Der Lautsprecher knackte, kündigte eine Übertragung an. Mit halbem Ohr horchte ich auf. Sicher nur wieder irgendeine total unwichtige Durchsage. Doch als ich die Stimme hörte, spannte ich mich unwillkürlich an und konnte gar nicht anders, als genauer hinzuhören. „Das hier ist für dich“, war das Einzige, was er sagte, dann erklangen die Klänge seiner Gitarre und er begann mit seiner unglaublichen Stimme zu singen, was mir eine Gänsehaut über den Körper jagte.
Ich hatte ihn noch nie spielen gehört. Er hatte sich immer geweigert, hatte gemeint, er sei noch nicht so weit. Ich hatte ihn stets gefragt, ob er denn jemals so weit sei. Eine Frage, die er stets unbeantwortet gelassen hatte. Manchmal glaubte ich, dass es an seinem Vater lag. Er hatte mir einmal erzählt, dass er davon träumte, Musik zu machen, aber sein Vater hatte einen anderen Weg für ihn vorgesehen. Einen Weg, der ihn in die Firma seines Vaters führen sollte. Wir hatten viel gesprochen. Aber das war, bevor alles kaputt gegangen war.
Nicht im Traum hätte ich zu Beginn unseres Kennenlernens gedacht, dass es so kommen würde. Ich war immer die ruhige Schülerin gewesen, ich war nicht wirklich schüchtern, auch wenn alle mich dafürhielten, ich war vielmehr fokussiert. Fokussiert auf meine Noten. Mein Vater arbeitete hart, um mir diese Schule zu ermöglichen und ich wollte ihn nicht enttäuschen und mit Bestnoten abschließen, um einmal einen besseren Job zu haben als er, der alle möglichen schlecht bezahlten Jobs ausüben musste, seit er die Schule geschmissen hatte. Er hatte es damals meiner Mutter zuliebe getan. Sie war sehr jung schwanger geworden und ihre Eltern hatten sie verstoßen, aber mein Dad hatte sie nicht im Stich gelassen und versucht, genug Geld zu verdienen, um ihr – um uns – ein gutes Leben zu ermöglichen. Ich wusste, dass es schwer für ihn war. Vor allem, seit meine Mum vor fünf Jahren gestorben war. Seitdem versuchte ich alles, um ihn stolz zu machen und ihm keine Probleme zu machen. Und um meinen Teil zum Familieneinkommen zu leisten, gab ich Nachhilfe. Ich war ein bisschen überrascht gewesen, als eine der beliebtesten Schülerinnen der Schule schließlich bei mir Nachhilfe nehmen wollte. Es war nicht so, dass wir verfeindet waren oder so, wie es in den Filmen oft der Fall war, wir hatten einfach nichts miteinander zu tun, was eben auch daran lag, dass ich lieber für mich blieb.
Erstaunlicherweise verstanden wir uns aber ziemlich gut und kamen auch außerhalb von Hausaufgaben und Lernstoff ins Gespräch. Und so lernte ich auch ihren Zwillingsbruder kennen. Ich hielt ihn zunächst für einen dieser typischen Sportler – gutaussehend, sodass die Mädchen ihm zu Füßen lagen, und dementsprechend arrogant und selbstverliebt. Diesen Eindruck bestätigte er mir, als er mit einem schlechten Spruch ankam, nachdem seine Schwester mich vorgestellt hatte. Er hatte aber offenbar nicht damit gerechnet, dass ich kontern würde, denn er wirkte überrascht, als ich ihn schlagfertig abwies. Von da an suchte er häufiger meine Nähe. Er sagte immer, er möge meinen Humor und meine schlagfertige Art. Mir dagegen war er glatt ein wenig lästig. Er war eine Ablenkung.
Als seine Schwester mich über das Wochenende in eine kleine Hütte ihrer Familie einlud, sagte ich nicht Nein. Ich habe keine Ahnung, wie er davon erfahren hatte – vermutlich hatte seine Schwester es ihm gesagt, weil sie keinen Hehl daraus machte, dass sie uns für ein süßes Pärchen hielt -, jedenfalls war er auch da. Es war ein schönes Wochenende, dem noch viele weitere folgten. Wir verstanden uns gut. Wir spielten Spiele zu dritt und machten Filmabende, manchmal auch nur seine Schwester und ich. Und wir sprachen viel miteinander. Er war entspannter, gelöster in dieser Umgebung, ich merkte erst jetzt, wie angespannt er in der Schule immer war. Stundenlang saßen wir im Garten, schauten in die Sterne und sprachen über unsere Träume. An einem dieser Abende erzählte er mir von seinem Sängertraum.
