Sommernachtsträume
Ich kann die Nächte gar nicht mehr zählen, die ich schon im Wald verbracht habe. Wann immer mir die Welt zu viel wird, die Menschen, die Hektik und die Erwartungen, dann führen mich meine Schritte wie von selbst fort von allem in den Wald und ich verschwinde in den dunklen Tiefen, die mir wieder die Bedeutung von Ruhe und Frieden offenbaren, während alle Probleme und Sorgen weit hinter mir zurückbleiben. Mit jedem Schritt fallen weitere Teile zur Erde und bleiben vergessen, bis die Nacht vorüber ist und ich am Morgen den Wald wieder verlasse. In den Nächten ist dieser Ort einfach nur magisch.
Im Wald fühle ich mich als Teil von etwas Großem, eingebunden in das pulsierende Leben um mich herum, das voller Wunder und Geheimnisse steckt, die ich mit all meinen Sinnen zu erfassen versuche. Ein sanfter Wind streicht durch die Äste und lässt die Blätter rascheln, ich lausche dem Wispern der Bäume, die auf stille Art miteinander sprechen und sich Geschichten erzählen, wie eine unendliche Melodie, die durch den Wald wabert. Mit den Fingerspitzen spüre ich den rauen Mustern der Baumrinden nach und lasse die Blätter der Äste zart über meine Finger streicheln und durch mein Haar, einer tröstlichen Berührung gleich. Als würde der Wald mich willkommen heißen und in seine Arme schließen. Glühwürmchen tanzen um mich herum, als würden sie sich freuen, dass ich wieder in den Wald gekommen bin, zurück zu meiner wahren Heimat. Wie Sterne glühen die Glühwürmchen in der Nacht, sind aber doch viel näher, nicht so unerreichbar wie der Mond und die Sterne. Vorsichtig strecke ich die Hand aus und ein Glühwürmchen lässt sich darauf nieder. Kitzelnd läuft es über meine Hand, bevor es sich erneut in die Lüfte erhebt. Mit einem Lächeln schaue ich dem Schwarm hinterher, wie er langsam zwischen den Bäumen verschwindet.
Mit leisen Schritten wandere ich weiter, tiefer hinein in den Wald, das Knistern des Laubs unter meinen nackten Füßen mischt sich mit dem Wispern der Bäume und dem Wind. Die Dunkelheit stört mich nicht, ich finde meinen Weg auch ohne Licht, kenne den Pfad zwischen den Bäumen hindurch, spüre das Laub und die Wurzeln unter meinen Füßen, die mich sanft über den richtigen Pfad geleiten, bis ich den Rand der Lichtung erreiche, die sich tief im Wald verborgen hält. Die Köpfe der Blumen wiegen sich im sachten Wind, ihr zarter Duft umhüllt mich. Ich trete hinaus auf die Lichtung, trete hinaus ins Licht des vollen Mondes, der die Blüten zum Schimmern bringt, als würden sie aus sich heraus leuchten. Vorsichtig lege ich mich zwischen den Blüten ins hohe Gras, das sich um mich herum legt, mich in eine Welt einschließt, die nur der Nacht und dem Wald gehört und mich vor den Blicken der Welt verbirgt.
Ich schaue an den Halmen vorbei zum Mond und den Sternen hinauf und warte.
Ich brauche nicht lange zu warten, du hast mich bereits erwartet. Das Kribbeln meiner Hand zaubert mir ein strahlendes Lächeln auf die Lippen und ich hebe sie vor meine Augen, um das wunderschöne Muster zu bestaunen, das mir von Mal zu Mal schöner erscheint. Es ist viele Jahre her, als es zum ersten Mal auf meiner Hand erschien, in einer Sommernacht ganz ähnlich der heutigen, ebenfalls auf dieser Lichtung. Zuerst wusste ich nicht, was es bedeutete, was es damit auf sich hatte. Als sich die Spirale das erste Mal auf meiner Haut abzeichnete, hatte ich Angst. Sie leuchtete so silbrig wie der Mond, als würde Magie in diesem Symbol stecken. Ich hatte immer daran geglaubt, dass es mehr gab, als wir mit unseren Sinnen erfassen können, doch als ich es in dieser Nacht hautnah erlebte, war das etwas anderes. Ich spürte die Magie in diesem Wald und wie sie durch mich hindurch pulsierte, es war erschreckend und wunderschön zugleich.
