Erbittert hatte er sie alle bekämpft. Alle, die anders waren, alle, die von der Strahlung mutiert worden waren und nun den Menschen gefährlich zu werden drohten. Schon als Junge hatte er sie gehasst und war entschlossen gewesen, gegen sie zu kämpfen, um die Menschen zu beschützen. Immer wieder hatte er seiner besten Freundin versprochen, dass er alle vernichten würde, um seine Familie in Sicherheit zu wissen. Sie war schon immer ein Teil seiner Familie gewesen.
Und dann war sie von den Mutanten getötet worden. Sein Hass, sein Durst nach Rache, sein Zorn hatte keine Grenzen gekannt. Er hatte keine Gnade gekannt und jeden Mutanten ausgelöscht, dem er begegnet war. Als Mutantenjäger war er von den Mutanten gefürchtet worden, von den Menschen verehrt und geliebt.
Und dabei hatte er die Wahrheit völlig übersehen. Denn er war benutzt worden. Der Feind, gegen den er kämpfte, existierte nicht. Nicht so, wie die Regierung ihn darstellte. Es gab Besondere mit Fähigkeiten, die weit über die eines Menschen hinaus gingen – doch die meisten von ihnen waren friedlich. Viele hatten sich erst durch Tötungen der Mutantenjäger radikalisiert und waren in den Untergrund gegangen. Doch dies war eine Minderheit. Die meisten der lebenden Mutanten verbargen sich unter den Menschen – oder in der Stadt der Unerwünschten, einem geheimen Lager tief unter der Erde, ein Ort, an dem niemand sie aufspüren konnte.
Ein Ort, an den man ihn gebracht hatte, als ein Mutant ihn verletzt gefunden hatte. Er verstand nicht, wie sie so handeln konnte. Wie sie solche Güte ihm gegenüber beweisen konnten, nachdem er so viele der Ihren getötet hatte. So viele Tote – nur aus einem Irrglauben heraus.
„Sie werden dir deine Erinnerungen an diesen Ort nehmen“, erklang eine Stimme hinter ihm und überrascht drehte er sich um.
Dort stand sie. Seine beste Freundin. Die er schon geliebt hatte, als sie beide noch Kinder waren. Man hatte ihm gesagt, sie sei tot. Eine weitere Lüge, die er geglaubt hatte. Narben in ihrem Gesicht verrieten schwere Misshandlungen, eine Augenbinde verdeckte ihre Augen. Offenbar war sie geblendet worden. „Wer hat dir das angetan?“, flüsterte er.
„Deine Regierung“, erwiderte sie ruhig. Als ginge es sie nichts an, als wäre all das Leid, das sie erlitten hatte, unbedeutend.
„Wieso?“ Er wollte es einfach nicht begreifen, konnte es nicht.
„Sie fürchten uns. Sie führen Experimente an uns durch, um die Mutation rückgängig zu machen. Aber ich weiß, dass du diese Seite deiner Arbeit nie gesehen hast, nie sehen wolltest.“ Sie sagte es ohne jeden Vorwurf und doch fühlte er sich angegriffen. Vielleicht, weil sie Recht hatte. Er hatte sich auf seinen Zorn gestürzt und nicht hinterfragt, was es mit den Mutanten auf sich hatte. Er hatte generalisiert – ohne auch nur zu ahnen, dass die Frau, die er liebte, eine von ihnen war. Er hatte sie im Stich gelassen.
Als hätte sie seine Gedanken gelesen, sagte sie: „Ich habe mir oft gewünscht, dass du kommst und mich rettest, während sie an mir herumexperimentiert haben. Aber du bist nicht gekommen, es hat für dich keine Rolle gespielt, was deine Regierung mit mir gemacht hat.“
„Ich habe dich für tot gehalten“, verteidigte er sich, doch es war ein klägliches Argument.
Sie lächelte traurig. „Du hast die Welt immer in Schwarz und Weiß gesehen. Für dich hat es nie etwas Dazwischen gegeben.“
„Hast du mir deshalb nie die Wahrheit über dich gesagt?“
„Was hättest du getan, wenn du es gewusst hättest?“
Darauf kannte er keine Antwort. Er hätte gerne gesagt, dass er die Mutanten dann mit anderen Augen gesehen hätte, aber er fürchtete, dass es nicht stimmte. Er hätte nur sie mit anderen Augen gesehen.
„Warum bist du nicht zurückgekommen?“, wollte er wissen. Bedeutete er ihr nichts?
„Ich bin, wer ich bin. Hier muss ich mich nicht verstecken.“
„Dann wirst du nicht mit mir kommen?“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe meine Entscheidung schon vor einer Weile getroffen. Wir haben von Anfang an auf unterschiedlichen Seiten gespielt und es ist an der Zeit, es nicht länger zu leugnen. Ich bin, wer ich bin. Ich bin, was ich bin. Und ich kann es nicht ändern.“
„Also hast du einfach dein ganzes altes Leben aufgegeben? Also hast du einfach mich aufgegeben?“
„Glaubst du wirklich, dass das alles so leicht für mich war?“, konterte sie und zum ersten Mal hörte er deutliche Emotionen in ihrer Stimme. Trauer. Zorn. Schmerz.
„Du tötest Menschen!“, warf er ihr vor.
„Keiner von uns hat jemals jemanden getötet außer aus Notwehr. Wer tötet, der muss uns verlassen. Wir befreien diejenigen, die deine Regierung als Experimente gefangen hält. Es gibt andere, die die Wächter töten, wir tun nicht einmal dies. Die Unerwünschten suchten nur ein Zuhause, keinen Krieg. Hier sind wir sicher, hier müssen wir uns nicht verstecken. Und deshalb werden wir dir deine Erinnerungen an diesen Ort nehmen, du wirst alles hier vergessen, du wirst mich vergessen.“
„Nein!“, keuchte er entsetzt.
„Es ist meine Aufgabe, die Unerwünschten zu beschützen.“
Sie nannten sie Phoenix. Weil sie länger als alle anderen überlebt hat. Sie haben sie zu ihrer Anführerin gewählt, weil sie gutmütig ist und freundlich und sich um alle kümmert. Der Grund, warum er sie liebte. Und etwas, das er nie mit den Mutanten in Verbindung gebracht hätte.
Er hatte keine Ahnung von allem. Und er wird in sein altes Leben zurückkehren ohne zu wissen, dass er für eine Wahrheit kämpfte, die nicht existierte. Ohne zu wissen, dass sie noch dort draußen war.