Und es war auch an einem dieser Abende, als sich alles änderte. Es war das Geräusch der sich öffnenden Tür, das ihn regelrecht panisch machte. Und ehe ich mich versah, hatte er mich in der Dunkelheit auf die Straße gesetzt. Seine Eltern waren überraschend auf einen Besuch in die Hütte vorbeigekommen und ganz offenkundig wollte er nicht, dass sie mich sahen. Ich war eben nur das arme Mädchen, während er als reicher Firmenerbe eine ganz andere Liga war. Wie hatte ich nur so blöd sein können, das zu vergessen? Wir passten einfach nicht zusammen!
Seitdem war ich ihm aus dem Weg gegangen. Er hatte versucht, mit mir zu sprechen und auch seine Schwester hatte ein paar Mal zu vermitteln versucht, die ich nach wie vor bei den Nachhilfestunden sah, auch wenn ich immer mehr auswich, wenn es darum ging, etwas darüber hinaus zusammen zu machen. Beider Versuche hatte ich abgeblockt. Ich hatte meinen Fokus verloren und jetzt war ich selbst schuld, dass ich mit gebrochenem Herzen geendet war. Ich gehörte nun mal nicht in seine Welt. Daran ließ sich nichts ändern. Es war besser, wenn ich mich nicht länger von ihm ablenken ließ. Mein Vater war ganz meiner Meinung. Ich konnte meine Noten nicht wegen eines Jungen aufs Spiel setzen!
Und nun sang er vor der ganzen Schule dieses Lied für mich. Es wäre gelogen, wenn ich sagen würde, dass es mich nicht berührte, dass er seine Ängste überwand, dass er sich vor der ganzen Schule dermaßen öffnete. Aber ich verschloss mein Herz gegen diese Gefühle. Glaubte er wirklich, dass ein Lied alles ändern konnte? Dass dann alles wieder gut war und die Welt perfekt? So einfach war es nun mal nicht!
Als ich an diesem Abend zuhause in meinem Zimmer war und an die Decke starrte, ging mir das Lied trotzdem nicht aus dem Kopf. Es war wirklich wunderschön gewesen. Und er hatte eine wundervolle Stimme… Nein! Ich musste aufhören, an ihn zu denken! Ich versuchte mich abzulenken, indem ich mich schon einmal mit den Biologiethemen der nächsten Woche auseinandersetzte. Es war immer gut, gut vorbereitet zu sein. Aber ich konnte mich einfach nicht konzentrieren, immer wieder glitten meine Gedanken ab. Verflucht sei dieser Kerl und dieses verdammte Lied!
Da klopfte es an meinem Fenster. Mein Dad und ich wohnten im Erdgeschoss eines großen Hochhauses in einer nicht so guten Gegend, es kam öfter vor, dass Betrunkene gegen die Fenster klopften, also achtete ich nicht weiter drauf. Ich hatte nachts immer die Vorhänge vorgezogen und das Fenster geschlossen aus eben diesen Gründen. Als erneut ein sachtes Klopfen ertönte, wurde ich dann aber doch neugierig. Die Betrunkenen hämmerten meist eher gegen das Fenster und klopften nicht so sanft. Ich linste durch die Vorhänge und starrte verblüfft in sein Gesicht. Woher wusste er, wo ich wohnte? Ich hatte ihn nie mit hergebracht, wir hatten uns immer nur in der Bibliothek der Schule getroffen, wo ich seiner Schwester Nachhilfe gegeben hatte, oder eben in der Hütte. Er bedeutete mir, das Fenster zu öffnen und verwundert kam ich dem nach. „Was machst du hier?“, flüsterte ich. Ich wollte meinen Vater nicht wecken, der im Nebenraum schlief.
„Mit dir reden. Du kannst mir nicht ewig davon laufen.“
„Ich laufe nicht davon.“
„Tust du nicht?“ Er zog eine Augenbraue empor.
