Unruhig lief ich auf dem Boot auf und ab und starrte immer wieder auf das dunkle Wasser. Es war nichts zu erkennen. So langsam wurde aber die Zeit knapp, sein Sauerstoff musste ihm bald ausgehen!
Lautlos verfluchte ich seine Leichtsinnigkeit, die ich von Anfang an verabscheut hatte. Schon von dem Moment an, als ich mich mit ihm in dieser Bar getroffen hatte. Wegen der einzigen Gemeinsamkeit, die uns verband: Wir beide liebten es, Rätsel zu lösen. Während ich mich bevorzugt in alte Akten vertiefte, um damit Geheimnissen auf die Spur zu kommen, liebte er allerdings das direkte Abenteuer. Insbesondere das Tauchen nach Schätzen. Über die Jahrhunderte waren viele Schiffe gesunken, viele Geheimnisse lagen auf dem Grund des Meeres verborgen, verloren unter den Wellen in den Weiten des Meeres. Ich war gut darin, alle Informationen über diese Schiffe zusammenzutragen und die wahrscheinlichste Route zu rekonstruieren. Er hatte mir nie gesagt, wie er auf mich aufmerksam geworden war, aber vermutlich hatte er einige meiner Artikel zu dem Thema gelesen. Jedenfalls hatte er mich kontaktiert und gebeten, ihm zu helfen. Schon lange war er auf der Suche nach einigen Juwelen – sehr wertvollen Juwelen -, die seit einem Umsturz verschwunden waren. Da das Land am Meer lag, war es sehr wahrscheinlich, dass man es über Schiffe außer Landes gebracht hatte. Es war ein Rätsel nach meinem Geschmack gewesen: Ich musste nicht nur alle Schiffe aufspüren, die als Transport in Frage gekommen wären, wofür ich etliche Hafenlisten aus der Zeit wälzen musste, sondern auch die in der engeren Auswahl auf ihre Routen überprüfen und deren Spuren weiterverfolgen. Manche Schiffe waren Handelsschiffe gewesen, die leicht etwas hatten schmuggeln können, aber da man nie wieder von den Juwelen gehört hatte, ging ich eher davon aus, dass sie niemals an Land gekommen waren. Er war darin mit mir einer Meinung. Also musste ich vor allem die Schiffe ausfindig machen, die verschollen waren und auf deren Route wahrscheinlichste Sinkorte ermitteln. Es hatte mich eine Menge Knobelei gekostet, aber schließlich hatte ich zwei Schiffe aufgespürt und eine Liste möglicher Fundorte festgelegt. Bis dahin waren wir nur in schriftlichem Kontakt gewesen. Für die Übergabe der Liste hatte er auf einem persönlichen Treffen bestand. Er war bisweilen ziemlich paranoid, aber große Reichtümer lockten schon immer böse Leute an, die vor nichts zurückschreckten.
Es war nicht schwer, ihn in der Bar ausfindig zu machen, die er als Treffpunkt vorgeschlagen hatte: Inmitten einer begeisterten Menge von Zuhörern erzählte er von einen Abenteuergeschichten. Insbesondere die Frauen hingen an seinen Lippen. Vermutlich spielte auch sein verwegenes Aussehen hinein – die kurzen, blonden Haare und der Bart, die Muskeln und die Tattoos auf seinen Unterarmen, da er sein Hemd lässig hochgekrempelt hatte. Ich sollte noch öfter die Erfahrung machen, dass Frauen oft auf Schatztaucher und deren Abenteuergeschichten standen. Was ich aber so gar nicht nachvollziehen konnte. Zumal ich ihn bald als ziemlich übermütig und leichtsinnig kennenlernen würde.
Er bat mich, ihn auf seine Suche zu begleiten. Bis heute weiß ich nicht, ob er damit nur sichergehen wollte, dass ich niemand anderen die Informationen geben konnte, oder ob er auf meinen Sachverstand setzte. Obwohl ich zunächst ablehnte, schaffte er es schließlich doch, mich zu überreden, indem er mich als verstockt bezeichnete und mich damit herausforderte. Es war vielleicht nicht die klügste Idee, mich auf diese Herausforderung einzulassen, aber ich wollte ihm beweisen, dass man nicht so großkotzig sein musste wie er, um Erfolg zu haben.
Unsere Zusammenarbeit lief eher mäßig. Wenn es um die Arbeit ging, wurden wir schnell zu einem eingespielten Team, unsere Erfahrungen und unser Wissen ergänzten sich sehr gut. Menschlich hatten wir allerdings unsere Schwierigkeiten – ständig gerieten wir aneinander. Immer wusste er alles besser, immer hielt er sich für den Größten und dachte nie an die Risiken! Ich konnte überhaupt nicht sagen, wie sehr er mich manchmal in den Wahnsinn trieb!
