie und schaut ihn an, „Was spielt es für eine Rolle? Es hätte sich an mir nichts geändert. Ich will nicht, dass die Menschen mich nur sehen, weil sie mich für eine Heldin halten. Wir alle sind Menschen und wir alle machen Fehler. Man vergisst es schnell, wenn man jemanden für einen Helden hält.“
„Hast du es nie bereut, dass du diesen Weg eingeschlagen hast?“, will er wissen.
Sie schüttelt den Kopf, den Blick wieder in den Himmel gerichtet. „Das Einzige, was ich bereue, sind die Menschen, die ich nicht gerettet habe.“
In der Ferne ist eine Explosion zu hören und sie richtet ihren Blick auf die Feuersäule, die in den Himmel steigt.
Angst umklammert sein Herz. „Es beginnt also.“
Sie nickt und wirft ihm einen letzten Blick zu. Sie beide wissen, dass es kein Wiedersehen geben wird. Bis zum Morgengrauen sind es noch sechs Stunden. Sechs Stunden müssen sie die Stadt halten, dann wird Hilfe kommen. Aber diese wenigen Stunden können im Krieg zu tausend Jahren werden. Vielleicht wirkt sie deshalb so viel älter, als sie wirklich ist.
Sie lächelt ihn an. „Weißt du, warum ich in den Himmel schaue?“
Er schüttelt den Kopf.
„Weil ich mich frage, ob wir auch Sterne sein werden. Vielleicht sehen wir am Himmel unsere verlorenen Freunde wieder, während wir weiterhin über das Schicksal der Menschen wachen.“
Sie kämpfen in dieser Nacht für das Leben unzähliger Menschen. Sie verteidigen die Stadt mit den wenigen Leuten, die sie sind. Einen nach dem anderen sieht sie sterben, als sie den Kampf nach und nach verlieren. Als der Morgen graut, hört sie die Flugzeuge.
Als sie stirbt, trägt sie ein Lächeln auf dem Gesicht.