Und dann tratst du auf die Lichtung und jede Angst war vergessen. Auf deinem dunklen Haar schimmerte das Mondlicht und in deinen silbernen Augen funkelten die Sterne. Wortlos hieltest du mir eine Hand entgegen und ich erkannte darauf dasselbe Symbol, dass auch meine Hand gezeichnet hatte. Es war Neugierde und das Gefühl tiefer Verbundenheit, dass mich ohne Zögern deine Hand ergreifen ließ und ich folgte dir in wundersame Welten voller Abenteuer, Geschichten wie sie nur die Träume einer Sommernacht schreiben können. Und jede Sommernacht, die folgte, habe ich mit dir verbracht, denn heute weiß ich, dass dieses Zeichen bedeutet, dass wir beide eins sind – mit dem Wald, mit dem Leben um uns herum und miteinander.
Ich richte mich auf, um dir mit einem Lächeln entgegen zu sehen. Du erwiderst mein Lächeln und mein Herz klopft schneller. Du bist so wunderschön, so vollkommen, so geheimnisvoll. So viele Nächte, die wir zusammen verbracht haben und doch weiß ich nichts über dich, kenne nicht einmal deinen Namen. Du sagst, er sei bedeutungslos, nicht mehr als einige willkürliche Buchstaben, die aneinandergereiht einen Sinn ergeben sollen.
Das Gras wispert, als du durch die langen Halme auf mich zuschreitest, es wispert bei jeder Berührung, als würde es dich willkommen heißen, es streichelt über deine Haut und liebkost sie. Du bist der Herr des Waldes, die Bäume flüstern deinen Namen und neigen ihre Äste vor dir. Du beschützt diesen Ort, verbirgst ihn vor den Blicken der Menschen. Nur mir gewährst du Zutritt zu dieser Lichtung, auf der sich die Träume verfangen.
Noch immer lächelst du, als du mir deine Hand entgegen streckst wie in dieser ersten Nacht und in allen Sommernächten danach. Ich ergreife sie ohne zu zögern und lasse mich von dir auf die Füße ziehen. Schweigend sehen wir einander an. Wir reden nie viel. Worte zwischen uns sind bedeutungslos, wir sind eins in unseren Gedanken und Gefühlen wie zwei Hälften eines Ganzen. Wir sind eine Seele.
Es beginnt zu regnen. Ich habe gar nicht gemerkt, wie dunkle Wolken heraufgezogen sind und sich vor den Mond geschoben haben, sein Licht ausgelöscht haben. Du bist wie ein Licht in der Dunkelheit, neben dir verblasst das Mondlicht, sodass es mir nie fehlt, wenn ich bei dir bin. Früher war der Mond mein Wächter, jede Nacht hat er über mich und meine Träume gewacht. Heute bist du mein Wächter, der Wächter über meine Träume und die aller lebenden Wesen.
Die Regentropfen fallen auf die Erde, sie landen mit einem Platschen auf den Blättern der Bäume, hinterlassen schimmernde Tropfen auf den Blüten der Blumen und sammeln sich in kleinen Pfützen, in denen sich der Wald spiegelt. Ein Spiegelbild, das immer wieder von Wellenlinien durchbrochen wird, wenn weitere Tropfen auf der Oberfläche landen und das perfekte Abbild zersplittern lassen. Die Regentropfen stecken voller Träume. Sie sind die Träume des Himmels, die Geschichten der Wolken, die sie von weither bringen.
Der warme, frische Duft von Sommerregen erfüllt die Luft, während die Tropfen auch auf uns niederprasseln. Das sachte Rauschen des Regens hüllt uns ein und ich beobachte, wie die Tropfen auf die Blätter fallen, um in schimmernden Kaskaden und tausenden Splittern zu zerspringen. Ich lache und drehe mich im Kreis, bis mir vor lauter Glück schwindlig ist. Ich fühle mich beschwingt und frei, während ich im Regen tanze, die Nässe unter meinen Füßen und die Regentropfen auf meiner Haut spüre, der Geruch der feuchten Erde steigt mir in die Nase. Ich tauche völlig in diesen perfekten Augenblick ein. Es zählt nur das Jetzt, dieser einzigartige Moment.
Als ich das Gefühl habe zu fallen, bist du da, um mich aufzufangen. Sanft umschließt du mit deinen Armen meine Taille und bewahrst mich vor einem Fall, behutsam hilfst du mir auf, bis ich wieder geradestehe, doch du lässt mich nicht los. Ich begegne deinem Blick, der mich mit einer ungekannten Intensität gefangen hält. Deine Augen leuchten heller als die Sterne und ich kann meinen Blick nicht abwenden, will es auch gar nicht. So lange schon träume ich von dir.
