„Ich weiß nicht, was ich machen soll.“ Das war seine Begrüßung. Er ließ sich auf den zweiten Stuhl in ihrem Büro fallen.
Sie schmunzelte ein wenig. Wie immer war er in seinen Gedanken schon einen Schritt weiter als sie, denn sie wusste nicht, was genau er meinte. „Worauf genau beziehst du dich?“, fragte sie nach, während sie rasch das Dokument auf ihrem Computer abspeicherte und sich dann ihrem Chef zuwandte. Zumindest war er der Form halber ihr Chef, aber eigentlich waren sie vielmehr Freunde mit der Zeit geworden. Sie verstanden sich einfach gut und konnten sich gut unterhalten. Und sie musste auf jeden Fall kein schlechtes Gewissen haben, dass sie nicht weiterarbeitete, wenn sie stattdessen mit ihrem Chef sprach. Das konnte man in gewisser Weise auch als Arbeit auslegen. Sie bezweifelte allerdings, dass es überhaupt jemanden kümmerte, sein Chef wiederum war auch ziemlich locker.
„Mein Leben“, seufzte er und sie schmunzelte wieder. Bisweilen war er schon ein wenig dramatisch, „Ich könnte echt einen Ratschlag gebrauchen.“
„Du musst schon etwas genauer werden, wenn ich dir helfen soll“, entgegnete sie.
„Ich muss eine Entscheidung treffen, die vermutlich alles ändern wird“, sagte er ernst und in Gedanken versunken und ihr Schmunzeln erstarb. Es war offenbar wirklich wichtig für ihn. Geduldig wartete sie, bis er ihr die Situation erklärte: „Ich bin jetzt schon so lange mit meiner Freundin zusammen und ich kann mich nicht über das Leben mit ihr beklagen, aber gleichzeitig ist da auch noch eine andere Frau, die mir einfach nicht aus dem Kopf geht.“
„Das ist nicht eine Entscheidung, das sind zwei.“
„Wie meinst du das?“ Mit gerunzelter Stirn schaute er sie an.
„Nun, zum einen musst du über das Leben mit deiner Freundin entscheiden. Ich weiß, ihr seid schon lange zusammen und sicherlich bedeutet sie dir auch nach wie vor etwas, aber du musst dich fragen, ob es noch genug ist. Du musst entscheiden, ob sie dich glücklich macht und wenn du diese Frage im Moment nicht eindeutig mit Ja beantworten kannst, dann musst du dich fragen, ob du daran glaubst, dass sie es doch noch wieder könnte und ob du dafür kämpfen möchtest. Sollte deine Antwort allerdings Nein lauten oder bist du dir viel zu unsicher, dann solltest du vielleicht tatsächlich Schluss machen. Ich weiß, nach so einer langen Zeit bleibt man auch aus einer gewissen Verpflichtung oder Gewohnheit mit einem Menschen zusammen, weil man das Gefühl hat, der Person etwas zu schulden für die vielen Jahre, die man eventuell in etwas investiert hat, was nun doch keine Zukunft hat. Aber es hilft dir nicht und auch ihr am Ende nicht, wenn das deine Gründe sind, um mit ihr zusammen zu bleiben. Also überlege genau, warum du noch mit ihr zusammen bist und dann rede mit ihr. Ich bezweifle, dass sie wirklich glücklich sein wird, falls du Schluss machen solltest, aber dadurch gibst du ihr die Chance auf einen Neuanfang – und dir auch -, als euch am Ende beide unglücklich zu machen, denn wie soll es für sie eine glückliche Beziehung sein, wenn der eine Teil unglücklich darin ist?“
Er nickte gedankenverloren und ich fuhr fort: „Und dann kannst du deine zweite Entscheidung treffen. Wenn du mit deiner Freundin zusammenbleiben möchtest, dann erübrigt es sich, was mit der zweiten Frau ist. Solltest du dich von deiner Freundin trennen, dann kannst du darüber nachdenken, ob du dieser Frau die Chance geben willst, einen besonderen Platz in deinem Leben einzunehmen und sie genauer kennenlernen willst und ihre Gedanken und Gefühle zu diesem Thema. Ich halte es nicht für fair, wenn du die beiden Frauen gegeneinander abwiegst. Die beiden Frauen sind eben völlig unterschiedliche Personen, deshalb sind sie nicht zu vergleichen. Und vielleicht ist es ja auch nur das Neue oder die Abwechslung, die reizt? Es wäre nicht sinnvoll, wenn du von einer Beziehung in die andere wechselst, ohne dir Gedanken darüber zu machen, was du willst im Leben und was dich glücklich macht. Verstehst du, was ich meine?“
Er nickte. „Ich glaube schon.“ Er schenkte mir ein Lächeln. „Es ist immer wieder schön, mit dir zu reden, du hast eine großartige Sicht auf die Welt und das Leben.“
Ich lachte. „Ich bin eine Idealistin, deren Ideale noch nicht mit der Realität konfrontiert wurden und dass es in der Realität meistens nicht so klar verläuft. Aber ich freue mich, dass ich dir helfen konnte und ich helfe dir immer wieder gerne, wenn ich kann.“
„Danke“, bedankte er sich. „Du bist etwas Besonderes“, sagte er noch, bevor er sich erhob. In seinen Augen lag etwas, das ich nicht einordnen konnte.