Das erste Mal, das wir miteinander sprachen, geschah durch ein kleines Loch in der Mauer zwischen unseren Zellen. Vor allem die Nächte in den kalten, dunklen Zellen waren lang und schlafen war für mich ein Fremdwort, wenn die Albträume kamen. Es war eine meiner schlimmsten Nächte, als seine Stimme durch das kleine Loch erklang, durch die Verzweiflung und das Geräusch meines hilflosen Schluchzens zu mir drang. Vom ersten Moment an wusste ich, dass ich seine Stimme nie wieder vergessen würde, diese warme Stimme mit dem rauen Akzent. Wir sprachen die ganze Nacht miteinander. Es war bedeutungslos über was wir redeten, es war gut, dass wir es einfach taten. Ich fühlte mich nicht mehr so alleine. Ich erfuhr, dass er Licas Nowikow hieß. Er war auch einer der Menschen, die man für genetische Experimente hergebracht hatte.
Monatelang sprachen wir nächtelang miteinander, ohne einander je in die Augen zu sehen. Ohne ihn hätte ich die Experimente wohl ebenso wenig überlebt wie der Großteil der anderen, die gingen und nicht wiederkamen. Wir beide wussten, was es bedeutete.
Schon bald kannte er mich besser als irgendjemand sonst. Bei ihm hatte ich keine Angst, bei ihm fühlte ich mich sicher und menschlicher als ich es seit einer langen Zeit getan hatte. Ich glaubte, hoffte, dass es ihm ebenso ging. Ich erzählte ihm, wie sehr ich mich vor mir selbst fürchtete. Er erzählte mir, wieso er so schnell war. Er war nicht ungeduldig, er hatte Angst, dass die schrecklichen Dinge, die er vergessen wollte, ihn einholten, wenn er auch nur ein wenig langsamer wurde. Und wenn wir nicht wussten, worüber wir reden konnten, wenn wir vergessen wollten, was um uns herum geschah, brachte er mir seine Heimatsprache bei.
Das erste Mal, das ich ihn wirklich zu Gesicht bekam, war bei einem Experiment. Sie wollten wissen, wie zwei ‚Veränderte‘ aufeinander reagierten. Ich wusste sofort, dass er es war, als ich seine Stimme hörte. Ich prägte mir das markante Gesicht mit den eisblauen Augen und den weißen Haaren genau ein, damit ich daran denken konnte, wenn die Schatten mich zu überwältigen drohten.
Ich weiß nicht mehr, wie es dazu kam, aber einer der Wissenschaftler bedrängte mich, kam mir zu nahe und Panik überwältigte mich. Ich konnte nicht mehr atmen, jeder logische Gedanke verschwand, als meine Hand vorschoss. Die Berührung versetzte ihm einen Stromschlag, der ihn in die Knie gehen ließ. Er sackte zusammen, als ich meine Hand wegzog. Er stand nicht wieder auf.
Licas hatte es genau gesehen. Er wusste, wozu ich fähig war, dass niemand mich ohne Schmerzen berühren konnte. Und doch war er innerhalb von Millisekunden bei mir und schlang seine Arme so fest um mich, als wollte er die Panik ersticken. Er ließ mich nicht mehr los. Er hielt mich fest, trotz allem. Trotz der Tatsache, dass ich mich vor mir selbst fürchtete und davor, ihm wehzutun. Aber mit ihm war alles anders. Er konnte mich berühren, ohne dass ich ihm Schmerzen zufügte. Bei ihm fühlte ich mich sicher und menschlich, ein Gefühl, das ich lange vermisst hatte und nicht so schnell wieder verlieren wollte. Ich wollte ihn nicht wieder verlieren, er war alles, was mir noch geblieben war. Und mit dieser Erkenntnis kam die Angst. Angst davor, dass ich wieder verwundbar wurde, weil ich Angst hatte, dass ihm etwas passierte. Ich wollte in diesem Moment verharren, für immer in dieser Sekunde leben. Doch ich spürte die Blicke, spürte die abwägenden Gedanken. Wir hatten uns beide durch unsere Zuneigung zueinander erpressbar gemacht.
„Du hättest das nicht tun sollen“, sagte ich ihm als Erstes, nachdem man uns zurück in unsere Zellen gebracht hatte und ich mich ohne seine Umarmung hilflos und schwach fühlte. „Ich hätte dir wehtun können.“
„Das hast du aber nicht und du wirst es auch nicht.“
„Was macht dich da so sicher?“
„Weil wir gleich sind.“
Ich antwortete nicht darauf, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Wir waren gleich – und doch so anders. Aber vielleicht war genau dieses Anderssein das, was uns gleich machte.