Ich halte unwillkürlich den Atem an, als du mit deinem Gesicht näherkommst, bis ich deinen Atem auf meinen Lippen spüren kann. Mir entweicht die angehaltene Luft, unser beider Atem vermischt sich einen Moment lang, bevor unsere Lippen sich zu einem sanften, zart schmelzenden Kuss treffen. Ich verliere mich in dem zärtlichen Kuss, in der Berührung deiner Lippen auf meinen. Die Zeit, der Regen, der Wald, alles verliert an Bedeutung, nur noch wir beide existieren in diesem kleinen Augenblick der Ewigkeit.
„Bleib bei mir“, flüsterst du in mein Ohr, als du deine Lippen von meinen löst, mir jedoch so nahe bleibst, dass du deine Wange an meine schmiegen kannst. Deine Worte hallen durch mich hindurch, bevor sie mit dem Regen zu Boden sinken und sich mit seinem Rauschen vermischen. „Für immer“, wisperst du.
Ich will dir sagen, dass ich bleiben will, dass ich nichts lieber möchte als das und doch verspüre ich plötzlich Angst. Angst davor, mein vertrautes Leben zu verlassen, dass trotz aller Schwierigkeiten und Probleme immer noch mein Leben ist. Ich denke an die Menschen, die mich lieben und die ich vermissen würde. Denn ich weiß, wenn ich mit dir gehe und bei dir bleibe, dann steht mir die Ewigkeit offen. Doch es bedeutet, alles zu verlieren, was ich kenne. Die Nächte mit dir sind zauberhaft und wunderschön, aber sie sind nur Träume. Was wird aus mir werden, wenn ich bei dir bleibe?
Du lächelst, du weißt, was mich bekümmert, meine Gedanken sind deine Gedanken. „Komm mit, ich möchte dir etwas zeigen“, sagst du und trittst einen Schritt zurück, um mir die Hand zu reichen. Du lässt mir die Wahl. Die Wahl, zu gehen, den Wald und dich hinter mir zu lassen und alles zu vergessen. Oder ich lasse mir von dir ein neues Wunder zeigen.
Ich ergreife deine Hand und spüre, wie eine Böe über die Lichtung streift, bevor der Wind uns erfasst und uns empor hebt zu den Sternen. Er trägt uns über die Baumwipfel hinaus in die Ferne, deine Hand umschließt meine und ich fühle mich sicher, während wir über der Welt schweben, auf den Schwingen des Windes hinweg gleiten. Ich frage mich, ob dies der Blick ist, den die Sterne haben. Von oben liegt die Welt so still und vollkommen da, die Finsternis wird einzig von den Lichtpunkten der Glühwürmchen durchbrochen.
Der Wind trägt uns an einen See, wo er uns langsam wieder zu Boden gleiten lässt. Der See ist pechschwarz in der Dunkelheit, vollkommen ruhig liegt er da. Es regnet nicht mehr und die Sterne sind wieder an den Himmel zurückgekehrt. Ihr Licht spiegelt sich in dem schwarzen Wasser.
Plötzlich saust ein Lichtschweif über den Horizont, dicht gefolgt von einem weiteren. Immer mehr Lichter fallen zu Boden. Mit offenem Mund bestaune ich den Sternschnuppenregen, schaue den fallenden Sternen zu, wie sie zu Boden fallen, Wünsche und Träume in ihrem Lichtglanz verbergend.
Eine Sternschnuppe landet mitten im See, dessen Wasser von einem hellen silbernen Schein hell erleuchtet wird. Funken tanzen unter der Wasseroberfläche und ich beginne zu verstehen, was es mit diesem See auf sich hat. Es ist der Ort, an dem sich alle Träume und Wünsche sammeln, der Ort, aus dem sich die Magie des Waldes speist. Und du bist der Wächter dieses Sees, für alle Ewigkeit an ihn gebunden, gefesselt an die Träume, die hier eine Heimat finden, wenn sie mit den Sternen hinab zur Erde fallen. Du bist der Herr der Träume. Ist der Wald überhaupt mehr als selbst bloß ein Traum? Spielt es überhaupt eine Rolle?
Als ich mich dir zuwende, kann ich die Traurigkeit in deinem Blick lesen, die Einsamkeit. So viele Ewigkeiten bist du nun schon alleine an diesem Ort, bis das Schicksal uns beide zusammengeführt hat. Wir sind beide gekennzeichnet mit dem Symbol des Lichts, der Sterne und der Träume, mit dem Symbol des ewigen Kreislaufes zwischen Anfang und Ende. An diesem Ort verschmelzen sie miteinander, die Zeit wird bedeutungslos.
