Seit er denken konnte, war sie an seiner Seite gewesen. Seine beste Freundin. Seine Geliebte. Seine Frau. Die Mutter seiner Kinder. Die Frau, mit der er sein ganzes Leben verbracht hat, von den ersten Schritten bis hin zum letzten Atemzug.
Er erinnerte sich nicht an ihre erste Begegnung, sie war einfach schon immer da gewesen, sie hatten zusammen in der Krippe gelegen, im Kindergarten im Sandkasten gespielt und als er in der Schule gemobbt worden war, weil er als außergewöhnlich klug, aber auch als sonderbar und menschenscheu galt, hatte sie ihn verteidigt. Sie war der einzige Mensch, der bedingungslos zu ihm gehalten hatte und den er in seiner Nähe mochte.
Und als ihr Bruder starb, den sie sehr geliebt hatte, war er für sie da gewesen. Denn auch wenn er kein Kämpfer war wie sie, so hatte er doch einen Weg gefunden, für sie zu kämpfen, indem er da war, als sie ihn brauchte.
Er erinnerte sich an so viele kleine Dinge, die er mit ihr geteilt hatte, Momente, die er für immer in seinem Herzen bewahrt hatte. Er erinnerte sich, wie sehr er sich während seines Studiums gefürchtet hatte, sie aus den Augen zu verlieren, eine Angst, die sie mit ihm geteilt hatte, wie sie ihm später einmal gestand. Er erinnerte sich, wie sie sich bei seiner allerersten Vorlesung, die er halten sollte, in die letzte Reihe gesetzt hatte und ihm damit Mut gemacht hatte, einfach, indem sie da war.
Er erinnerte sich an die vielen Konflikte mit seinem Bruder, der so ganz anders war als er: offen und charmant. Die Frauen hatten ihm zu Füßen gelegen und manchmal hatte er seinen Bruder darum beneidet, mit welcher Leichtigkeit er durch das Leben ging, während er es nicht einmal schaffte, dem wichtigsten Menschen in seinem Leben zu sagen, wie sehr er sie liebte. Er erinnerte sich noch genau an den Moment, in dem er gelernt hatte, seinen Bruder mit anderen Augen zu sehen. Es war, als dieser zugegeben hatte, ihn zu beneiden. So wie er seinen Bruder immer beneidet hatte, so hatte dieser ihn beneidet, weil er diesen einen Menschen im Leben immer an seiner Seite hatte, dieser Jemand, der bedingungslos für ihn da war, während er selbst noch suchen müsste.
Er erinnerte sich, wie er ihr endlich die Wahrheit gesagt hatte. Wie sie zusammengezogen waren. Wie sie schließlich geheiratet hatten. Immer war sie geduldig mit ihm gewesen, wenn er sich zurückzog und selbst sie nur schwer an sich heranließ. Sie hatte ihn nie bedrängt, ihm immer die Zeit gegeben, die er brauchte.
Er erinnerte sich daran, wie sehr sie sich Kinder gewünscht hatte, wie traurig sie gewesen war, als sie während ihrer ersten Schwangerschaft das Kind verlor. Es war ihm schwergefallen, mit ihrer Trauer umzugehen. Auch er trauerte, aber auf eine andere Weise, weniger offensichtlich und sie war so am Boden zerstört gewesen, dass sie ihm Vorwürfe wegen seiner Art gemacht hatte. Er hatte sich bemüht, nicht zu verletzt über ihre Worte zu sein und irgendwie hatten sie es wieder hingekriegt, hatten ihre Ehe retten können. Sie beide waren so voller Angst gewesen, den anderen zu verlieren, dass sie sich daran erinnert hatten, dass sie zusammengehörten.
Er erinnerte sich, wie sie schließlich doch Kinder bekommen hatten. Einen Jungen und ein Mädchen. Wie die Beiden herangewachsen waren, zwei wundervolle Kinder, der ganze Stolz seines Lebens. Wie sie selbst heirateten und ihnen Enkelkinder schenkten.
Er erinnerte sich, wie sie beide älter wurden. An viele Momente voller Liebe, auch wenn es immer mal wieder Streit gab. Es war das perfekte Leben, denn egal welche Hindernisse sich zwischen sie stellten, sie überwanden alle Hürden.
All diese Erinnerungen gingen ihm durch den Kopf, während er an die Decke in seinem kalten, weißen Krankenzimmer starrte, einsam wartend auf den Tod.
Er wusste nicht mehr, welche Erinnerung die Wahrheit war und welche eine Lüge, für ihn waren sie alle gleichermaßen real.
Sie war immer für ihn da gewesen. Sie war sein Leben und als er sie verlor, war es für ihn einfach unvorstellbar. Aber sie blieb an seiner Seite. Ein Geist der Vergangenheit. Eine Vorstellung. Sie beiden hatten ihre Ewigkeit miteinander geteilt – auch wenn ihre bedeutend kürzer gewesen war als seine.
Sie hatte ihm vor ihrem Tod gesagt, dass sie ein glückliches Leben gehabt hatte und es nicht fair sein mochte, dass er ihren gemeinsamen Traum jetzt alleine leben müsste, aber er musste ihr versprechen, es zu tun. Aber wie sollte er dieses Leben leben, wenn sich doch alle Pläne seines Lebens in dem Moment geändert hatten, in dem er den Menschen verlor, der in all seine Pläne eingeschlossen gewesen war? Wie sollte er sein Leben leben, wenn er sich sein Leben doch nur in Abhängigkeit von ihrem vorstellen konnte?
Sie war der Mittelpunkt seiner Welt, der Ausgangspunkt seines Seelenheils und ohne sie stand er vor den Scherben seines Lebens.
Und er begann sich vorzustellen, wie sein Leben verlaufen wäre, wenn sie es mit ihm gemeinsam gelebt hätte.