„Ich dachte schon, du würdest mich versetzen“, begrüßte ich ihn, sobald er den Stream betreten hatte.
„Ich würde dich doch nie versetzen“, betonte er. Oder vielmehr krächzte er. Er klang wirklich nicht gut.
„Du klingst übel“, erwiderte ich.
„Ja, so fühle ich mich auch. Aber nicht übel genug, um dich zu versetzen. Entschuldige kurz, muss husten.“ Er stellte das Mikro kurz aus.
„Tödlicher Männerschnupfen?“, riet ich spöttisch, um den Teil zu verbergen, der sich Sorgen um ihn machte, der nicht wollte, dass es ihm jemals schlecht ging. Er war einer dieser Menschen, die ein wirklich gutes Herz hatten. Er war schon lange als Streamer im Internet unterwegs, seine Videos waren so unterhaltsam und witzig, dass er einfach jeden zum Lächeln oder Lachen brachte. Ich hatte es geliebt, ihm dabei zuzusehen, wie er spielte, seine ansteckende Fröhlichkeit. Irgendwann hatte ich ihn im Chat herausgefordert. Er hatte mal wieder sein nicht vorhandenes Gesangstalent unter Beweis gestellt – wenngleich er sich einen Pluspunkt für kreative Texte verdient hatte – und ich hatte gemeint, dass ich das besser könne. Es war eigentlich ein Scherz gewesen und ich hatte nicht damit gerechnet, dass er ausgerechnet diesen Kommentar aus den vielen Nachrichten, die durchscrollten, lesen würde. Aber er hatte gemeint, ich solle es beweisen. Und ich hatte gesagt, er solle gegen mich bei einem Spiel meiner Wahl antreten und dann würden wir weitersehen. Er hatte die Herausforderung tatsächlich angenommen. Er hatte verloren und eine Revanche gefordert bei einem Spiel seiner Wahl. Und ehe wir uns versahen, spielten wir jeden Mittwochabend öffentlich gegeneinander, immer im Wechsel durfte der jeweils andere ein Spiel aussuchen. Den meisten seiner Fans gefiel das. Einige waren eifersüchtig, aber das kümmerte ihn nicht, wie er sagte.
„Ganz genau“, bestätigte er, als er das Mikro wieder anstellte, „Das ist wirklich gemeingefährlich! Ich hoffe also, du hast Mitleid mit mir.“
Ich war in der Tat heute mit der Wahl des Spiels dran. Und ich liebte es einfach, ihn leiden zu sehen. „Mitleid? Was ist das? Kann man das essen?“
Er lachte. „Ich dachte mir schon, dass es dir Freude machen würde, dass ich so leide.“
„Du hättest auch absagen können, das hätten wir alle verstanden.“
„Aber nicht doch. Dafür hab ich euch zu lange vermisst. Insbesondere dich – eine Woche ist wirklich zu lang ohne deine fiesen, spöttischen Kommentare.“
„Aww, wie süß von dir“, spottete ich.
„Du bist eine Hexe!“, warf er mir vor, „Du hast mich verhext, weshalb die Mittwochabende zum schönsten Teil meiner Woche geworden sind.“
Seine Worte trafen mich direkt ins Herz. Denn mir ging es ganz genauso. Wie gut, dass er mein breites, glückliches Grinsen nicht sehen konnte. Wir hatten einander noch nie gesehen. Er behielt immer die Kamera aus und auch ich hatte sie nie angemacht. Aus verschiedenen Gründen. Aber manchmal war es überhaupt nicht wichtig, wie der andere aussah. Der Charakter war doch viel wichtiger, sein Humor und seine Fröhlichkeit, seine Stimme – wenn sie nicht so kratzig klang – hatten mich in ihren Bann gezogen. Ich ließ mir das aber nicht anmerken. „Mal sehen, ob du das immer noch sagst, wenn du siehst, welches Spiel ich ausgewählt habe.“
Er seufzte. „Lass mich raten: Ein Horrorspiel.“
„Wie hast du das denn erraten?“
„Weil ich weiß, wie sehr du es liebst, mich leiden zu sehen. Nach dem letzten Mal hatte ich eine Woche Albträume!“
„Albträume von deinem Handy? Immerhin hast du dich am meisten davor erschreckt, dass es plötzlich vibriert hat.“
„Du gefährdest wirklich meine geistige Gesundheit!“, warf er mir vor.
„Immer gerne“, grinste ich, „Also, was ist der Einsatz?“ Wir spielten immer mit Einsatz. Wenn ich das Spiel aussuchte, dann durfte er sich aussuchen, was er sich von mir wünschte, wenn er gegen mich gewann. Und andersherum. Wie er sich beim ersten Mal eben gewünscht hatte, dass ich sang.
„Wenn ich gewinne, dann triffst du dich mit mir“, sagte er und ich erstarrte. So etwas hatte er noch nie gewünscht. Meist waren es lustige Sachen, manchmal eine Frage, auf die wir eine Antwort wollten. Aber nichts so Persönliches. „Bist du noch da?“
„Sicher“, entgegnete ich möglichst selbstsicher.
„Du hast doch nicht etwa Angst?“, zog er mich auf, „Bei Horrorspielen kennst du nichts, aber dich mit mir treffen, ist zu gruselig? Ich verspreche dir, ich bin kein Serienmörder.“
„Ne, dazu bist du viel zu weich. Aber wer sagt dir, dass ich keiner bin?“
„Ah, das Risiko gehe ich ein. Was man nicht alles tut, um die Frau seines Lebens davon zu überzeugen, sich endlich einmal zu treffen. Ich werde tatsächlich noch eine Million Horrorspiele gegen dich spielen, wenn ich dich am Ende meine Freundin nennen darf.“
Der Chat explodierte – ebenso wie mein Herz.