Ich lernte ihn in einem meiner Kurse kennen, obwohl kennenlernen das falsche Wort war. Wir teilten uns die gleiche Luft, während wir zwei Stunden in demselben Raum saßen und den leeren Worten des Lehrers lauschten, der unsere Köpfe mit Informationen zu füllen versuchte, obgleich er selbst wusste, dass wir alles wieder vergessen würde. Wir teilten uns die gleiche Luft und doch lagen Welten zwischen uns. Er war der beliebte Junge, von allen umschwärmt und angehimmelt. Ich war das unsichtbare Mädchen, das sich vor allen versteckte. Ich war glücklich damit, ich wollte nichts an meiner Situation ändern, auch wenn er das niemals verstehen würde.
Richtig kennenlernen tat ich ihn erst, als ich begann, ihm Nachhilfe zu geben. Er hatte mich irgendwann angesprochen und ich hatte nicht abgelehnt. Was machte es schon? Ich sagte ihm, dass ich eine Bedingung hätte: Er sollte leugnen, mich zu kennen. Ich wollte unauffällig bleiben und an seiner Seite oder auch nur in seinem Bannkreis wäre mir das unmöglich. Er stimmte zu und fragte nicht nach, auch wenn ich die Frage in seinen Augen sah. Er verstand es nicht, wie ich erwartet hatte.
Wir lernten uns kennen und verstanden uns erstaunlich gut. Wir wurden ein gutes Team, verbrachten Zeit zusammen und hatten viel Spaß. Doch immer bestand ich darauf, dass wir uns versteckten. Es sollte kein Uns vor den anderen geben. Er verstand es nicht, aber das musste er auch nicht, solange er sich nur daranhielt.
Er war anders als ich. Er konnte und wollte nicht damit leben, nur im Geheimen zusammen zu sein. Ihm war sein Ruf egal, obwohl der leiden würde, wenn der beliebte Junge etwas mit dem stillen Mädchen anfangen würde. Er hatte nie viel davon gehalten. Er war bodenständig, natürlich, liebenswert und fürsorglich, die Eigenschaften, die wirklich jeden dazu brachten, ihn zu lieben.
Unser letzter Tag begann wie jeder andere. Wir begegneten uns auf dem Flur unserer Schule, wechselten einen kurzen Blick voller Geheimnisse und Versprechungen auf ein Miteinander in unserer eigenen Welt. Doch an diesem Tag ging er nicht weiter, als ich vorübergehen wollte. Er fasste mich sanft am Arm und küsste mich – vor den Augen aller anderen. Ihm war es egal, was sie von ihm dachten. Ich spürte die Augen aller Schüler auf uns gerichtet, ich hörte das Tuscheln und wusste, dass ich nicht mehr unsichtbar sein würde. Ich wusste, dass er mir helfen wollte, aber stattdessen hatte er mir meinen Schutz genommen und er würde es nie verstehen.
Ich rannte davon und versteckte mich auf der Toilette. Ich spürte, wie die Verzweiflung mich überwältigte. Ich war nicht dazu geboren, auf Menschen zuzugehen, ich konnte es einfach nicht, deshalb versteckte ich mich oft an diesem Ort, an dem ich alleine sein konnte. An dem meine eigene Unzulänglichkeit mich nicht bedrängte.
Er folgte mir. Ich wusste, dass er mir nur helfen wollte, aber in meinem Kopf war nur Platz für den Gedanken an Flucht. Ich versuchte, die Tür abzuschließen, doch er war klug und er war viel schneller als ich. Er zog mich in seine Arme und umarmte mich fest, was eigentlich alles war, was ich wollte. Doch die Angst in mir erdrückte mich. Ich wollte ihm nicht zur Last fallen.
Er wollte mir helfen, als er ging, um unseren Lehrer zu holen, weil er wusste, dass etwas nicht in Ordnung war. Ich versprach ihm zu warten, nutzte den Moment jedoch, um abzuhauen. Ich schaffte es nicht, unbemerkt zu verschwinden. All die unzähligen Zimmer in den vielen Stockwerken hätte ich wählen können, aber ich erwischte genau das, in das er sich mit dem Lehrer zurückgezogen hatte. Ich konnte die Enttäuschung in seinen Augen lesen, als er begriff, was ich vorhatte.
Ich drehte mich um und ging ohne einen Blick zurück.
Er wird es nie verstehen, warum ich bin, wie ich bin. Warum meine Ängste mich fest im Griff haben und wie sie mich mit einer minimalen Bewegung zu zerbrechen drohen.
Er wird es nie verstehen.