Ich seufzte. „Na schön, vielleicht ein bisschen. Ich glaube aber, dass es besser für uns beide ist.“
„Warum?“
„Weil wir beide aus verschiedenen Welten kommen.“
„Bullshit!“, stieß er aufgebracht hervor.
„Shht! Mein Vater schläft!“, bedeutete ich ihm.
Er atmete tief durch. „Ich will das nicht mit dir durch das Fenster besprechen. Gehst du bitte zur Seite?“
„Warum?“
„Weil ich rein will.“
„Nein!“
„Ich werde nicht eher gehen, bis wir über alles geredet haben!“ Stur starrte er mir in die Augen.
Ich starrte wütend zurück. Was bildete er sich eigentlich ein? Als er Anstalten machte, sich auf das feuchte Gras zu setzen, als wolle er wirklich nicht gehen, gab ich allerdings nach. „Na schön.“ Ich trat zur Seite und schon war er durch das Fenster geklettert, das ich daraufhin wieder schloss, um die kalte Luft auszusperren. Unsicher drehte ich mich zu ihm herum. „Wie kommst du darauf, dass es nicht zwischen uns klappen kann, weil wir, um dich zu zitieren, aus zwei verschiedenen Welten kommen?“, fragte er.
„Du kommst halt aus einer superreichen Familie und wir müssen jeden Cent drei Mal umdrehen.“
„Und was hat das mit uns zu tun?“
„Alles!“, entgegnete ich unwirsch, „Du hast mich sogar vor deinem Vater versteckt, weil ich dir offenkundig so peinlich bin!“
„Moment mal! Das denkst du?“
„Du hast mich nachts auf die Straße gesetzt!“
Schuldbewusst verzog er das Gesicht. „Ich weiß, das war nicht gerade die feine Art. Und ja, ich wollte nicht, dass mein Vater dich sieht, aber nicht, weil ich mich für dich schäme, sondern um dich zu beschützen.“
„Zu beschützen? Wovor?“
„Ist das wirklich wichtig?“
„Ja, das ist es.“
Er zögerte. „Na schön.“ Er atmete tief durch, dann zog er die Jacke aus.
„Was machst du da?“, wollte ich eine Spur entsetzt wissen, als er sich auch das T-Shirt auszog, bis er mit nacktem Oberkörper vor mir stand.
„Ich werde es dir zeigen.“ Und mit diesen Worten drehte er mir den Rücken zu. Entsetzt schlug ich die Hände vor den Mund. Über den ganzen Rücken zogen sich lange Narben in unterschiedlichen Heilungsstadien.
„War das dein Vater?“, wollte ich kleinlaut wissen.
„Ja“, entgegnete er mit erstickter Stimme. Er räusperte sich, als ich nähertrat.
Zaghaft legte ich meine Finger auf die Erhebungen. Er zuckte zusammen und ich zog die Finger zurück. „Entschuldige, tut es weh?“
„Nein.“ Er zog sich das T-Shirt wieder über und drehte sich zu mir um. Wir standen uns so nahe, dass ich seinen Atem auf meinem Gesicht spüren konnte. „Du bist die Einzige, die es weiß. Neben meiner Schwester. Und du bist die Erste, der ich die Narben zeige. Nicht mal in der Umkleide der Jungs habe ich mich je so entblößt gezeigt.“
„Was ist mit den Mädchen?“
„Welchen Mädchen?“
„Du bist ein Frauenheld.“
Er lachte spöttisch. „Sobald man von Mädchen umschwärmt wird, ist man ein Frauenheld, gleichgültig, ob man was mit ihnen hat oder nicht. Von ihnen hat mich nie eines interessiert. Nur du.“
„Es tut mir leid“, sagte ich. Es tat mir leid, dass ich die ganze Situation missverstanden hatte und vor allem, dass ich ihm nicht die Chance gegeben hatte, es zu erklären. Wie hatte ich auch ahnen können, was wirklich dahintersteckte? Vor allem aber tat mir leid, was er durchmachte. Das hatte er nicht verdient. Niemand hatte das.
„Es ist okay“, sagte er, aber das war es nicht. Aber es wurde ein bisschen besser, als er mich endlich küsste.