Und dann kam der Tag, an dem er mich übermütig ins Wasser gezogen hatte. Wieder einmal hatten wir uns gestritten – eben auch darüber, dass ich ziemlich sorgsam darauf achtete, das Meer zu vermeiden, so gut es eben auf einem Boot ging, was er mir schließlich auf radikale Weise auszutreiben versuchte, indem er mich einfach ins Wasser zog. Als ich deswegen eine Panikattacke hatte, hatte er schließlich eingesehen, dass das keine gute Idee war. Er hatte mich zurück an Bord gebracht und sich tatsächlich entschuldigt. Das hatte er vorher noch nie getan. Ich war so wütend auf ihn, dass ich seine Entschuldigung kaum beachtete und ihm stattdessen an den Kopf warf, dass er sich vielleicht für völlig angstfrei hielt, aber dass ihm das nicht das Recht gab, mit den Ängsten anderer zu spielen. Und dann erzählte ich ihm, wie meine Eltern bei einem Bootsausflug ums Leben gekommen waren. Sie waren Meeresbiologen gewesen, ich war praktisch auf dem Meer aufgewachsen, konnte eher schwimmen und tauchen als laufen. Aber nach dem Unfall, den ich als Einzige überlebt hatte, hatte ich das Meer gemieden. Bis er aufgetaucht war. Er brachte einfach alles durcheinander!
Er bot mir an, dass er mir helfen könnte, meine Angst zu überwinden, aber ich war zu stolz dafür. Zu stolz, um seine Hilfe anzunehmen. Nicht einmal, als er sagte, dass auch er Ängste habe. Mehr sagte er nicht. Es war das einzige Mal, dass er mich hinter seine raue Fassade sehen ließ.
All das ging mir durch den Kopf, während ich auf seine Rückkehr wartete. Verdammt, wo blieb er bloß? Wieder schaute ich auf das dunkle Wasser, spähte durch die raue Oberfläche, doch ich konnte nichts erkennen. Ich warf einen Blick auf meine Uhr. Ihm blieben nur noch für wenige Minuten Sauerstoff. So übermütig er meist auch war, er war zumindest vorsichtig, wenn es um seine Sauerstoffreserven ging. Er kehrte immer spätestens zehn Minuten, bevor ihm der Sauerstoff ausging, zurück. Immer! Unruhig lief ich weiter auf und ab, es wunderte mich, dass ich noch kein Loch in das Deck gelaufen hatte. Es gab viele Gefahren dort unten in der Tiefe, vor allem, wenn man alleine tauchte. Es konnte ihm alles Mögliche zugestoßen sein. Was, wenn wirklich etwas passiert war? Was sollte ich jetzt machen?
Wieder warf ich einen Blick auf die Uhr. Noch zwei Minuten. Das wurde echt eng. Verdammt!
Mein Blick fiel auf die Kiste mit den Tauchersachen. Ich wusste genau, dass er eine zweite Taucherausrüstung als Ersatz hatte. Sie würde mir nicht perfekt passen, aber ihren Zweck erfüllen. Sollte ich wirklich? Es war schon eine Weile her, dass ich zuletzt getaucht war, aber so etwas verlernte man doch nicht, oder? Panik erfasste mich bei dem Gedanken, in die Tiefe des Meeres zu tauchen, die meine Eltern auf Nimmerwiedersehen verschluckt hatte. Nein, das konnte ich nicht! Aber wenn ich nichts tat, würde er vielleicht sterben…
Eine Minute.
Verdammt! Ich öffnete die Kiste und streifte mir eilig den Taucheranzug über. Glücklicherweise waren mir die Handgriffe noch immer vertraut, mein Körper reagierte wie von selbst, als hätte er nur darauf gewartet, dass ich endlich wieder auf Tauchgang gehen würde. Auf Flossen tapste ich schließlich zur Leiter, die ins Wasser führte. Ich setzte die Taucherbrille auf und steckte mir den Sauerstoffzugang in den Mund. Jetzt nicht weiter nachdenken! Mit einem Sprung stieß ich mich ab und nur eine Sekunde später tauchte ich ins Wasser ein. Angst schwappte über mich, mein Herz raste und ich fühlte mich, als würde ich keine Luft kriegen. Tief durchatmen!, befahl ich mir selbst und bemühte mich mit geschlossenen Augen, meinen Atem zu beruhigen. Es half ein wenig. Und als ich wieder die Augen öffnete, fühlte ich mich beinahe so, als würde ich endlich wieder nach Hause kommen. Schon immer hatte ich das Meer geliebt.