Du wendest den Blick von mir ab. Mit festen Schritten schreitest du auf das Ufer des Sees zu, bis das Wasser beinahe an deine Zehenspitzen reicht. Du zögerst, bevor dein Blick zum Horizont gleitet. Ein leichtes Dämmerlicht kündigt den beginnenden Tag an, die Sonne wird bald zurückkehren und der Wald nur noch ein Wald sein. Denn die Magie entfaltet sich nur in der Nacht, wenn die Träume über das Land ziehen.
Sobald die Sonne ihre Strahlen über den Horizont schickt, wird unsere Zeit enden. So ist es seit unserem Anfang immer gewesen. Unsere Zeit ist die Nacht. Die Sehnsucht greift nach mir mit scharfen Klauen, sticht wie Dornen durch meine Haut und in mein Herz. Es ist die Sehnsucht nach dir, die mich Tag für Tag quält und den Wunsch weckt, für immer bei dir zu sein. Wieso zögere ich noch?
Auch dieser Sommer neigt sich dem Ende zu und ich weiß, dass du wieder verschwinden wirst, sobald im Herbst die Blätter der Bäume fallen und die Träume von der eisigen Kälte des Winters gefangen werden. Der Frost der Winternächte lässt die Träume vergessen zu fliegen, sie ziehen durch die blattlosen Äste des Waldes hindurch in die Ferne und niemand ist da, der sie fängt. Eine lange Zeit voller Dunkelheit, voller Schmerz und Sehnsucht, bis ich wieder bei dir sein kann. Oft habe ich mich gefragt, ob ich mit diesen Gefühlen alleine bin, habe aus Angst den Schmerz vor dir verborgen. Doch in deinen Augen lese ich dieselbe überwältigende Sehnsucht, die auch ich empfinde. Ich habe vergessen, dass wir eins sind.
Du wendest dich ab und machst den nächsten Schritt. Und dann noch einen. Das Wasser umspielt deine Füße, deine Beine, deinen Bauch, während du immer tiefer in den See watest, aus dem das Leuchten des Sterns längst wieder gewichen ist. Nur um dich herum wabert ein Lichtschein, als würden die Träume dich begrüßen.
Du drehst dich um. Fragend blickst du mir in die Augen. Erneut streckst du deine Hand nach mir aus, das Symbol auf deiner Handfläche pulsiert, es ruft nach mir. Ich spüre das Pulsieren meiner eigenen Hand, das mich drängt, meine Haut auf deine zu legen. Symbol auf Symbol. Bis wir wahrhaft eins sind.
Die Angst verschwindet, versickert zwischen den Sandkörnern am Ufer des Sees. Ich halte sie nicht fest, lasse sie ziehen und mit ihr jeden Gedanken an mein altes Leben. Denn diese Nacht ist der Beginn meines neuen Lebens.
Ich schreite auf den See zu, überwinde die Grenze zwischen Land und Wasser und tauche mit den Füßen, den Beinen, dem Bauch in die schwarzen Fluten, bis ich dich erreicht habe. Ich ergreife deine Hand. Ein leuchtendes Band schlingt sich um unsere Hände, verschmilzt uns miteinander. Das Licht wandert von unseren Händen unsere Arme hinauf, breitet sich in unseren Körpern aus, bis ich dich mit jeder Zelle spüren kann. Bis wir wahrhaft eins sind.
Unsere Lippen treffen sich zu einem Kuss und ich spüre es kaum, wie wir uns auflösen und in dem See versinken. Die Träume empfangen uns und umfangen uns in einer schützenden Umarmung, als die Sonne aufgeht und die Magie der Nacht vertreibt.
Geduldig warten wir auf die Rückkehr der Nacht, wenn wir uns den Sternen gleich wieder erheben, um die Träume der Sommernächte zu fangen, deren Zauber den Wald zum Leben erweckt, einen Zauber, den die Menschen, die verlernt haben zu träumen, nie sehen werden.
Mit dir bin ich in der Ewigkeit gefangen, ich spüre deine Liebe wie meine eigene, deine Sehnsucht, deine Traurigkeit. Denn wir sind eins.
Wir sind zersplitterte Seelen, vergessen zwischen den Welten, verloren in den Träumen, die durch die Sommernacht schweben, die wie Sterne am Himmel funkeln und mit den Glühwürmchen tanzen. Träume, die zwischen den Bäumen darauf warten, entdeckt zu werden. Aber zusammen sind wir ganz, die Splitter fügen sich zusammen, wenn wir durch die Träume wandern.
Wir kehren immer wieder in diesen Wald zurück.
Denn auch wir sind nur der Traum einer Sommernacht.