Bis zum Ende
„Du solltest da sein“, murmelte sein Bruder und sie ahnte, was er sagen wollte. Sie sollte da sein, wenn die Ärzte die Geräte abstellten. Sie sollte da sein, wenn er seinen letzten Atemzug tat.
„Ich kann das nicht“, erwiderte sie erstickt. Ihre Stimme versagte, der Kloß in ihrem Hals hinderte sie am Sprechen. In ihren Augen brannten Tränen, aber sie hatte alle Tränen bereits in den letzten Wochen vergossen. Seit sie von seinem Unfall erfahren hatte, seit er im Koma lag.
Sie konnte ihn sich nicht so leblos vorstellen. Er war immer fröhlich gewesen, voller Lebensfreude und Abenteuerlust. Und so wollte sie ihn in Erinnerung behalten, nicht so schwach und leblos, an ein Krankenbett gefesselt und an unzählige Maschinen angeschlossen, die sein Herz am Schlagen hielten, seine Organe am Arbeiten, obwohl sein Geist längst fort war. Hirntod. Er würde nie wieder aufwachen und so hatte sie zusammen mit seinem Bruder die schwere Entscheidung getroffen, ihn gehen zu lassen. Das war es, was er gewollt hätte.
Aber sie war nicht bereit, ihn gehen zu lassen. Ihn sterben zu sehen. Sie hatte es nicht geschafft, ihn zu besuchen. Sie liebte ihn mehr als alles andere auf dieser Welt und konnte doch nichts tun, diese Hilflosigkeit machte sie fertig.
Sie hatten sich geschworen, einander zu lieben bis ans Ende ihrer Tage. Bis zum Ende. Sie hatten geträumt, zusammen bis ins hohe Alter zu leben, gemeinsam ihren Enkelkindern beim Spielen im Garten zuzuschauen und dann friedlich einzuschlafen. All ihre Träume waren nun geplatzt und sie ertrug es nicht, ihn so zu sehen. Sie wusste einfach nicht, wie sie ohne ihn leben sollte.
„Er hätte gewollt, dass du bei ihm bist, wenn er stirbt“, betonte sein Bruder.
„Ich weiß“, flüsterte sie kraftlos.
„Bis zum Ende“, erinnerte er sie.
„Bis zum Ende.“