Ich hielt mich nicht länger auf und tauchte in die Tiefe. Sein Sauerstoffvorrat musste längst erschöpft sein, die Zeit drängte. Es gab immer noch ein paar wenige Reserven in den Flaschen, wenn die offizielle Zeit abgelaufen war, zumal er mit seinem ruhigen Atem sicherlich nicht so viel verbraucht hatte, aber das würde ihm nicht viel Zeit verschaffen. Ich musste ihn dringend finden!
Ich spähte durch das trübe Wasser. Glücklicherweise war das Meer hier nur einige Meter tief, sodass es nicht viel dunkler wurde, je tiefer ich tauchte. Dennoch schaltete ich die Lampe an meinem Taucheranzug ein.
Da! Ein Schemen im Wasser!
Eilig schwamm ich mit kräftigen Flossenschlägen darauf zu. Schon bald konnte ich den Schemen eindeutig als Mensch erkennen. Er war es! Offenbar bewusstlos trieb er im Wasser. Ich hatte keine Ahnung, was passiert war und wie es ihm ging, aber ich konnte hier unten nicht viel ausrichten, also packte ich seinen Arm und schwamm zur Oberfläche hinauf. Doch erst als wir die Oberfläche durchstießen, wurde mir klar, dass mir der schwierigste Teil noch bevorstand: Wie sollte ich ihn an Bord bekommen?
Es war ein Kraftakt und ich hatte keine Ahnung, wie ich es letztlich schaffte, ihn Schritt für Schritt über die Leiter an Bord zu ziehen. Er hatte eine kleine Kopfwunde, offenbar hatte er sich irgendwo gestoßen. Eilig entfernte ich seinen Sauerstoffzugang und horchte auf seinen Atem. Er war nicht vorhanden, also begann ich umgehend mit der Reanimation. Herzmassage. Beatmen. Herzmassage. Beatmen. Ich wusste nicht, wie oft ich den Vorgang wiederholte, aber ich wollte einfach nicht aufgeben. Dieser blöde Arsch konnte mich doch nicht hier draußen, mitten auf dem Meer alleine lassen!
„Jetzt komm schon!“, knurrte ich. Und da spuckte er endlich Wasser aus. Ich half ihm sich auf die Seite zu drehen, sodass er nicht noch einmal erstickte und lauschte erleichtert auf sein Keuchen und Husten. Schwer atmend drehte er sich wieder auf den Rücken, den Blick gen Himmel gerichtet. Erst dann richtete er seinen Blick auf mich, wie ich tropfend neben ihm saß.
„Du bist getaucht“, stellte er scharfsinnig fest.
„Ja, was blieb mir denn anderes übrig, wenn du es nicht schaffst, alleine zurecht zu kommen!“, zischte ich aufgebracht. Ich wollte nicht darüber nachdenken, dass ich ihn beinahe verloren hätte.
„Aber du hast Angst vor dem Wasser!“, fuhr er fort.
„Sag bloß, das muss ich wohl vergessen haben!“, zickte ich weiter.
„Warum bist du so wütend?“, wollte er müde wissen und ich fühlte mich ein wenig schuldig, weil ich ihm nicht seine Ruhe gab, sich zu erholen. Aber ich war so verdammt wütend!
„Ich bin wütend, weil du immer so verdammt unvorsichtig bist!“
„Es war ein Unfall!“
„Der dich getötet hätte, wenn ich nicht da gewesen wäre!“
„Ja, und wenn du mich nicht die ganze Zeit anschreien würdest, könnte ich mich dafür bedanken, dass du mir das Leben gerettet hast.“
„Du sollst mir nicht danken, du sollst nur besser auf dich aufpassen!“
Ein breites Grinsen schlich sich auf seine Lippen. „Du hast dir Sorgen gemacht.“
„So ein Blödsinn!“
„Du hast dir Sorgen um mich gemacht! So sehr, dass du deine Angst vor dem Wasser überwunden hast.“ Er setzte sich auf und ich wollte etwas dazu sagen, enthielt mich dann aber doch einer Aussage. Er würde ohnehin nicht auf mich hören, er war so verdammt stur! Kurz glitt seine Hand zu der Wunde an seinem Kopf und er verzog schmerzhaft das Gesicht. Ich würde sie mir gleich noch mal ansehen. Und am besten wäre es wohl, wenn wir einen Hafen ansteuern würden, damit er sich in einem Krankenhaus untersuchen ließ. Aber ich bezweifelte, dass er meinen logischen Argumenten in dieser Richtung folgen würde.
Ich schnaubte. „Ich konnte dich ja wohl schlecht einfach sterben lassen! Das hätte mich-“ Weiter kam ich nicht, mitten im Satz schnitt er mir das Wort ab.
Er küsste mich.