Ich werde mich bei der Antidiskriminierungsstelle beschweren. Das hier ist eindeutig Mobbing! Mit einem Seufzen schickte sie die Nachricht an ihren Partner. Schon kurz darauf piepte ihr Handy. Der Lachsmiley schien sie zu verhöhnen. Er nahm sie offenkundig nicht ernst. Dabei hätte sie es nicht ernster meinen können! Das war pure Folter!
Erneut erhob sich unter den anwesenden Mädchen ein Kreischkonzert und sie rieb sich über die schmerzenden Ohren. Sie hätte sich krankmelden sollen! Aber dazu war ihr Gewissen und ihr Verantwortungsgefühl zu ausgeprägt. Und sie wusste, dass sie es sich nie verziehen hätte, wenn wirklich etwas passierte und sie wäre nicht da gewesen, nur weil sie die ganzen ‚Fangirls‘ nicht ertrug.
Es war zwei Tage her, dass die Internet-Abteilung ihrer Polizeidienststelle in einem Forum im DarkNet auf Morddrohungen gestoßen war, die ein anonymer Nutzer gegenüber einem Schauspieler abgegeben hatte. Der Profiler, der sich die Nachrichten angesehen hatte, war zu dem Schluss gekommen, dass wohl mehr dahintersteckte als bloße Wut, der jemand Luft machte. Zumal die Pläne relativ konkret waren. Sie hatten eindeutig auf die heutige Film-Premiere verwiesen. Leider hatte der Täter nicht genügend Details verlauten lassen, um seinen Plan rasch zu durchkreuzen und leider war seine IP-Adresse nicht zurückverfolgbar gewesen, um ihn sofort aus dem Verkehr zu ziehen. Und deshalb war ihnen nichts anderes übriggeblieben, als selbst auf die Premiere zu gehen. Sie hatten die Sicherheitsmaßnahmen verstärkt, aber vor allem hatten sie sich in Zivil unter die Menschen gemischt. Und sie selbst war dazu auserkoren worden, sich unter die kreischenden Mädchen zu mischen, da sie am wenigsten dort auffiel. Das hatte sie als Beleidigung betrachtet, musste dem Argument aber letztlich zähneknirschend zustimmen. Und daher stand sie nun hier, inmitten einer Horde junger Mädchen, die Herzplakate mit Namen schwenkten und mit einer Tonlage, die Fledermäusen vorbehalten sein sollte, jedes Mal aufkreischten, wenn sich einer der Schauspieler blicken ließ, die nach und nach auf dem roten Teppich eintrudelten. Ihre Zielperson war noch nicht eingetroffen, aber das konnte nicht mehr lange dauern. Sie behielt die Umgebung genau im Auge, doch sie konnte nichts Auffälliges entdecken und ihre Kollegen, die in den umliegenden Häusern Stellung bezogen hatten, schienen bisher auch nichts entdeckt zu haben. Sie konnte über ihre Funkkopfhörer alles mithören, sofern das schreckliche Kreischen nicht alles überlagerte. Den Funksprecher an ihrem Handgelenk sollte sie allerdings nicht in dieser Menge benutzen, um nicht aufzufallen.
Eine weitere Limousine hielt am Anfang des roten Teppichs und sie erkannte den Mann, der ausstieg, sofort. Sein Bild hatte die letzten zwei Tage auf der Wand im Polizeirevier gehangen, auf der sie sich vorbereitet und einen Plan für den heutigen Tag entwickelt hatten. Es konnte gut sein, dass sie ihn vielleicht auch schon in dem ein oder anderen Film gesehen hatte, aber sie war nicht so der Film-Freak und schlief meist nach der Arbeit müde spätestens in der Mitte eines Films ein. Und selbst wenn hielt sie von dem ganzen Hype um eine Person nicht viel. Für sie war das nur ein weiteres Symptom für die Verblödung der Menschheit. Ihr Partner warf ihr oft vor, ein Menschenfeind zu sein. Sie musste zugeben, dass er nicht ganz Unrecht hatte.
Sie behielt den Mann genau im Auge, während er mit einem gewinnenden Lächeln den Teppich entlang schritt und mit einigen Fans plauderte, Fotos machte oder ihnen Autogramme gab. Das wäre wirklich nichts für sie.
Sie ließ den Mann nicht aus den Augen. Ihr intensiver Blick schien ihm aufzufallen, denn mit einem Mal hob er die Augen und erwiderte ihren Blick. Zugegeben, er hatte wirklich schöne Augen…
Das Kreischen der beiden Freundinnen neben ihr, die ihr schon vorher unliebsam aufgefallen waren und deren Riesenplakat mit Liebesbekundung sie schon einige Male beinahe an den Kopf gekriegt hatte, holte sie aus ihrer Versenkung. „Oh mein Gott, Sarah, er hat uns angesehen! Vielleicht gibt er uns seine Handynummer. Stell dir nur mal vor, das war Liebe auf den ersten Blick!“
Sie konnte sich ein Augenverdrehen nicht verkneifen. Wie konnte man nur so hohl sein? Ihre Freundin – besagte Sarah – setzte noch einen drauf: „Ja, dieser Blick… Jetzt habe ich mein Lebensziel erreicht und kann glücklich sterben!“ Einen Moment lang wünschte sie sich wirklich, die Beiden würden auf der Stelle tot umfallen. Aber das würde bloß jede Menge Papierkram bedeuten. Selten hatte sie so sehr ihren Feierabend herbeigesehnt. Normalerweise liebte sie ihren Job, aber das hier war einfach nur unerträglich. Aber sie würde erst Feierabend haben, wenn die Premiere glatt gelaufen war und alle wieder sicher zu Hause wären.
