Es begann an einer Bushaltestelle. Es war seltsam, wie er dort auf einmal neben mir auf der Bank saß – zwischen den Scherben zerbrochener Bierflaschen, zwischen den Zigarettenkippen und den Kaugummis an den Wänden. Ich war die einzige, die in dieser Nacht an dieser abgelegenen Bushaltestelle saß. Wie aus dem Nichts hatte er auf einmal neben mir gesessen.
Der Tod.
Er sah auf den ersten Blick vollkommen normal aus. Wäre ich ihm in einer Menschenmenge begegnet, hätte ich ihn vielleicht für einen normalen Menschen gehalten. Doch in seiner direkten Nähe konnte ich die Kälte spüren, die von ihm ausging und die mich frösteln ließ. Vielleicht hätte ich Angst empfinden sollen, aber das tat ich nicht. Ich fühlte mich endlich nicht mehr so alleine. Keiner von uns beiden sagte ein Wort in dieser ersten Nacht.
In der zweiten Nacht wartete er schon auf mich. So kam es mir zumindest vor. Ich wusste nicht, warum er dort war und es spielte auch keine besondere Rolle. Nicht für mich. Er war einfach da und ich war nicht alleine.
Erst in der dritten Nacht fragte ich ihn, warum er gekommen war. Ob er mich holen wollte. Seine Stimme war klar und kräftig, als er mit einem „Nein“ antwortete. Mehr sagte er nicht.
In der vierten Nacht meinte er, er wolle mir etwas zeigen. Er brachte mich an die Klippen, an denen ich früher mit meinem Bruder gewesen war. Die Klippen, die er sich hinuntergestürzt hatte, als er sein Leben nicht mehr länger ertragen konnte. Er hatte mich alleine gelassen. Der Ort, der früher mit so vielen schönen Erinnerungen verbunden gewesen war, war für mich nun ein Ort des Schmerzes. Ich wollte nicht hier sein.
Der Tod stellte sich an den Rand der Klippen und winkte mich zu sich, doch ich schüttelte nur den Kopf. Kritisch schaute er mich an. „Hast du Angst zu fallen?“, wollte er wissen.
„Natürlich“, entgegnete ich. Das war die Antwort, die man von mir erwartete. Die Antwort, die man von einer glücklichen Frau erwartete, die den Tod ihres Bruders überwunden hatte, stets mit einem Lächeln im Gesicht durch die Gegend ging und nicht darüber nachdachte, sich das Leben zu nehmen. Die Frau, die ich am Tag zu sein vorgab, während mich in den einsamen Stunden der Nacht die Finsternis einholte.
„Und ich dachte, du wolltest tot sein.“ Natürlich hatte er mich durchschaut.
„Bist du hier, um mir dabei zu helfen?“, fragte ich, während ich langsam auf ihn und den Rand der Klippen zu ging. Ich stellte mich neben ihn, schaute in die Tiefe, die in der Schwärze der Nacht verborgen vor mir lag. Ich konnte die Wellen hören, die unten gegen die Felsen schlugen, eine Gewalt, die mich zerschmettern würde. Es wäre so einfach. Ein letzter Schritt.
„Ist es wirklich das, was du willst?“, hakte der Tod nach.
„Ich will, dass der Schmerz endet. Die Einsamkeit. Das Gefühl, langsam zu ersticken.“
„Und du glaubst, dass der Tod dir Erlösung bringt?“
„Ist es nicht so?“ Ich schaute ihm direkt in die schwarzen Augen, die kalt und leblos wirkten.
Er antwortete nicht.
Ich sprang in dieser Nacht nicht von den Klippen und auch nicht in den Nächten danach, wenn wir uns an den Klippen trafen. Nie sprachen wir ein Wort, Worte waren ohne Bedeutung. Und jedes Mal, wenn das Morgengrauen das Ende der Nacht ankündigte, verschwand er.
Viele Nächte vergingen auf diese Weise, bevor ich das Schweigen zwischen uns brach. „Erzähl mir von deiner Welt“, bat ich.
„Sie ist dunkel. Dort ist es immer Nacht, die Sonne geht niemals auf.“
„Ist das der Grund, warum du immer im Morgengrauen verschwindest?“
„Wir leben nicht mehr im Licht.“
„Wir?“
„Die Toten.“
Danach schwiegen wir wieder. Bis sich seine Gestalt im Morgengrauen auflöste.
Viele Nächte zogen vorüber, manchmal sprachen wir, manchmal schwiegen wir. Ich gewöhnte mich an seine Gegenwart und wünschte mir, er könnte immer bei mir bleiben. Ich hatte aufgehört, die Nächte zu zählen, als ich ihn schließlich bat zu bleiben, als er gehen wollte.
„Ich kann nicht bei dir bleiben“, antwortete er. Seine Stimme klang gequält, die Emotionen ließen sie menschlicher erscheinen. Seine Stimme war mir so vertraut, dass es schmerzte, denn ich hatte sie so lange nicht gehört.
„Warum nicht?“
„Weil uns das Sonnenlicht an unsere Fehler erinnert, uns die Reue fühlen lässt. Es würde mich zerstören.“
„Bist du nicht unsterblich?“
„Das bedeutet nicht, dass ich keinen Schmerz empfinden kann.“ Er zögerte. „Du könntest mit mir kommen. Ich könnte dir meine Welt zeigen. Sie ist völlig anders als deine. Es ist eine Welt der Träume.“ Seine Worte entfalteten eine Kraft über mich, der ich mich nicht entziehen konnte. „Es ist ein Ort, von dem es keine Rückkehr mehr gibt.“
Das klang verlockend. Keine Rückkehr zu all der Trauer und dem Schmerz, den ich hier empfand. Ein Ort, an dem ich für immer mit ihm zusammen sein konnte. Mit meinem Bruder.