Der Maskenball
„Glaubst du, er wird mit mir tanzen?“ Ihre Freundin schaute sie unsicher an.
Blaire hätte beinahe die Augen verdreht. Sie hatte Roxanna an diesem Abend schon ungefähr 5000 Mal versichert, dass niemand heute Abend die Augen von ihr abwenden könnte, vor allem nicht ihr Schwarm Markus. Sie sah einfach atemberaubend aus in ihrem blauen Kleid, das hervorragend ihre blauen Augen betonte. Und Markus war ohnehin bis über beide Ohren in Roxanna verknallt, die Beiden schlichen seit einer Ewigkeit umeinander herum und der Maskenball der Firma, für die sie alle arbeiteten, war die perfekte Gelegenheit, um endlich einen Schritt weiterzukommen. „Du siehst wunderschön aus, Roxanna“, versicherte Blaire ihrer Freundin erneut, „Markus wird hin und weg sein und er wird sicherlich mit dir tanzen. Und wenn er zu schüchtern ist, um dich aufzufordern, dann tu du es eben! Es ist ein Maskenball, das ist die Chance!“
„Bist du dir sicher?“
„Natürlich bin ich mir sicher! Und jetzt lass uns reingehen, bevor wir noch zu spät sind.“
Arm in Arm traten sie in das hell erleuchtete Gebäude ihrer Firma, dessen Eingangshalle für diesen Zweck umgestaltet worden war. Überall hingen Lichterketten und Dekorationen herum, die Möbel waren zur Seite gerückt worden, sodass sich sogar eine große Tanzfläche ergeben hatte, die von einem Buffet begrenzt wurde. „Wahnsinn!“, staunte Roxanna.
Blaire konnte der Meinung ihrer Freundin nur zustimmen, allerdings nicht im positiven Sinne. „Findest du das nicht maßlos übertrieben?“
Roxanna verdrehte die Augen. „Denk doch mal einen Abend nicht über alle möglichen Dinge nach, an denen du herummeckern kannst und genieß es einfach.“
„Ich meckere nicht, ich sehe bloß keinen Sinn in dieser überschwänglichen Dekoration.“
Roxanna seufzte bloß, bevor sie das Thema wechselte: „Vielleicht wird ja Clark Fletcher heute mit dir tanzen.“ Sie grinste breit.
„Klar, und ich bin die Kaiserin von China. Clark Fletcher weiß nicht einmal, dass ich existiere.“ Clark Fletcher war der bestaussehendste Mann in dieser Firma – und zugleich ihr Chef. Roxanna wusste, dass sie schon eine ganze Weile auf ihn stand, aber im Gegensatz zu Roxanna und Markus bestand für sie und Clark keine Hoffnung, denn sie war nur ein unscheinbares Licht in seiner Firma. Ihr besonderes Talent war einzig und allein ihre Tollpatschigkeit und das war wahrlich kein besonders beeindruckendes Talent.
„Hast du ihm nicht Kaffee über sein Hemd geschüttet?“, erinnerte Roxanna kichernd.
Blaire lief umgehend rot an. Sie dachte nicht gerne daran zurück, obwohl es der Moment gewesen war, indem sie Clark zum ersten Mal wirklich nah gewesen war. Davor hatte sie ihn für einen arroganten, verzogenen Kerl gehalten, der sein Aussehen und seinen Reichtum benutzte, um Frauen ins Bett zu kriegen. Sie war entsprechend wenig begeistert gewesen, dass sie als Ersatz für seine Sekretärin auserkoren worden war, selbst wenn es nur für einen Tag gewesen war. Er hatte sie die ganze Zeit hin und her gescheucht und sie ständig mit dem falschen Namen angesprochen, aber der Tag war ohne große Unfälle rumgegangen. Bis zu dem Moment, als sie ihm Kaffee holen sollte und beim Überbringen gestolpert war und sein ganzes weißes Hemd eingesaut hatte. Entgegen ihrer Erwartung hatte er es mit Humor genommen und gelacht. Sein Humor und sein Lachen hatten sie in den Bann gezogen und das Funkeln in seinen Augen…
Blaire zwang sich zurück in die Gegenwart. Roxanna lachte immer noch vergnügt vor sich hin. „Das mag zwar ein peinlicher Zwischenfall gewesen sein, aber ich glaube nicht, dass er sich noch daran erinnert, wo er doch so viele andere wichtige Termine und Geschehnisse hat. Zumal ich heute auch noch eine Maske trage.“
Roxanna erwiderte nichts, sondern meinte bloß: „Holen wir uns was zu trinken!“
Sie stellten sich am Buffet an. Roxanna hielt immer wieder Ausschau nach Markus, musste allerdings frustriert feststellen, dass die vielen Anzüge und Masken die Suche nicht gerade einfach gestalteten. Frustriert wandte sie den Blick ab und Blaire entschied, dass es Zeit war, sie ein wenig abzulenken. Sie würden Roxannas Schwarm schon noch finden. Und das erste Thema, das ihr einfiel, war die Dekoration. „Was meinst du, wie viel das alles gekostet hat?“
„Ich glaube, Mr. Fletcher kann sich das leisten“, erwiderte Roxanna.
„Darum geht es gar nicht. Wenn so viel Geld über ist, könnte das für viel bessere Dinge verwendet werden!“ Sie schenkte sich mit der Kelle einen Punsch ein und reichte sie dann an Roxanna weiter.