Der Schauspieler näherte sich ihrer Position, was die beiden zu einer erneuten Kreischarie veranlasste. Unauffällig rieb sie sich die klingelnden Ohren. Es wäre ein Wunder, wenn sie keinen Gehörschaden erhielt. Der Mann schien ihre Geste bemerkt zu haben, denn ein leichtes Schmunzeln kräuselte seine Lippen, was ihn ziemlich attraktiv aussehen ließ – was offensichtlich auch den Fans auffiel.
Gerade als der Schauspieler bei ihr und den beiden Fangirls angekommen war, durchdrang ein schrilles Pfeifen ihren Gehörgang. Schmerz explodierte in ihrem Kopf und ein Schrei entschlüpfte ihr, bevor sie ihn aufhalten konnte. Rasch zog sie den Funkhörer aus ihrem Ohr. Kaum dass der schrille Ton vorbei war, konnte sie wieder klarer denken. Jemand musste die Frequenz überlastet haben. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Und es bedeutete, dass sie keinen Kontakt mehr zu ihren Kollegen aufnehmen konnte.
„Ist alles in Ordnung?“, erklang eine Stimme und sie schaute auf – direkt in die Augen der Person, wegen der sie überhaupt hier war. Besorgnis flackerte in seinen Augen. Die beiden Fangirls musterten sie hasserfüllt. Sicherlich passte ihnen gar nicht, dass sie die wertvolle Aufmerksamkeit des Objekts ihrer Begierde stahl. Sie wunderte sich ja selbst darüber, dass er sich überhaupt dafür interessierte, was mit ihr war. Sie war immerhin eine von vielen.
„Ja, alles gut“, beschwichtigte sie ihn eilig. Sie sollte doch unauffällig bleiben! In diesem Moment entdeckte sie den roten Laserpunkt auf der Jacke des Schauspielers, der sich direkt auf das Herz zubewegte. „Vorsicht!“, schrie sie und warf sich nach vorne. Sie prallte gegen ihn und segelte mitsamt dem Schauspieler und der Absperrung, die zwischen ihnen gewesen war, zu Boden. Stöhnend kamen sie auf dem Boden auf, als auch schon ein Schuss fiel und in den Teppich einschlug. Das war Rettung in letzter Sekunde gewesen!
Panik brach aus, Schreie hallten über den Platz und eilige Schritte erklangen, während alle versuchten, sich in Sicherheit zu bringen. Die Sicherheitsleute versuchten, die Kontrolle zu behalten, doch das war kaum möglich. Zwei von ihnen kamen zu ihnen herüber, als sie sich gerade aufrappelte. „Sorry für den Überfall“, murmelte sie eilig, ohne ihn anzusehen. Stattdessen scannte sie die Umgebung. Der Schuss musste aus einem der Hochhäuser auf der gegenüberliegenden Seite gekommen sein. Einige Stockwerke wurden gerade renoviert, die Bauarbeiten ruhten am Sonntag natürlich. Sie hatten dort Leute postiert. Sie ahnte nichts Gutes für die Polizisten, die dort Wache hätten halten sollen.
„Du hast mir das Leben gerettet“, stammelte der Schauspieler, der noch nicht richtig zu begreifen schien, was passiert war. Konnte sie ihm nicht verdenken.
Die Sicherheitsleute zogen ihn auf die Beine unter dem Gitter hervor und sie wies die Beiden an: „Schafft ihn nach drinnen.“ Dort würden einige Kollegen auf sie warten. Bevor es Diskussionen gab, hielt sie ihnen ihre Marke hin, die sie in der Hosentasche verstaut gehabt hatte, bevor sie nach ihrer Waffe griff, deren Holster sie am Fußknöchel unter der weiten Hose trug.
In diesem Moment kam ihr Partner bei ihr an. Er war etwas außer Atem, er musste ziemlich eilig hinuntergerannt sein. Sein Posten war im Kinogebäude auf dem Dach gewesen. „Alles gut?“
Sie nickte. „Der Schuss kam von dort.“ Sie deutete auf das gegenüberliegende Gebäude.
Ihr Partner grinste. „Holen wir ihn uns.“
Sie erwiderte sein Grinsen. Mit gezogenen Waffen machten sie sich auf den Weg. Das war der Teil an ihrem Job, den sie liebte. Den Nervenkitzel, das Adrenalin. Und keine kreischenden Fangirls mehr, nur sie, ihr Partner, ihre Waffen und der Gegner, den es zu stellen gab.