„Habt ihr je geliebt?“ Die Frage traf ihn aus heiterem Himmel. Er schaute in die hellen Augen der Sprecherin, die ihn neugierig musterten. Er wusste nicht, wie sie jetzt auf diese Frage gekommen war. Eben hatte sie ihm noch vorgeworfen, er würde zu viele Frauen verführen und mit gebrochenem Herzen zurücklassen und nun stand sie da, blickte ihn voller Erwartung auf seine Antwort an.
Er schluckte. „Ein Mal.“ Seine Stimme klang brüchig, brüchiger als er es gewollt hatte und doch verfolgte ihn die Erinnerung an sie bis heute. Seine Schuldgefühle verfolgten ihn bis in seine Träume, die ihn jede Nacht quälten. Er konnte sich kaum noch an eine Zeit erinnern, in der er friedlich geschlafen hatte. Es musste damals gewesen sein, als sie noch an seiner Seite war. Bevor er sie verraten hatte.
„Was ist aus ihr geworden?“, fragte sie weiter, ihre Stimme klang einfühlsamer als er es von ihr gewohnt war, da sie ihn normalerweise ständig angriff und ihn für seine Taten und Haltungen verurteilte und kritisierte. Er wusste nicht, wie oft er bereits lautstark mit ihr diskutiert hatte, wie oft er gegen ihre Beharrlichkeit bereits verloren hatte. Sie erinnerte ihn schmerzhaft an seine einzige Liebe.
Er antwortete nicht. Ein Kloß hatte sich in seinem Hals geformt, der ihn am Sprechen hinderte. All die Erinnerungen, die er wegzusperren versuchte hatte, überfluteten ihn.
Er erinnerte sich an das erste Mal, als er sie gesehen hatte. Gebrochen, geschlagen. Verletzt. Es waren dunkle Zeiten gewesen, dunkle Kerker, in denen sie beide gefangen gehalten worden waren. Er hatte ihr nie gesagt, wie sehr er sie für ihren Mut und ihre Stärke bewundert hatte, denn sie hatte nie aufgegeben, gleichgültig was man ihr angetan hatte.
Er erinnerte sich an ihre Flucht. Sie hatten sich ständig gestritten, ständig in den Haaren gelegen und waren in allen Dingen unterschiedlicher Meinung gewesen und dennoch hatten sie sich aufeinander verlassen können. Bedingungslos. Und wann immer sie gestritten hatten, hatte er nie gewusst, ob er sie erwürgen oder verführen sollte, wenn sie ihn mit ihren hinreißend funkelnden Augen anblitzte.
Er erinnerte sich, wie sie es gemeinsam in die Verborgene Stadt geschafft hatten, die sein Zuhause war, denn ihres war vor langer Zeit zerstört worden, wie sie einmal in einer dunklen Nacht in der Zelle erwähnt hatte. Sie hatte nie darüber gesprochen und er hatte sie nie gedrängt, wollte nicht an ihre schmerzhaften Erinnerungen rühren. Sie gingen beide ihrer Wege und dennoch konnten sie nicht voneinander lassen. Wann immer sie sich begegneten, gerieten sie in Streit, sie kritisierte jede seiner Entscheidungen und ließ kein gutes Haar an ihm.
Er erinnerte sich an die Nacht des Balls, als sie ihm Wein über das Hemd gekippt hatte und die Fetzen zwischen ihnen mitten im Saal geflogen waren, sehr zur Belustigung der anwesenden Gäste, für die ihre Streitereien legendär waren. Sie liebten es, dass eine so zarte Person wie sie den großen General herausforderte – und gewann.
Er erinnerte sich, wie sie den Saal verlassen hatte, nachdem er etwas gesagt hatte, dass er bis heute bereute. Er wusste nicht mehr, was es gewesen war, aber er hatte sie zum Weinen gebracht und das war niemals sein Ziel gewesen. Trotz allem wollte er niemals Tränen auf ihren Wangen sehen und vor allem wollte er nicht der Grund dafür sein. Denn tief in seinem Inneren wünschte er sich, derjenige zu sein, der ihr alle Tränen nahm und sie glücklich machte, weil es das war, was sie verdiente.
Er erinnerte sich, wie er ihr gefolgt war. Wie sie ihn wütend angefahren hatte und er doch kein Wort verstanden hatte. Wie sie versucht hatte, ihn fortzustoßen. Aber er war nicht gegangen. Sie hatte ihn provoziert und er hatte sie noch gewarnt, dass sie nicht die Bestie wecken sollte, aber sie hatte nicht auf ihn hören wollen. Er wusste noch genau, wie er sie gepackt hatte, als die Leidenschaft ihn überwältigte, wie er sie an die Wand gedrückt hatte und endlich das getan hatte, was er seit so langer Zeit gewollt hatte: sie küssen.
