Er hatte sie schon öfter gesehen. Öfter, als er sich bewusst gewesen war. Sie war das schüchterne, ruhige Mädchen gewesen, das nie den Mund aufmachte, sich immer im Hintergrund hielt und in keinster Weise auffiel. Er hatte nie ein Wort mit ihr gewechselt, das über eine kurze Begrüßung, wenn man sich auf dem Flur begegnete, hinausging. Bis zu jenem schicksalshaften Tag.
Als Sohn eines der reichsten Unternehmer des Landes war er oft ein Ziel gewesen – für falsche Freundschaften, aber auch für Verbrecher. Und doch hatte er Personenschutz abgelehnt. Er wollte ein normales Leben. An diesem Tag hatte sich diese Entscheidung gerächt, denn mitten auf der Straße hatten sich zwei Männer auf ihn gestürzt und versucht, ihn in einen Van zu zerren. Er hatte sich gewehrt, aber keine Chance gehabt. Die Männer waren stärker als er und sie hatten Waffen und weitere Komplizen warteten nur im Inneren des Fahrzeugs.
Und dann war sie aufgetaucht. Viel mutiger als alle, die er kannte, hatte sie sich eingemischt. Obwohl auch sie keinerlei Chancen gehabt hatte. Als einzige unliebsame Zeugin hatten seine Entführer auch sie mitgenommen. Man hatte sie zusammen eingesperrt und es war ihre Anwesenheit gewesen, die ihn davon abgehalten hatte, durchzudrehen. Mit ihrer ruhigen Art, ihrer Klugheit und ihrem Mut. Sie ließ sich niemals unterkriegen. Er sah hinter die Fassade und erkannte eine einzigartige Frau.
Die Kriminellen erpressten Lösegeld für ihn und seine Familie zahlte. Man ließ ihn gehen. Doch für sie bürgte niemand. Sie blieb zurück in den Händen der Verbrecher. Nur seinetwegen war sie in diese Schwierigkeiten geraten, weil sie ihm helfen wollte. Er wollte sich revanchieren, doch er konnte nichts machen. Es gab keine Möglichkeit, sie zu finden und zu befreien. Und nun war es zu spät.
An diesem Morgen hatte man ihre Leiche gefunden. Für die Gesellschaft war sie unsichtbar gewesen, für die Verbrecher hatte sie keinen Wert besessen, niemand hatte sich darum geschert, was aus ihr wurde. Nur er würde sie nie vergessen.