„Wenn wir jemals hier herauskommen, wohin würdest du gehen?“, fragte ich das Erste, was mir durch den Kopf ging. Die Stille zwischen uns war gefüllt von Millionen ungesagten Worten. Ich wusste, wohin ich gehen würde: Dorthin, wo er hinging. Und wenn er hierbliebe, würde ich es auch tun, denn die Freiheit, die Ferne hatten seinen Reiz in dem Moment verloren, in dem er mich in seine Arme geschlossen hatte, ich seinen Herzschlag gespürt hatte und seinen Wunsch, mich zu beschützen, so wie ich ihn beschützen wollte.
„Es ist mir egal, wohin wir gehen, wenn wir nur zusammen sind.“
Mein Herz tat einen Sprung bei seinen Worten. Und doch konnte und wollte ich nicht glauben, dass er wirklich meine Nähe wollte. „Warum willst du bei mir bleiben?“
„Weil ich dir helfen will.“
Ich spürte, wie ich automatisch die Mauer in meinem Inneren aufbaute. Niemand konnte mir helfen, ich war immer alleine gewesen und es war besser so. „Das kannst du nicht. Ich muss mich erst selbst zusammenflicken.“ Ich wollte nicht, dass er das Gefühl hatte, mich zusammen halten zu müssen.
„Ich hoffe, dass ich dich zusammenflicken kann so wie du es bei mir getan hast.“ Er sagte noch etwas in seiner Sprache, das ich nicht verstand.
„Was bedeutet das?“
„Das erzähle ich dir ein anderes Mal.“ Das Lächeln in seiner Stimme war unüberhörbar.
Er sagte es mir erst viele Wochen später. Man hatte uns in eine gemeinsame Zelle gesperrt, als erhofften sie sich, dass wir gemeinsam größere Überlebenschancen hätten, so wie wir es bereits vermutet hatten. Es war einer dieser Abende, an denen man den ganzen Tag Experimente mit ihm gemacht hatte, während ich unruhig in meiner Zelle gewartet hatte. Er war völlig zerschunden, als sie ihn endlich brachten. Ein langer Schnitt, aus dem immer noch Blut sickerte, zog sich über seinen Arm. Schwach lag er auf seiner Pritsche. Ich riss ein Stück meines Hemdes ab und machte mich daran, ihn zu verbinden, während ich gegen die Tränen kämpfte. Vielleicht würde er eines Tages nicht wiederkommen. Ich wusste nicht, ob ich es ertragen könnte. Ich zog den Verband fester zu, als ich es wollte. Er stöhnte auf. „Entschuldigung“, murmelte ich. Mehr sagte ich nicht. Wie sollte ich ihm auch sagen, dass ich solche Angst um ihn hatte?
„Louise, weißt du noch, was ich dir an dem Abend gesagt habe, nachdem wir uns das erste Mal gesehen habe?“
„Die russischen Worte?“
Er nickte.
„Du wolltest mir nicht sagen, was es bedeutet.“
„Es bedeutet ‚Ich liebe dich‘.“
Ich schluchzte auf. „Ich liebe dich auch, Licas.“
Licas lächelte und strich mir mit der Hand über die Wange. „Wir leben in gefährlichen Zeiten. Wir wissen morgens nie, ob dieser Tag unser letzter sein wird. Doch jeder Tag mit dir ist ein Geschenk. Und ich möchte sicher gehen, dass du jeden Tag bei mir bist bis ans Ende unseres Lebens. Daher möchte ich dich hier und jetzt fragen… Willst du meine Frau werden? Es ist verrückt, ich weiß, aber…“
„Ja“, unterbrach ich ihn. Egal, wie verrückt es war, ich konnte mir nichts Schöneres vorstellen.
Noch in dieser Nacht tauschten wir unsere Schwüre. Es war keine rechtsgültige Ehe, wir hatten nicht einmal Ringe, die wir tauschen konnten, aber unsere Schwüre zählten vor uns. Und Licas glaubte, dass auch Gott sie anerkennen würde. Wir hatten zueinander gefunden, hatten Halt beieinander, ineinander gefunden.
Und dann kam der Angriff.
Ich dachte, ich hätte ihn verloren. Und doch steht er mir heute plötzlich gegenüber – auf der feindlichen Seite.