Er erinnerte sich, wie die Stadt gefallen war. Wie sie beide den Abzug der Bevölkerung so gut es ging gesichert hatten, er mit seinem Schwert, sie mit ihrer Magie. Zumindest hatte es so sein sollen und für lange Zeit hatte er nicht den Grund verstanden, warum sie an diesem Tag keine Magie einsetzte. Er dachte, sie hätte ihn verraten. Er dachte, sie hätte ihn seinem Schicksal überlassen, als sie den Kampf gegen die Monster, die sie verfolgten, verloren. Er war gefangen worden und er hatte geglaubt, dass es ihre Schuld war. Als er viele Jahre später entkommen konnte, war es diese Geschichte, die er seinem Volk erzählte. Man begann, sie zu verachten, sie zu verspotten und sie verstießen sie. Sein ganzes Volk hatte sie im Stich gelassen und es war seine Schuld gewesen. Er hatte sie im Stich gelassen und all die schlimmen Sachen, die noch kommen würden, musste sie alleine durchstehen. Er hatte ihr das Herz gebrochen, weil er geglaubt hatte, sie hätte ihm seines aus der Brust gerissen. Er hatte viele Jahre gebraucht, um zu verstehen, dass ihre Liebe für ihn keine Farce gewesen war, dass sie keine Spionin gewesen war, dass ihre Liebe für ihn echt gewesen war. Er hatte lange gebraucht, um zu begreifen, dass diese Liebe lediglich nicht länger ihm alleine gelten konnte.
Er erinnerte sich, wie verändert sie gewesen war, als sie sich lange Jahre später wiedersahen. Trotz ihrer leidenschaftlichen Streitereien hatte er immer gewusst, dass ein gutes Herz in ihr steckte. Sie hatte sich ihm entgegengestellt, weil sie für die Schwächeren gekämpft hatte, die er bisweilen zu vergessen schien. Sie hatte sich für Gerechtigkeit eingesetzt. Und dennoch stand sie ihm bei ihrer nächsten Begegnung auf der Seite des Feindes gegenüber. Sie war zur Verräterin geworden und er hatte es übersehen. Er hatte sich an ihren Sanftmut erinnert und dabei nicht bemerkt, wie verbittert sie geworden war. Er hatte ihr geglaubt und war beinahe gestorben, als sie ihn in eine geheime Gruft in den Bergen brachte, wo der dunkle König auf ihn wartete.
Er erinnerte sich, wie er gekämpft hatte. Und vor allem erinnerte er sich, wie sie in seinen Armen gestorben war, nachdem er sie mit seinem Schwert durchbohrt hatte. Wie sich ihrer beider Tränen auf ihren Wangen vermischt hatten, als sie ihm erzählt hatte, dass sie glücklich sei, nun bald ihren Sohn wiederzusehen. Ihr Sohn, der gestorben war, weil alle sie im Stich gelassen hatten. Ihr Sohn, dessen Tod sie verbittert hatte, für den sie bereit gewesen war, sich mit dem dunklen König zu verbünden, weil er die Macht über Leben und Tod besaß und er ihr versprochen hatte, ihren Sohn zurückzuholen. Ihr Sohn, den sie damals erwartet hatte, als die Verborgene Stadt gefallen war, eine Schwangerschaft, die sie am Gebrauch ihrer Magie gehindert hatte, um das Kind zu schützen. Sein Sohn.
Er erinnerte sich an den mittlerweile vergilbten Brief, der noch immer in seiner Schublade im Nachttisch lag. Ein fleckiger Brief, den er so oft in seiner Hand gehabt hatte, der seine Tränen aufgefangen hatte, wenn die Erinnerungen ihn im Dunkel der Nacht einholten. Sie hatte ihm vergeben, hatte sie gesagt. Nach allem, was er ihr angetan hatte. Sie hatte ihm vergeben, dass er sie im Stich gelassen hatte, dass er sich für den leichten, aber falschen Weg entschieden hatte, dass er sich von ihr abgewandt hatte, als sie seine Hilfe brauchte und in einem Gefängnis steckte, das in ihrem Inneren gebaut worden war und das er vielleicht hätte brechen können. Sie hatte ihm vergeben – obwohl er es nicht verdient hatte.
Er spürte ihren Blick auf sich ruhen und erinnerte sich an ihre Frage. Tief durchatmend antwortete er: „Sie ist gestorben. Vor langer Zeit.“