„Interessant. Was genau würde Ihnen denn vorschweben?“, erklang plötzlich Clark Fletchers Stimme hinter ihnen.
Erschrocken wirbelte Blaire herum, wobei sie sich in einem Kabel, das auf dem Boden lag, verhedderte. Der Punsch in ihrer Hand landete an der Stelle, an der schon der Kaffee einst gelandet war: auf dem weißen Hemd von Clark Fletcher. Sie konnte nur entsetzt auf den Fleck starren, während sie hinter sich Roxannas unterdrücktes Prusten hören konnte.
„Miss Middleton“, sagte Mr. Fletcher und verstärkte damit die Schamesröte in Blaires Gesicht. Er schien sich ihren Namen doch gemerkt zu haben.
„Mr. Fletcher, es tut mir so leid!“, entschuldigte sie sich.
„Soll das jetzt zur Gewohnheit werden?“, erkundigte er sich und schaute sie mit amüsiert funkelnden Augen an.
„Ähm, nein, das war nicht meine Absicht“, beteuerte sie, „Kann ich das irgendwie wiedergutmachen?“
„Sie können mit mir tanzen, sobald ich mir ein neues Hemd besorgt habe.“
„Das halte ich für keine besonders gute Idee“, widersprach sie, da ihre Tollpatschigkeit auch auf ihre Tanzkünste Auswirkungen hatte.
Roxanna trat ihr fest auf den Fuß. „Au, verdammt, was soll das?“, fauchte sie ihre Freundin an, die sich jedoch an Mr. Fletcher wandte: „Natürlich will sie mit Ihnen tanzen.“
„Das freut mich zu hören. Ich bin gleich zurück!“ Und mit diesen Worten verschwand er.
Blaire funkelte Roxanna an. „Was sollte das? Ich hab ihn gerade mit Punsch bekleckert, soll ich ihm jetzt auch noch die Zehen brechen?“
„Er wird das schon vertragen, keine Sorge. Und übrigens liegst du falsch: Er kennt deinen Namen doch!“
Blaire spürte die Hitze aufwallen. „Erinnere mich bloß nicht daran! Bisher konnte ich mir einreden, dass er den Zwischenfall längst vergessen hatte, aber jetzt habe ich ihn nicht nur aufgefrischt, sondern erkennen müssen, dass er ihn wohl nie vergessen hatte!“
„Und trotzdem will er mit dir tanzen, also hör auf, dich so anzustellen!“
Ein Räuspern erklang neben ihnen. „Miss Middleton, wollen wir dann?“ Clark Fletcher hielt ihr seine Hand hin.
Mit einem Seufzen und einem letzten bösen Blick auf Roxanna ergriff sie seine Hand. Er führte sie auf die Tanzfläche. Schon beim ersten Schritt trat sie ihm auf die Zehen. „Entschuldigen Sie bitte, aber ich kann wirklich nicht besonders gut tanzen. Mit Rücksicht auf Ihre Zehen halte ich es nach wie vor für eine blöde Idee.“
„Ist notiert. Aber ich denke, meine Zehen werden es ertragen. Lassen Sie sich von mir führen, dann wird es besser.“
Blaire gab sich Mühe, aber sie hatte schon immer Schwierigkeiten gehabt, sich unterzuordnen.
Clark schmunzelte. „Das scheint Ihnen nicht besonders zu gefallen. Also war meine Wahrnehmung, dass Sie den Tag als meine Sekretärin nicht besonders genossen haben, vermutlich keine Täuschung?“
Blaire wurde schon wieder rot. „Ähm, ich arbeite einfach lieber für mich.“
„Weil Sie dann niemanden mit ihren Tollpatschigkeiten treffen können? Ich hörte, dass Sie dafür bekannt sind.“
Sie stöhnte. Wie peinlich! „Ich glaube, ich muss kündigen.“
Er lachte. „Das wäre aber ausgesprochen schade. Außerdem können Sie mir dann nicht in allen Details erzählen, was sie als bessere Ausgabe betrachtet hätten als diesen Ball.“
„Da… das war doch nur so dahingesagt“, stammelte sie.
„Dann hatten sie keine konkreten Ideen? Hm, da muss mich mein Eindruck von Ihnen täuschen. Oder trauen Sie sich einfach nicht, sie mir zu sagen?“
„Haben Sie mir gerade unterstellt, entweder feige oder unkreativ zu sein?“ Empört funkelte sie ihn an.
Er grinste unverschämt. „Gewissermaßen. Irgendwie muss ich sie ja aus der Reserve locken.“
„Und wenn mir nichts daran liegt, von Ihnen aus der Reserve gelockt zu werden?“, konterte sie. So langsam erinnerte er sie daran, warum sie ihn am Anfang nicht ausstehen konnte.
Das Lied endete. Clark verharrte und zwang auf diese Weise auch Blaire zum Stehen. „Ich danke Ihnen für den Tanz. Am Montag erwarte ich Sie um acht Uhr in meinem Büro – mit Ihren Vorschlägen.“ Und mit diesen Worten ließ er sie stehen.
Sprachlos starrte Blaire ihm hinterher. So eine… Unverschämtheit! Na warte, der würde sich noch umgucken! Er würde es noch bereuen, sich mit ihr angelegt zu haben!