Als die Erde unter ihren Füßen zu beben begann, als sie dem Boden unter ihren eigenen Füßen nicht mehr vertrauen konnte, als sie durch die Schwankungen der Erde von den Füßen gerissen wurde, galt ihr einziger Gedanke ihm. Dass sie ihn finden musste. Das half ihr, sich von ihrer Angst um ihr eigenes Leben abzulenken, während sie unter dem Tisch kauerte, die Arme schützend über dem Kopf, die Augen geschlossen, als könnte sie das Geschehen rund herum ausblenden. Doch sie konnte alles hören. Das Splittern von Glas, das Zusammenstürzen von Mauern, die Schreie von Menschen.
Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis der Boden unter ihr nicht mehr bebte, bis sie wieder das Gefühl hatte, auf fester Erde zu stehen. Langsam, vorsichtig kroch sie unter dem Tisch hervor, unter dem sie Schutz gesucht hatte. Ihre Wohnung war das reinste Chaos. Überall lagen umgestürzte Schränke, zerbrochenes Geschirr. Doch sie schenkte dem kaum einen Blick. Es waren nur Dinge. Sie konnte nur daran denken, dass er heute Morgen zur Arbeit gegangen war. In einem Hochhaus. In einer der oberen Etagen. Unmöglich, dass er es nach unten schaffen konnte. Und wer konnte schon sagen, wie stabil solche Hochhäuser wirklich waren? Mit zitternden Händen griff sie zu ihrem Handy und wählte seine Nummer. Doch es ertönte kein Klingeln. Nur Stille auf dem anderen Ende der Leitung. Das Handynetz war zusammengebrochen. Zu viele Angehörige, die panisch ihre Lieben zu erreichen versuchten. Zu viele Schäden an Leitungen.
Sie dachte nicht weiter nach, griff sich rasch ihre Jacke und ihren Schlüssel und lief nach draußen. Sie fürchtete Nachbeben, es wäre das Sicherste die Stadt zu verlassen. Und sie wusste, dass er den gleichen Weg einschlagen würde. Im Vertrauen darauf, dass sie sich an einem sicheren Ort wiedertreffen würden. Dass sie beide vernünftige Menschen waren, die füreinander in diesem Moment nichts tun konnten außer zu hoffen.
Es gab so viele Tote an diesem Tag. So viele Vermisste. Jeder hatte irgendwen verloren oder wusste nicht, wo diese Person sich aufhielt. Es gab eine große Wand voller Zettel mit Bildern und Briefen, in denen sie von Lieben Abschied nahmen oder sie zu finden hofften. Viele Hoffnungen blieben unerfüllt, viele kehrten nicht zurück, sondern blieben unter den Trümmern der Stadt verschollen. Aber einige wenige konnten sich am Ende des Tages weinend in die Arme schließen.
Hoffnung war alles, was ihr blieb, während sie die Briefe studierte und ihren eigenen hinterließ…